Und es ward Schatten

 

 

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Kapitel 14


Erzählt von Severus Snape:

Leise Geräusche rissen mich aus der Tiefe des Schlafes. Verzweifelt versuchte ich, die Dunkelheit festzuhalten. Wollte wieder in ihr versinken, doch wie Wasser rann sie mir durch die Finger. Unaufhaltsam stahl sie sich davon und ich erwachte endgültig. Langsam öffnete ich die Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich an die Helligkeit des Raumes gewöhnt hatten, dann erkannte ich die Krankenstation Hogwarts'. In einer der Ecken des Zimmers stand Madam Pomfrey und hantierte mit einigen Flaschen und Tuben, während sich in mir die grausame Gewißheit ausbreitete, daß ich mich nicht geirrt hatte. Daß es Wirklichkeit war. Daß ich lebte. Eine Woge glühender Verzweiflung stieg in mir auf. Ich lebte. Jemand hatte mich gefunden, nachdem ich mir in meinem Büro die Pulsadern aufgeritzt hatte. Sie hatten mich hierher gebracht und zwangen mich, weiter zu leben. Mit einer plötzlichen Bewegung setzte ich mich auf und wollte die Krankenstation verlassen, um mich auf den Weg in die Kerker zu machen, da fiel mein Blick auf einen Stuhl, der neben meinem Bett stand. Auf diesem Stuhl saß Professor Dumbledore. In seiner purpurnen Robe saß er dort, die Hände in seinem Schoß gefaltet und beobachtete mich schweigend.

"Guten Morgen, Severus. Wie fühlst du dich?", fragte er besorgt, als er sah, daß ich erwacht war und lächelte mich vorsichtig an. Die Wut, die ich bereits am vorangegangenen Tag gespürt hatte, bemächtigte sich erneut meiner Sinne. Mit welchem Recht ignorierten sie meine Entscheidung? Ich öffnete meinen Mund, um Dumbledore darauf anzusprechen, doch im letzten Augenblick beherrschte ich mich und schwieg.

"Severus?", fragte Dumbledore leise, als ich nicht antwortete. Ich wandte ihm langsam mein Gesicht zu und sah ihn stumm an. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, die mich in diesem Augenblick mit einer Mischung aus Trauer und Besorgnis ansahen. Erneut begann er zu sprechen: "Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt.
Möchtest du vielleicht darüber reden?", erkundigte er sich vorsichtig, als ich weiterhin nichts sagte. "Wenn nicht mit mir, vielleicht mit jemand anderem? Ich könnte zum Beispiel Dr. Westwood bitten, einmal vorbei zu kommen."
Erneut stieg Wut in mir auf. Was sollte ich mit einer Psychologin? Konnte sie vielleicht Soleya und Judy von den Toten auferwecken? Ich brauchte keinen Arzt, der mir einreden wollte, daß ich nicht schuld wäre am Tod meiner Familie. Daß ich darüber hinweg kommen würde. Daß ich auch ohne meine Frau und meine Tochter weiterleben und glücklich sein könnte. Denn das konnte ich nicht. Ich benötigte einige Sekunden, um meine Emotionen zurück zu drängen, dann erwiderte ich kühl: "Nein. Danke, Albus, aber das wird nicht nötig sein."
Dumbledore sah mich zweifelnd an, dann lächelte er leicht. "Okay. Aber wenn du dich doch noch anders entscheiden solltest, sag mir bitte Bescheid. Egal, mit wem du reden willst, jeder wird dir gerne helfen. Und auch ich bin immer für dich da. Ich hoffe, das weißt du?" Ich antwortete nicht, und in diesem Moment kam Madam Pomfrey zu meinem Bett hinüber und hinderte Dumbledore daran, weitere Fragen zustellen.

"Guten Morgen, Professor Snape. Wie geht es Ihnen heute?", fragte sie.

"Es geht mir gut", erwiderte ich knapp. Die Heilerin warf mir einen prüfenden Blick zu, dann reichte sie mir einen Kelch mit einer violetten Flüssigkeit. "Trinken Sie das, Professor."
Ich betrachtete das Gebräu skeptisch. Es war ein Trank, der eine kräftigende Wirkung hatte. Einen Augenblick lang zögerte ich, dann trank ich die Medizin in einem Zug aus. Es hatte keinen Sinn, mich zu weigern und würde nur ungewollte Diskussionen nach sich ziehen. Madam Pomfrey nahm mir den Kelch ab und nickte zufrieden. Anschließend zog sie sich wieder zurück und ließ mich und den Direktor allein. Für einige Minuten saßen wir schweigend da, dann erhob sich Dumbledore leise.

