Ausflug

 

 

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Autorin: Ani


Relativ


Mit einem gleißenden Blitz erscheint Mary-Ann in der Eingangshalle von Hogwarts. Aufatmend stellt sie fest, dass sie gerade noch zur rechten Zeit gekommen ist. Pünktlich zur Hutzeremonie. Eine Minute später und alle künftigen Erstklässler wären verschwunden gewesen. Ein glückliches Lächeln huscht über ihr Gesicht. Genau so hat sie es sich vorgestellt. Das Gedränge der neuen Schüler, die Treppe, an deren oberen Ende Professor McGonagall steht, ein kleines Geschubse, weil wohl jeder so aufgeregt ist wie sie. Nach der beeindruckenden Rede von Professor McGonagall gehen alle in die Große Halle. Bombastisch, einfach umwerfend. Staunend läuft Mary-Ann zwischen den anderen. Sie hört Hermine Granger, die erklärt, dass die Decke künstlich ist. Ach, künstlich? Sie schaut nach oben, in einen wundervollen Sternenhimmel. Egal, ob künstlich oder nicht, hier wird sie sich wohl fühlen.

Inzwischen hat Professor McGonagall den Sprechenden Hut zur Hand genommen und rollt ein Riesenpergament auf. Gespannt lauscht sie, wann denn wohl ihr Name aufgerufen wird. Nach jeder Zuweisung in ein Haus wird applaudiert. Hoffentlich ist das bei ihr auch so. Aufgeregt tritt sie von einem Fuß auf den anderen. Da kommt es auch schon: „Conolly, Mary-Ann.“ Ihr nach-vorne-Gehen ist mehr oder weniger ein Stolpern. Sie kann nur hoffen, sie blamiert sich nicht allzu sehr. Die anderen haben es schließlich auch überstanden. Mary-Ann setzt sich auf den Stuhl und schon sitzt der Hut auf ihr. „Aaaaaaaah, was haben wir denn da?“ Mary-Ann grinst. Zwei ältere Schüler unterhalten sich flüsternd. „Guck mal, wie die grinst. Ob die noch ganz richtig ist?“ Sie hört den Hut, der da sagt: „Na, dann wollen wir mal sehen.“ Leise wispert sie vor sich hin: „Nicht Slytherin, nicht Slytherin.“
„Wuäh, nicht Slytherin? Bist du da absolut sicher? Ich sage dir, in Slytherin könnte Großes aus dir werden. Ja, das Haus wäre perfekt für dich.“
„Nicht Slytherin, nicht Slytherin.“
„Eigentlich kannst du stur sein, wie du willst, ich allein sehe in dir, was vorhanden ist und ich allein entscheide, in welches Haus du kommst. Und das ist in deinem Fall - SLYTHERIN!“ Der Sprechende Hut ist fertig und Mary-Ann grinst noch mehr.

Der Tag verläuft ebenfalls so, wie sie es sich immer vorgestellt hat und in froher Erwartung betritt sie am nächsten Tag nach dem Frühstück den Kerker, um ihrer ersten Stunde Zaubertränke zu lauschen. Als Professor Snape den Kerker betritt oder vielmehr hereingleitet, ist es um sie geschehen. Ihr fällt nichts besseres ein als ihn anzuhimmeln. Und Professor Snape? Himmelt zurück. Selten hat er eine so bezaubernde Schülerin gesehen. Schneeweiße Haut, rabenschwarze Haare wie seine eigenen und Augen von einem so stechenden Blau, dass man meint, man schaut mitten in einen kristallklaren Bergsee.

Mary-Ann lächelt die ganze Zeit, sitzt einfach nur verträumt im Unterricht herum. Und Professor Snape scheint es ihr nicht einmal zu verübeln. Nein, im Gegenteil, so viel Nachsicht hat er mit noch niemandem walten lassen. Auch dann nicht, wenn es eine Slytherin ist. Die anderen Schüler nehmen diese Tatsache ebenfalls nicht zur Kenntnis. Sie arbeiten und reden einfach weiter als sei sie nicht da.

