Kinder der Nacht

 

 

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Kapitel 6: Die Todesserin 

 

Christine Lestrange saß in Severus Snapes Wohnung, genauer gesagt auf seinem Bett. Alle anderen Sitzgelegenheiten waren entweder mit Kleidungsstücken bedeckt oder dienten als Abstellmöglichkeit für alle möglichen Bücher.

Sie war allein im Zimmer, abgesehen von Severus' namenlosen Raben, der auf einem der Bettpfosten hockte und sie geflissentlich ignorierte. Das Tier teilte ganz offensichtlich einige der Charakterzüge seines Herren. Seine Haltung strahlte Unabhängigkeit, Stolz und vielleicht sogar eine Spur von Arroganz aus, sofern das bei Vögeln überhaupt möglich war. Christine wunderte sich, ob Severus ihn deshalb anstatt einer Eule gekauft hatte. Während sie so allein inmitten all seiner privaten Dinge saß, stellte sie fest, dass es überhaupt eine ganze Menge zu geben schien, das sie über ihn nicht wusste. So besaß er zum Beispiel nicht nur Fachbücher über Zaubertrankkunde und die dunklen Künste, sondern auch eine ganze Reihe von literarischen Bänden - vor allem von Muggelautoren, wie sie verwundert feststellte.

Oliver war heute schon früh am Morgen zusammen mit Milton Avery und Evan Rosier zu einem Quidditchspiel in Glasgow aufgebrochen und so hatte sie sich entschlossen, kurz bei Severus vorbeizuschauen, um sich bei ihm für die Rettung am Vorabend zu bedanken. Eigentlich hatte sie das bereits gestern in der Dachkammer tun wollen, doch im Zuge der folgenden Ereignisse hatte sich keine wirkliche Gelegenheit mehr ergeben. Der Gedanke an den Geist des rätselhaften Mädchens aus Abessinien ließ sie auch jetzt noch erschauern. Was für ein seelenloser Mensch musste derjenige gewesen sein, der ihr das angetan hatte? Seelenlos...

Hatte jemand wie sie, eine Todesserin das Recht, dieses Wort zu gebrauchen? Mit einem Mal wünschte sie sich fast verzweifelt, Severus würde endlich auftauchen. Unruhe machte sich in ihr breit. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Von Anfang an war es ihr suspekt vorgekommen, dass das Flohnetzwerk funktioniert hatte, obwohl er ganz offensichtlich nicht zu Hause war. Zuerst hatte sie angenommen, er wäre nur kurz weggegangen und deshalb auch beschlossen, zu warten, aber nachdem nun beinahe eine volle Stunde verstrichen war, begann sie sich ernsthafte Sorgen zu machen. Die Möglichkeit, dass er Oliver und seine Freunde nach Schottland begleitet hatte, schloss sie völlig aus. So weit sie wusste, konnte Severus Quidditch nicht ausstehen. Sie mutmaßte, dass diese Abneigung vor allem mit James Potter zusammenhing, hätte es aber nie gewagt, ihn danach zu fragen.

Vielleicht machte sie sich auch nur zu viele Gedanken. Wahrscheinlich war er einfach nur beim Einkaufen und hatte vergessen, seine Wohnung vom Flohnetzwerk abzumelden. Das passierte ihr ja schließlich selbst ständig... Verdammt, sie verbrachte viel zu viel Zeit damit, an Severus Snape zu denken. Es gab nichts, dass sie verband außer ihrem gemeinsamen Schicksal. Sie hatten beide den falschen Weg eingeschlagen und nun war es unmöglich umzukehren. Warum nahm sie das ganze nur so furchtbar wichtig? Bildeten sie sich tatsächlich ein, sie wären die einzigen auf dieser Welt, denen es so ging? Tausende und Abertausende von Menschen trafen jeden Tag falsche Entscheidungen und mussten mit den Konsequenzen leben. Aus welchem Grund sollte es für sie eine Ausnahme geben?

Tief in ihrem Inneren wusste sie die Antwort: Weil für den Fehler, den sie begangen hatten, andere mit dem Leben bezahlen mussten. Sie musste an etwas denken, dass Oliver ein mal gesagt hatte. "Wenn wir sie nicht töten, dann wird es jemand anderes tun." Und doch waren es ihre Hände, die den Zauberstab hielten, ihr Mund, der die tödlichen Worte aussprach, ihr Geist, der eine perverse Befriedigung empfand, wenn ein Opfer vor ihnen auf die Knie sackte... Ihre Hände begannen zu zittern. Oliver... er durfte es niemals erfahren - niemals! Denn sonst... Wahrscheinlich war es am besten, wenn sie jetzt nach Hause zurückkehren würde. Hier konnte sie ja doch nichts ausrichten. Und selbst wenn sie ihn hätte suchen wollen - sie hätte überhaupt nicht gewusst, wo. Außerdem konnte Severus Snape ganz gut auf sich selbst aufpassen. Zumindest zwang sie sich, daran zu glauben, dass er es konnte. So erhob sie sich etwas mühsam und kramte den Beutel mit dem Flohpulver aus ihrem Umhang.