"Ich muß jetzt gehen."

Er trat einige Schritte zurück, blieb jedoch am Ende meines Bettes noch einmal stehen. Ernst blickte er auf mich nieder und fing ruhig an zu sprechen: "Du sollst wissen, daß ich verstehe, warum du es getan hast. Der plötzliche Tod deiner Frau... und deiner Tochter..." Es fiel ihm ganz offenbar schwer, weiter zu sprechen. Er räusperte sich und fuhr dann fort: "Aber es ist nicht deine Schuld, daß sie getötet wurden! Und... sie hätten das nicht gewollt, Severus. Sie hätten nicht gewollt, daß du dich ihretwegen umbringst." Die Verzweiflung in mir war während der Rede Dumbledores immer weiter angeschwollen und bevor ich sie zurück halten konnte entfuhr mir ein bitteres Schnauben. Dann hatte ich mich wieder unter Kontrolle und starrte Dumbledore mit unbewegtem Gesicht an, der noch immer auf mich nieder blickte. Dann seufzte er leise und wandte sich zum Gehen.

"Ich komme nachher noch einmal vorbei, Severus."

Bevor er die Tür erreicht hatte, rief ich ihn zurück: "Albus?" Er drehte sich zu mir um und kam wieder näher. "Wann kann ich wieder in meine Räume? Ich kann mich auch dort ausruhen", erkundigte ich mich. Dumbledore blickte fragend zu Madam Pomfrey, die einen Moment zu überlegen schien, bevor sie antwortete: "Sie sollten mindestens noch den Rest des heutigen Tages auf der Krankenstation bleiben, Professor. Besser wäre es allerdings, wenn Sie auch noch diese Nacht hier verbringen würden."

"Ich bleibe bis heute abend, wenn es sein muß. Dann gehe ich in die Kerker, ob Sie damit einverstanden sind, oder nicht", sagte ich kalt. Madam Pomfrey und Professor Dumbledore sahen sich einen Moment lang an, dann wandte er sich wieder an mich: "Ist in Ordnung, Severus. Ich werde dich heute abend abholen. Bis ich komme, bleibst du hier und erholst dich." Er blickte mich bestimmend an und ich nickte langsam. Es war hoffnungslos, mit dem Direktor über so etwas zu streiten, wenn er sich einmal entschieden hatte. Dumbledore lächelte erleichtert, dann sah er mich noch einige Sekunden regungslos an, als ob er abwarten würde, ob ich noch etwas sagen wollte. Da ich jedoch schwieg, drehte er sich um und wandte sich noch einmal an die Heilerin. Er gab ihr in gedämpften Ton einige Anweisungen, die ich nicht verstand, dann ging er langsam hinüber zur Tür und verließ den Raum.




Erzählt von Albus Dumbledore:

Müde stieg ich die Wendeltreppe hinauf und öffnete oben angekommen die Tür zu meinen Räumen. Dort setzte ich mich an den Schreibtisch und starrte für eine Weile aus dem Fenster, während Fawkes von seinem Käfig zu mir hinüber kam und sich auf meinem Schoß niederließ. In Gedanken versunken streichelte ich ihm sanft über die Federn.

Das Verhalten des Meisters der Zaubertränke am vorangegangenen Tag hatte mich zutiefst erschreckt. Ich hatte gehofft, daß sein Selbstmordversuch ein spontanes Verhalten gewesen war, das er nach seinem Erwachen bereuen würde. Ich hatte erwartet, daß er selbst geschockt sein würde über seine Tat. Wahrscheinlich war es naiv von mir gewesen, so zu denken. Vielleicht hatte ich aber auch einfach nicht anders denken wollen. Vielleicht hatte ich so sehr gehofft, daß dies alles zutreffen würde, daß ich die anderen Möglichkeiten gänzlich beiseite geschoben hatte. Auf jeden Fall war ich nicht auf das vorbereitet gewesen, was dann tatsächlich geschah. Nachdem Snape das erste Mal nach seinem Selbstmordversuch das Bewußtsein wieder erlangt hatte, war mir schnell klar geworden, daß sich meine Hoffnungen nicht erfüllen würde. Daß Snape seine Tat weder bedauerte, noch glücklich war, gerettet worden zu sein. Ich war entsetzt, als genau das Gegenteil eintrat. Er war verzweifelt. Verzweifelt und wütend.