Mitten im Unterricht sagt sie: „Severus, können wir dann ausreiten?“ Das fragt sie genau in dem Augenblick, als Professor Snape vor ihr steht. Er streichelt sanft ihre Wange. „Natürlich, mein Kleines“, kommt als Antwort. Mary-Ann ist mehr als glücklich, das zu hören. Sehr lange hat sie gebraucht, um ihn dahinzubekommen, wo er jetzt ist. Heimlich reibt sie sich die Hände. Es funktioniert also. Sie schenkt der Tatsache, dass er weiterläuft und ihren Nachbarn ungespitzt in den Boden rammt, keinerlei Beachtung. Nach dem Unterricht steht sie auf, wartet bis sich die Klasse entfernt hat und schaut ihn fragend an. Severus nickt und geht mit großen Schritten auf Mary-Ann zu. Seine Augen blitzen. Stürmisch packt er sie am Kragen und zieht sie näher zu sich heran. Sie genießt seinen leidenschaftlichen Kuss. Dann meint er mit einem spitzbübischen Lächeln: „Wir sollten gehen, Kleines, sonst sind die Pferde weg.“ Mary-Ann nickt. Da könnte er durchaus recht haben.

Im gemächlichen Trab reiten sie beide nebeneinander. Während all der Himmelei hat sie trotzdem noch Zeit zu fragen: „Reitest du eigentlich gut? Oder kommst du besser auf dem Besen vorwärts?“ Severus blickt sie erstaunt an. Dann zuckt er mit den Schultern. „Eigentlich beides. Warum fragst du?“ Lachend prescht sie auf ihrem Hengst davon und winkt zurück. „Genau deshalb. Hol mich ein, Liebling.“ Severus zügelt perplex sein Pferd. Dann lacht er. So ein kleiner Teufel. Aber er wird ihr schon zeigen, wie gut er reiten kann. Die Fersen in die Flanken des Pferdes bohrend prescht er ihr in gestrecktem Galopp hinterher.

Mary-Ann hält auf einer kleinen Anhöhe an. Wunderbarer Ausblick. Auf den See, den Wald, und ringsherum nichts, was stören könnte. Sie steigt ab und lugt vorsichtig um ihr Pferd herum, dem sie die Mähne streichelt. Lächelnd schaut sie auf die schwarze Gestalt, die ihr hinterher galoppiert ist. Alles schwarz, aber wirklich von den Haaren bis zu den Hufen. Ob es Zufall ist, dass sich Severus einen Rappen ausgesucht hat? Nein, mit Sicherheit nicht. Er würde wohl auch keine gute Figur auf einem Schimmel machen. Mary-Ann stellt sich das gerade vor und muss unwillkürlich grinsen. Da ist er auch schon heran und steigt ebenfalls ab. Mit funkelnden Augen geht er auf sie zu und meint: „Glaubst du wirklich, du kommst so einfach davon? Nicht bei mir.“