"Christine?" Ruckartig hob sie den Kopf und blickte in ein wohlbekanntes Gesicht - oder zumindest in das, was davon noch zu erkennen war. Severus Snape sah aus, als käme er geradewegs von einem Schlachtfeld. Augenscheinlich trug er noch immer die förmliche Robe vom Vorabend, allerdings war sie nun dreckverkrustet und hing ihm nur mehr in Fetzen vom Körper.

"Oh Gott!" Sie schlug die Hände vor den Mund. "Was... bist du verletzt?" Er starrte sie an, ein Blick, der ihr kalte Schauer den Rücken hinunterjagte. Seine Augen waren vollkommen leer, nichts als dunkle, schwarze Tunnel - die Augen eines Toten. Was immer auch geschehen sein musste, es musste furchtbar gewesen sein. Für einen Moment war sie unschlüssig, was sie nun tun sollte. Und tat dann instinktiv das einzig Richtige. Sie streckte ihre Arme aus und zog ihn an sich. Zuerst schien es, als wolle er sich sofort aus der Umarmung lösen, doch als sie ihm einige Male beruhigend über den Rücken gestrichen hatte, schien er sich zu entspannen. Nach einer Weile begann er unkontrolliert zu zittern und Christine spürte, wie seine Beine unter ihm nachzugeben drohten.

Die Arme immer noch um seinen Oberkörper geschlungen sank sie zusammen mit ihm auf die Knie. Sie begann in hin und her zu wiegen, wie ein kleines Kind, seinen Kopf in ihrer Schulter vergraben. Die ganze Zeit über redete sie auf ihn ein, unzusammenhängende Worte, einfach nur, um ihm das Gefühl zu geben, dass jemand bei ihm war, dass er nicht allein war in seinem Schmerz. Mit der Zeit fühlte sie sich immer hilfloser. Warum konnte er nicht einfach weinen? Das hätte alles um so viel leichter gemacht. Nichts war schlimmer als diese quälende, verzweifelte Stille.

Severus Snape befand sich in einem Dämmerzustand. Er wusste nicht, wie viel von dem, an das er sich zu erinnern glaubte Wirklichkeit gewesen und wie viel Einbildung war. Die Grenzen zwischen Traum und Realität, zwischen Verzweiflung und Wahnsinn wurden immer undeutlicher und drohten ganz zu verwischen.

Doch da war sie. Sein Rettungsanker, der ihn davon abhielt, in diesen endlosen, schwarzen Abgrund zu stürzen, der sich vor ihm auftat. Sie war keines von seinen Hirngespinsten, sie war tatsächlich da. Ein Wesen aus Fleisch und Blut. Der einzige Grund, aus dem er überhaupt noch am Leben war. "Christine..."

"Severus! Endlich!" Gott sei dank! Er hatte gesprochen, schien das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. "Es ist alles in Ordnung. Alles wird gut werden..." Sie hörte nicht auf, ihm langsam und zärtlich über den Rücken zu streichen. "Alles wird wieder gut..." Aber was? Was würde wieder gut werden? Was war geschehen? So viele Fragen, die ihr auf der Zunge brannten, so viele Fragen, auf die sie vorerst keine Antworten erhalten würde. Dafür war es noch zu früh.

Langsam begann Severus wieder klarer zu sehen. Offensichtlich befand er sich in seiner Wohnung. Dann hatte es also funktioniert. Es war ihm tatsächlich gelungen, sich so weit zu sammeln, dass er hatte apparieren können. Eigentlich ein Wunder, wenn man den Zustand betrachtete, in dem er sich befunden hatte. In dem er sich noch immer befand. Sein ganzer Körper schien zu brennen, doch hinter dem rein physischen Schmerz drängte sich etwas gewaltsam in sein Bewusstsein, das weitaus schlimmer, quälender war.

Innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte er beide Eltern verloren. Jene Eltern, von denen er immer geglaubt hatte, sie wären ihm egal. Die er über Jahre hinweg einfach ignoriert hatte. Weil sie ihn nicht verstanden hätten. Er hatte sie nie gebraucht. Sie hatten ihn nie gebraucht. Sie konnten ihm egal sein. "Vergiss sie!", sagte Severus Snape, der Todesser. "Verlass mich nicht!", schrie der elfjährige Junge am Bahnsteig.

"Schsch... Sev. Keine Angst, ich bin da. Ich gehe nicht weg." Oh Gott, wie lange würde das noch so weitergehen? Sie hatte ihn noch niemals so schwach, so nah am Rande des Abgrunds gesehen. Es machte ihr Angst. Am liebsten wäre sie aufgestanden und weggelaufen. Hätte vergessen. So schnell wie möglich. Schließlich war sie eine Todesserin. Todesser scherten sich nicht um andere, um nichts und niemanden. Auch nicht um jene, die sie als Freunde zu bezeichnen beliebten. Todesser hatten keine Freunde. Sie vertrauten nicht. Sie liebten nicht...

Doch Christine Lestrange blieb. Weil Severus ihr Freund war. Weil sie ihm vertraute.

Und weil sie ihn liebte.

 

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