Ich schüttelte niedergeschlagen den Kopf, als meine Gedanken weiter wanderten. Weg vom gestrigen Tag, hin zum heutigen Morgen. Wieder hatte mich Snapes Verhalten völlig überrascht. Nachdem er am vorangegangenen Tag seinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf gelassen hatte und sie nicht hatte unterdrücken können, war ich davon ausgegangen, daß dies auch nach seinem zweiten Erwachen der Fall sein würde. Aber das war es nicht. Als Snape an diesem Morgen erwacht war, hatte er sich vollkommen beherrscht gezeigt. Er hatte mich nicht an sich heran kommen lassen, sondern hatte sich und sein Inneres völlig abgeschottet und hatte sich kaum zu einer, nach außen sichtbaren, emotionalen Reaktion hinreißen lassen. Er hatte seine Wut und Verzweiflung, die man ihm am vorigen Tag so deutlich angesehen hatte, verborgen. Und doch war ich mir sicher, daß diese Gefühle auch heute noch immer da gewesen waren. Snape hatte lediglich versucht, sie vor mir zu verstecken. Und diese kühle, abweisende Art, die nur er auf diese unbeschreibliche Weise zeigen konnte, diese gewollte Distanz, machte mich noch hilfloser, als ich es durch seine momentane Situation ihm gegenüber sowieso war. Ich wußte einfach nicht, wie ich ihm, den ich als meinen Freund ansah, helfen konnte.

"Wie konnte ich das bloß zulassen, Fawkes?", fragte ich den rot-goldenen Vogel traurig. "Das alles hätte niemals geschehen dürfen. Ich hätte es verhindern müssen." Der Phönix rieb zärtlich seinen weichen Kopf an meiner Hand, als wolle er mich beruhigen, dann erhob er sich wieder in die Luft, flog einen kleinen Kreis durch mein Büro und landete schließlich auf seinem Käfig. In diesem Moment hörte ich ein vorsichtiges Klopfen an der Tür. Ich richtete mich in meinem Sessel auf und rief: "Herein!" Die Tür öffnete sich und die Professoren McGonagall und Lupin betraten nacheinander den Raum. Auf einen fragenden Blick meinerseits sagte Lupin: "Es geht um Severus. Nachdem du nicht beim Mittagessen erschienen bist und wir so noch keine Gelegenheit hatten, nach ihm zu fragen, und wir nicht einfach auf die Krankenstation gehen und dort ungebeten auftauchen wollten, dachten wir..."

"Natürlich. Bitte, setzt euch", antwortete ich freundlich, deutete auf die beiden Stühle, die dem meinen gegenüber standen und die beiden ließen sich auf ihnen nieder.

"Wie geht es ihm? Ist er wieder bei Bewußtsein?", platzte Professor McGonagall heraus und sah mich mit einem besorgten Blick an.

"Ja. Er ist bei Bewußtsein. Ich war eben bei ihm. Und aus medizinischer Sicht geht es im auch wieder relativ gut. Er ist noch ziemlich schwach, aber auch das wird bald vergehen. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist eher sein seelischer Zustand."

"Wen würde so etwas, wie es Severus in den letzten Tagen hat erleben müssen, nicht aus der Bahn werfen? Das ist doch nur natürlich. Aber ich hoffe, er bereut inzwischen, was er getan hat? Oder... Meinst du... meinst du, er wird es wieder versuchen, Albus?", fragte Lupin mich zögernd.

Ich antwortete nicht sofort, sondern überlegte einige Sekunden, dann seufzte ich tief und erzählte Professor McGonagall und Lupin von den Ereignissen des letzten Tages und davon, was Snape getan und gesagt hatte, nachdem er das erste Mal erwacht war. Als ich geendet hatte sahen mich die beiden entsetzt an und für eine kurze Zeit schwiegen wir alle, während die beiden, die mir gegenüber saßen, offenbar versuchten, das eben gehörte zu verdauen. Mein Blick wanderte währenddessen hinüber zu Fawkes, der noch immer auf seinem Käfig hockte, dann weiter zu den Gesichtern von Professor McGonagall und Lupin, in denen sich deutlich Fassungslosigkeit und Sorge abzeichneten. In diesem Augenblick riß sich Lupin offenbar aus seinen Gedanken, in denen er kurzfristig versunken gewesen war, richtete seinen Blick wieder auf mich und fing stockend an zu sprechen: "Was sollen wir tun, Albus? Was können wir tun? Ich weiß nicht, ob wir die richtigen sind, um Severus psychisch zu helfen. Meinst du nicht, wir sollten vielleicht einen Psychologen hinzuziehen?"