„Oooch“, Mary-Ann schmollt ein bisschen, „ich dachte, ich bin schneller als du.“ Keck sieht sie zu ihm auf. „Aber ich lasse mich gern von dir einholen, das weißt du doch hoffentlich.“ Ein langer Schritt und Severus steht ihr direkt gegenüber. Besitz ergreifend legt er einen Arm um ihre Taille. „Natürlich, mein Kleines. Und ich krieg dich immer. Merk dir das. Immer.“ Er zieht sie ganz nah zu sich heran, so nah, dass sich ihre Körper berühren. Verträumt legt sie ihre Arme auf seine Schultern und lächelt verliebt. Mit leicht geöffneten Lippen nähert sie sich seinem Mund und spürt, wie seine Zunge ihre Lippen streicheln. Es dauert auch nicht lange und er lässt seine Zunge in ihren Mund gleiten. Mit geschlossenen Augen genießt sie sein Zungenspiel. Ihre Beine werden weich. Dann spürt sie, wie er seine andere Hand auf ihre Hüfte legt und ganz langsam nach oben streichelt, über ihre Taille, unendlich sanft und zärtlich über ihre jugendlich knospenden Brüste fährt und seine Finger ganz vorsichtig ihren Hals berühren. Mary-Anns Herz wummert stakkatoartig gegen ihre Rippen. Fast substanzlos lässt sie sich dahintreiben und genießt seine Lippen, seine Hand. Severus ist ganz leicht zumute. So, wie ihm noch nie gewesen ist. Dieses Mädchen hat etwas in ihm geweckt, was er als inexistent betrachtet hat. Die Erregung erfasst ihn wie ein Sturzbach.

„… kollabiert!“

Mary-Ann ist leicht verwirrt. Nein, nicht aufhören. Mit beiden Armen streichelt sie über seinen Rücken und verharrt auf seinem Po. Begehrend zieht sie ihn an sich. Sie möchte sich nur noch auf den Boden gleiten lassen.

„Mary-Ann!“ Noch ganz von der eigenen Erregung gefangen spürt sie, wie Severus ihr die Bluse zerreißt. Leise murmelt sie: „Nicht so stürmisch, Severus.“

„Lidocain! Sofort! Sie kollabiert. Mary-Ann!“ Eindringlich gellt ihr Name in ihrem Ohr. Aber warum ist Severus so laut? Sie freut sich auf seine warmen Hände, die mit ihren Brüsten spielen. Statt dessen spürt sie einen eiskalten, messerscharfen Schnitt auf ihrer Haut. Ihr Körper bäumt sich auf und die Welt um sie herum versinkt in einem gleißenden Blitz. Kaskaden von funkelnden Lichtern starten hinter ihren geschlossenen Lidern einen Wettbewerb. Welches Fünkchen wird das schnellste sein? Vorsichtig öffnet sie die Augen. Grelles Licht blendet sie. Ist es denn in Hogwarts so hell? Diesmal war es eine Frauenstimme, die nach ihr gerufen hat. Eine Frau?

Sie erschrickt bis auf die Knochen. Man hat sie gefunden. Langsam öffnet sie die Augen und findet nur schwer in die Realität zurück. Der Erste Techniker und ihre Mutter stehen neben ihr. Ihre Mutter bebt vor Wut, Cyberhelm und Datenhandschuh in der Hand. Heruntergerissen, deshalb der Blitz. „Mary-Ann, warst du wieder in diesem komischen Buch? Wie soll das mit dir enden, wenn du dich in Träumereien verlierst statt dich deinen Forschungen zuzuwenden? Du hast eine Aufgabe und nächsten Monat sollst du graduieren. Ab heute hast du VR-Verbot, und zwar so lange, bis sich ein Untersuchungsausschuss gründlich mit dir beschäftigt hat. Alle deine Reisen sind protokolliert. Glaub ja nicht, du kommst ungeschoren davon.“

Schweigend verfolgt sie den Wutausbruch ihrer Mutter. Sie ist nicht in der Lage, nach dem, was sie gerade erlebt hat, diese Worte gefühlsmäßig einzuordnen. Nein, das ist zu heftig. Das ist nach dem Aufenthalt in der Virtual Reality etwas zu heftig, was da auf sie zukommt. Schade, dass sie gefunden wurde. Jetzt wird wohl für die nächste Zeit das VR-Deck für sie gesperrt sein. Da helfen keine Tricks mehr, nein, ihre Signatur wird jetzt überall eingespeist und sie kommt nirgendwo mehr ran. Träge fängt ihr Bewusstsein wieder an zu arbeiten.