Einige Sekunden starrte ich müde auf meinen Schreibtisch, dann hob ich meinen Blick und antwortete langsam: "Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe Severus heute morgen darauf angesprochen und er hat es entschieden abgelehnt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ein Psychologe einen Zugang zu ihm finden würde, vor allem, wenn er nicht mit diesem reden will. Und das will Severus nicht. Ich fürchte, im Moment können wir nichts weiter tun, als ihm unsere Hilfe anzubieten und sie ihm zu geben, wenn er sich darauf einläßt. Ihm das Gefühl zu geben, für ihn da zu sein."
Die beiden Professoren mir gegenüber nickten zustimmend und für eine Weile saßen wir drei erneut schweigend da, bis ich mich schließlich von meinem Sitz erhob und sagte: "Ich werde jetzt hinunter in die Kerker gehen und Severus` Räume aufräumen. Er wird heute abend die Krankenstation verlassen und bis dahin muß ich dort noch einiges erledigen. Ich glaube, Minerva, du hast jetzt gleich Unterricht...?" Professor Lupin und McGonagall hatten sich in der Zwischenzeit ebenfalls erhoben und Letztere stimmte mir zu: "Ja. Ich habe gleich eine Doppelstunde. Tut mir leid."

"Was ist mit dir, Remus?", wandte ich mich an ihren Kollegen.

"Ich habe jetzt frei. Ich komme mit dir und helfe, wenn ich darf."

"Das wäre schön. Vielen Dank", erwiderte ich erleichtert und gemeinsam verließen wir drei mein Büro und stiegen die Wendeltreppe hinab. Im Flur angekommen trennten Professor Lupin und ich mich von Professor McGonagall, die sich auf den Weg in ihr Klassenzimmer machte, während wir beide mit dem Abstieg über die vielen Treppen hinab in die Kerker begannen, bis wir endlich die untersten Gänge Hogwarts erreichten, in denen sich nur das Zimmer für den Zaubertränkeunterricht und die Räume von Snape befanden. Hier war es selbst jetzt, im Hochsommer, kühl und düster.

Lupin fröstelte. "Ich frage mich jedes Mal aufs Neue, wie Severus das hier bloß aushält. Um diese Jahreszeit ist es ja nicht so schlimm, aber im Winter?" Ich hob ratlos die Schultern in die Höhe. "Ich weiß es nicht. Ich habe ihm schon oft angeboten, sich doch Räume weiter oben zu nehmen, aber er wollte von Anfang an nirgendwo anders arbeiten als hier unten. Es scheint ihm zu gefallen."

Schließlich kamen wir zu der schweren Tür zu den Räumen des Meisters der Zaubertränke und betraten sein Büro. Lupin blieb nahe des Eingangs stehen und starrte entsetzt auf die großen, dunklen Blutflecken, die sich deutlich vom Schreibtisch abhoben und auf das darauf liegende, ebenfalls blutbeschmierte, lange Messer. Und auch ich, der dies alles nicht zum ersten Mal sah, brauchte einen Moment, um mich zu fassen.

"Hier hat er also...", flüsterte Lupin ungläubig.

"Ja. Hier saß er, als wir ihn gefunden haben", antwortete ich mit heiserer Stimme. Dann riß ich mich zusammen und trat näher. Lupin folgte mir zögernd. So standen wir eine Weile vor dem Schreibtisch Snapes und starrten fassungslos auf das Blut und das Messer, bis ich mich schließlich zusammen nahm, meinen Zauberstab auf die Tischplatte richtete und sie mit einem einfachen Spruch reinigte. Dadurch aus seinen Gedanken aufgeschreckt, säuberte Lupin nun das Messer. Dann ging er langsam um den Tisch herum und entfernte die restlichen Blutspuren vom Fußboden und dem Stuhl.