Mit Grauen wird ihr bewusst, in welcher Welt sie lebt. Im 25. Jahrhundert, in dem fast nichts mehr existiert bis auf die Überlieferungen aus früherer Zeit. Ob nun historische Dokumente, die die Wirklichkeit aufzeichnen, oder aber Bücher, wie sie Mary-Ann in die Hand gefallen sind. Bücher wie „Harry Potter“. Traumwelten, in die sie flüchten kann. Bereits beim Lesen hat sie die Figur von Severus Snape fasziniert. Gebannt saß sie vor der Lesemaschine und hatte Zeile für Zeile verschlungen. Regelrecht aufgesaugt. Es war zu schön, was dort beschrieben war. Geschichten über Freundschaft, Liebe, Sieg über das Böse, aber auch Hass. Eigenartigerweise war Professor Snape derjenige, der am meisten gehasst wurde. Gleich nach Voldemort. Und gerade das hat Mary-Ann gefesselt. Sie will auf dem Gebiet „Literatur des 20./21. Jahrhunderts“ graduieren und hat ein Programm geschrieben, um diese Welt hautnah zu erleben. Bei jedem neuen Eintauchen in die VR hat sie gemerkt, dass sie nicht so ganz mit der literarischen Vorlage von Joanne K. Rowling einverstanden ist. Mary-Ann hat angefangen, sich ihren eigenen Severus Snape zurechtzuprogrammieren. Um sich in ihn zu verlieben. Und der ihre Liebe erwidert.

Was gibt es denn schon hier in ihrer Welt? Die Umwelt kontaminiert, 90 Prozent der Bevölkerung lebt unterirdisch, weil inzwischen durch den sauren Regen und den Kometeneinschlag im 22. Jahrhundert ein Aufenthalt an der Oberfläche unmöglich geworden ist. Diejenigen, die oben arbeiten und weiterforschen, ob und vor allem wann sie die Atmosphäre wiederherstellen können, genießen zwar die höchste Achtung von allen, leben aber nicht lange genug, um sich darin so richtig zu sonnen.

Nächste Frage: Was ist Sonne? Mary-Ann hat sie noch nie gesehen, nur auf kleinen Spulchen, die Filme heißen und neben anderen Dokumenten erhalten geblieben sind. Sie hat sich eingehend damit befasst und ist unendlich traurig, dass es zum einen diese Welt, diese Erde, wie sie dort festgehalten ist, nicht mehr gibt und zum anderen, weil niemand mehr in der Lage ist, in dieser sterilen Welt, in der sie jetzt lebt, solche Bücher zu verfassen. Es gibt nur noch Minichips, Mikrodatenträger, die alles aufzeichnen. Allerdings nur die Forschungen, die wissenschaftlichen Ergebnisse. Es ist schon fast verboten, Fantasie zu besitzen. Oder sich damit zu beschäftigen. Es sei denn, im Rahmen einer Graduierung. Jeder Jugendliche bekommt ein Thema zugewiesen, mit dem er sich beschäftigen muss. Und warum? Doch nur, damit die Graduierungsarbeit auf einem weiteren Mikrodatenträger für die nächste Generation gespeichert wird. Weiter nichts. Alles für den Fall, dass die Originaldokumente verloren gehen, zerfallen, oder was auch immer. Diese ganze Angelegenheit mutet an wie Beschäftigungstherapie. Was sie auch im weitesten Sinne ist. Sicher, womit soll man sich sonst hier unten beschäftigen? Es ist zwar normal, für seine Arbeit Programme zu schreiben und in die VR einzutauchen, aber so intensiv, wie Mary-Ann das getan hat, ist es wohl von keinem Zweiten betrieben worden.

Mit Tränen in den Augen fügt sie sich ihrem Schicksal. Erkennt glasklar, dass es in Zukunft solche Ausflüge nicht mehr geben wird. Denn gegen die Gesetze, die hier herrschen, kommt sie nicht an. Weder gegen Naturgesetze noch von Menschen verfasste.  

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