Nachdem Lupin und ich alle gefährlichen Tränke und Zutaten, sowie alle Dinge, die man in irgendeiner Weise als Waffe mißbrauchen könnte, aus Snapes privaten Zimmern und dem Raum für den Zaubertrankunterricht entfernt hatten und ich sie in mein Büro gebracht hatte, war es Zeit, zum Abendessen in die Große Halle zu gehen. Als ich dort ankam, war diese bereits gut gefüllt und nur einen kurzen Moment, nachdem ich mich auf meinen Platz in der Mitte des Tafel gesetzt hatte, erschienen die Speisen und ich begann zu essen. Nachdenklich betrachtete ich die Schüler, die an den vier, nach Häusern getrennten, Tischen saßen und aßen. Sie schienen die Ereignisse inzwischen verdaut zu haben, nachdem ich bei den vorigen Mahlzeiten immer noch vereinzelt Schüler entdeckt hatte, die sich mehr als gewöhnlich zurückgehalten und betroffen ausgesehen hatten. Ich empfand es als tröstend, daß selbst Kinder und Jugendliche, die sonst ein überaus schlechtes Verhältnis zu ihrem Lehrer für Zaubertränke hatten, geschockt gewesen waren, nachdem sich die Nachricht von seinem Selbstmordversuch herumgesprochen hatte. Sogar die Gryffindors, die sich mit dem Hauslehrer der Slytherins am wenigsten verstanden. Und es barg für mich die Hoffnung, daß die Mauer zwischen den Häusern noch nicht gänzlich undurchdringlich geworden war. Daß noch immer, wenn auch nur selten, der Versuch unternommen wurde, über sie hinweg zu blicken und die Personen auf der anderen Seite als das anzusehen, was sie waren: Menschen.

Ich verließ die Große Halle so früh ich konnte und machte mich auf den Weg zur Krankenstation, denn ich wollte meinen Freund nicht unnötig lange warten lassen. Außerdem war es wahrscheinlich besser, wenn Snape auf seinem Gang in die Kerker nicht den neugierigen Blicken der Schüler ausgesetzt war, die sich im Moment noch in der Großen Halle befanden. Schließlich erreichte ich die Tür zum Krankenzimmer, öffnete sie vorsichtig und trat ein. Sofort fiel mein Blick auf das Bett, in dem der Meister der Zaubertränke heute morgen gelegen hatte. Es war leer. Das weiße Bettlaken war zurückgeschlagen und das Kissen trug deutliche Spuren einer Benutzung, doch weder die Person, die diese dort hinterlassen hatte, noch die Heilerin, die sich sonst fast ständig hier aufhielt und arbeitete, waren zu sehen. Eine gespannte Stille erfüllte das Zimmer und ich spürte, wie meine Unruhe sich allmählich zu einem leichten, aber stärker werdenden, Gefühl der Panik steigerte. Was war hier passiert? Hektisch sah ich mich in dem Raum um. Das konnte doch einfach nicht sein. Wo waren Snape und Madam Pomfrey?

"Suchst du etwas, Albus?", fragte in diesem Augenblick eine kalte Stimme hinter mir. Das plötzliche Geräusch ließ mich leicht zusammenschrecken und es dauerte einige Augenblicke, bis ich mich wieder gefaßt hatte. Dann drehte ich mich langsam um und erblickte Snape, der, in seinen schwarzen Umhang gehüllt, auf einem Stuhl in der Ecke des Krankenzimmers saß, und mich mit ausdruckslosem Gesicht anstarrte. Mit keiner Regung verriet er, was in dieser Sekunde in ihm vorging.

Ich lächelte leicht und sagte: "Ja. Aber ich habe es gerade gefunden."

Snape zeigte keine Reaktion, sondern blickte mir nur weiter starr ins Gesicht. In diesem Moment betrat Madam Pomfrey durch eine Tür, die in das kleine Nebenzimmer führte, den Raum. Sie sah zu mir und Snape hinüber, dann wandte sie sich um und verschwand wieder in ihrem Labor. Kurze Zeit später erschien sie erneut, nun mit einer kleinen Flasche, gefüllt mit einer grünen Flüssigkeit, in der Hand. Ich machte einige Schritte auf sie zu, so daß wir nun in einiger Entfernung zu dem Meister der Zaubertränke standen.

"Hier", sagte sie kurz angebunden und überreichte mir den Trank. "Den sollten Sie ihm geben. Es ist ein starker Schlaftrank." Ich sah Madam Pomfrey, die stets dazu neigte, ihre Patienten länger als nötig unter ihrer Fürsorge behalten zu wollen, deutlich an, daß sie es für falsch hielt, Snape bereits jetzt von der Krankenstation zu entlassen. Da ich allerdings in diesem Augenblick nicht mit ihr darüber diskutieren wollte, nickte ich nur leicht und steckte die Flasche in die Tasche meiner Robe.

"Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?", fragte ich leise, doch die Heilerin schüttelte den Kopf. "Nein. Nur einige Schüler sind hier vorbei gekommen."

Als sie meinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, fuhr sie fort: "Mr Malfoy war gemeinsam mit einigen anderen Slytherins kurz nach dem Mittagessen hier und wollte sich nach dem Zustand des Professor erkundigen, Miß Granger etwas später. Professor Snape wollte jedoch niemanden sehen, und so habe ich sie alle weggeschickt." Sie machte eine kurze Pause, bevor sie mit leicht säuerlicher Stimme bemerkte: "Ich denke wirklich, es wäre besser, wenn der Professor noch eine Weile hierbleiben würde."

"Das werde ich nicht", erklang Snapes Stimme kühl. Madam Pomfrey und ich wandten uns ihm zu und ich sah, wie Snape sich von dem Stuhl erhob und zu uns herüber kam. Madam Pomfrey öffnete ihren Mund, doch bevor sie anfangen konnte, ihrer offensichtlichen Empörung Luft zu machen, griff ich mit meiner Hand ihren Arm. Als ihr Blick irritiert zu mir hinüber wanderte, lächelte ich besänftigend und schüttelte leicht den Kopf. Sie schloß daraufhin mit einem unwilligen Schnauben den Mund, drehte sich um und ging mit einem wütenden Ausdruck auf dem Gesicht in den Nebenraum. Ich würde später noch einmal mit ihr reden müssen. Es tat mir leid, sie verärgert zu haben, doch ich war der Meinung, daß es besser wäre, Snape schnell in die Kerker zu bringen und nicht mit einer Auseinandersetzung mit der Heilerin zu konfrontieren.

Snape war inzwischen bei mir angekommen. Er hatte den Abgang Madam Pomfreys in jeder Hinsicht ignoriert.

"Könnte ich nun meinen Zauberstab wieder bekommen? Madam Pomfrey sagte mir, du hättest ihn an dich genommen." Wieder hatte Snape mit dieser kalten, distanzierten Stimme gesprochen, die so typisch für ihn war.

"Er befindet sich in meinem Büro", antwortete ich und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: "Und ich denke, da sollte er auch für die nächste Zeit bleiben." Snape drehte sich langsam zu mir herum. Seine schwarzen Augen funkelten wütend, dann verengten sie sich zu schmalen Schlitzen. Sonst zeigten auch jetzt seine Gesichtszüge keinerlei Reaktion. Ich erwartete, daß er etwas erwidern würde, doch er tat es nicht. Statt dessen starrte er mir völlig regungslos in die Augen. Ich fühlte mich unwohl, versuchte aber, es nicht zu zeigen und sah ihn ruhig an, bis er sich endlich von mir löste und sich in Richtung Ausgang wandte. Entschlossen öffnete er die Tür und rauschte hinaus. Einen Moment lang stand ich noch da und betrachtete die Stelle, an der Snape eben noch gestanden hatte, dann machte ich mich seufzend auf den Weg in die Kerker.

Ich folgte dem Meister der Zaubertränke in einiger Entfernung, so daß ich ihn ständig im Auge hatte. Er war offenbar schwächer, als ich angenommen hatte, denn er konnte sein anfängliches, zügiges Tempo nicht aufrecht erhalten, so daß ich ihn nach nur kurzer Zeit eingeholte hatte. Schweigend gingen wir beide daraufhin nebeneinander die Treppen hinab, wobei Snape starr gerade aus blickte und so versuchte, mich zu ignorieren. Schließlich erreichten wir die Tür zu seinen Räumen und traten ein.

Nachdem ich die Tür hinter uns geschlossen hatte, merkte ich, wie Snape neben mir plötzlich abrupt stehen blieb. Überrascht blickte ich ihn fragend an, doch er schien mich nicht mehr wahrzunehmen. Sein Blick war starr auf die, bis auf seine Bücher, leeren Regale seines aufgeräumten Büros gerichtet. Seine Augen blitzten suchend im Raum umher und ich erkannte, wie sich ein leichter Anflug von Panik in ihnen widerspiegelte, wie ich ihn noch niemals zuvor bei dem Meister der Zaubertränke gesehen hatte. Vorsichtig hob ich meine Hand. "Severus?", fragte ich mit ruhiger Stimme und berührte ihn sanft an seinem Arm, woraufhin Snape, wie aus einer Art Trance heraus gerissen, erschrocken zusammenzuckte, mir ruckartig sein Gesicht zuwandte und mich mit seinen schwarzen Augen in einer Art und Weise anstarrte, die mich stark an den Anblick eines gehetzten und gejagten Tieres erinnerte, dem soeben klar geworden war, daß es in eine Falle geraten war, aus dem es kaum noch eine Möglichkeit gab, zu entfliehen. Es versetzte mir einen tiefen inneren Stich, meinen Freund so sehen zu müssen, mit diesem Ausdruck in den Augen, der so viel über die Stärke seiner momentanen Verzweiflung verriet.

Es dauerte noch einige Sekunden, dann schien sich Snape wieder gefaßt zu haben und seine Augen spiegelten wieder die Kälte und Distanziertheit wider, die man so häufig in ihnen entdecken konnte. Langsam, noch sichtbar geschwächt von den Strapazen der vergangenen Tage, ging Snape hinüber zu seinem Schreibtisch. Dort blieb er für eine kurze Weile still stehen, bevor er sich erneut mir zu herum drehte. Und obwohl er sich offensichtlich große Mühe gab, eine aufrechte Haltung einzuhalten, konnte er die dumpfe Müdigkeit, die ich ihn seinen Gesichtszügen las, nicht vollständig vor mir verbergen.

"Vielleicht solltest du jetzt schlafen gehen, Severus. Gib deinem Körper und dir selbst die Möglichkeit, sich auszuruhen und zu erholen", schlug ich vor und ging mit einem vorsichtigen Lächeln auf ihn zu.

Für einen Moment fragte ich mich, da Snape in keiner Weise reagierte, ob er meinen Vorschlag nicht wahrgenommen hätte, doch dann schien er sich aus seiner Starre zu lösen und antwortete mit einem angedeuteten Nicken. Anschließend kehrte er mir seinen Rücken zu und machte sich auf den Weg in sein Schlafzimmer, das direkt an das Büro angrenzte. Bevor er jedoch die Tür erreichte, rief ich ihn noch einmal zurück: "Severus?"
Der Meister der Zaubertränke schien einen Augenblick zu zögern, bevor er sich langsam wieder mir zu wandte und mich mit einem kühl-fragenden Ausdruck auf dem bleichen Gesicht ansah. Ich ging zu ihm hinüber, steckte meine Hand in eine der vielen Taschen meines Umhangs, zog die Flasche mit dem Schlaftrank, den Madam Pomfrey mir mitgegeben hatte, heraus und hielt sie Snape hin.

"Madam Pomfrey meinte, du solltest diesen Trank nehmen. Er wird dir zu einem tiefen, traumlosen Schlaf verhelfen", sagte ich freundlich, aber bestimmt.

Snape blickte einige Sekunden unbewegt auf die grünliche Flüssigkeit in meiner Hand.

"Ich weiß, welche Wirkung dieser Trank hat, Albus. Ich habe ihn gebraut", erwiderte er kalt, bevor er die kleine Flasche an sich nahm und sie in einem Zug austrank. Anschließend gab er mir das leere Gefäß zurück und fuhr mit der selben eisigen Stimme fort: "Da nun alles zu deiner Zufriedenheit geschehen ist, darf ich wohl annehmen, daß es mir nun erlaubt ist, in mein Schlafzimmer zu gehen? Und zwar alleine? Oder soll ich hier unter deiner Beobachtung vor dir einschlafen?"

Ohne eine Antwort von mir abzuwarten oder mich eines weiteren Blickes zu würdigen, öffnete er die Tür zu dem Nebenraum, trat ein und schloß die schwere Holztür hinter sich. Schweigend starrte ich noch eine Weile auf eben diese, dann sagte ich leise: "Gute Nacht, Severus."

Ich wartete noch so lange, bis ich sicher sein konnte, daß die Wirkung des Schlaftrankes eingesetzt hatte, dann verließ auch ich das Büro des Meisters der Zaubertränke.


Kapitel 13

 

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