Das Tagebuch der Pamina Patil

 

 

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Autorin: Smilla


Vorwort:

Dies ist eine Fortsetzung zu meiner Kurzgeschichte "Unter der Tiefe" (auch wenn sie länger geworden ist als das Original *g*). "Unter der Tiefe" sollte man also unbedingt gelesen haben, bevor man hier weiterliest; sie ist ja auch nicht lang.
Einige Leserinnen haben mich gebeten, die Story fortzusetzen, und ich war beharrlich der Meinung, dass gerade diese in sich abgeschlossen und vom Stil her nicht fortsetzbar wäre. Aber dann kam eine Leserin und erklärte mir, dass doch jetzt unbedingt jemand den armen Severus wieder aufpäppeln müsste, nach all dem Furchtbaren, was er erlebt hat. Da wurde mir ungefähr klar, was die Leute von mir wollten, und ich setzte mich dran. Es war aber von Anfang an klar, dass die Fortsetzung in einem völlig anderen Stil sein musste.
Hier ist sie also, in Tagebuchform und ausschließlich aus der Sicht von Pamina Patil, der jungen Dame, die das beneidenswerte Vorrecht hat, Severus wieder "aufzupäppeln". Beneidenswert? Hm... Ich bin mir sicher, viele von euch werden sich gut mit ihr identifizieren können. Na, dann seht mal zu, was draus wird...
"Unter der Tiefe" fortzusetzen, hieß auch, näher zu beleuchten, was dort wirklich passiert ist. Und vom näheren Hinsehen wird es nicht schöner. Im Gegenteil. Diese Story hat mich selbst zur Auseinandersetzung mit einer Thematik gezwungen, die nicht leicht zu verkraften ist. Aber wenn schon Fortsetzung, dann ehrlich. So, und nun lest einfach, es ist nicht alles nur schlimm hier. Nein, gar nicht. ;-)



Das Tagebuch der Pamina Patil


Dieses Tagebuch gehört: Pamina Patil.

Über mich: Ich habe gerade meine Ausbildung zur Medihexe begonnen und habe mir vorgenommen, ab jetzt Tagebuch zu führen. Ich widme es meiner Mama, die es mir zum Schulabschluss geschenkt hat. Vielleicht werde ich mal eine berühmte Ärztin, und dann kann man hier meine Karriere von Anfang an mitverfolgen. Vielleicht findet auch jemand in 1000 Jahren dieses Buch und bringt es ins Museum, weil man hier schön sehen kann, wie wir in Hogwarts im 21. Jahrhundert gelebt haben. (Haha, klar!)

Meine Freunde: Meine Ausbilderin ist Madam Pomfrey im Krankenflügel von Hogwarts. Ich habe hier dieses Jahr meinen UTZ gemacht und habe immer noch viele Freunde in der Schule. Wenn ich die alle hier hinschreibe, ist das Tagebuch voll. Also erwähne ich nur noch meine Schwestern, Parvati und Padma, die immer noch hier zur Schule gehen. Wir drei Schwestern sehen uns ziemlich ähnlich (die Zwillinge sowieso), aber wir sind ganz schön unterschiedlich. Padma ist eine Ravenclaw, Parvati ist in Gryffindor, und ich war in Hufflepuff. Wenn wir noch eine Schwester hätten, wäre sie wahrscheinlich in Slytherin.

Meine Hobbies: lesen, Einhörner malen, meine weiße Katze Fairy, mit meinen Schwestern streiten, Shopping in Hogsmeade.

Meine Ziele: Ich will eine tolle Medihexe werden und allen helfen. Typisch Hufflepuff, sagen meine Schwestern. Stimmt ja auch. Aber der Rest ist Quatsch: Padma denkt, ich wäre nicht schlau genug, um den ganzen medizinischen Krempel zu lernen. Aber ich war eine gute Schülerin, und außerdem interessiert mich das Fach. Ich packe das schon. Und Parvati meint, ich wäre nicht mutig genug für den Job und könnte kein Blut sehen. Die spinnt. Ich kipp doch nicht um, bloß weil ein Schüler sich das Knie aufgeschlagen hat und ein Pflaster braucht. Mehr passiert hier doch eh nicht. Medihexe ist genau der richtige Beruf für mich. Ich werde es denen allen zeigen!

Ab jetzt schreibe ich hier alles rein, was ich im Krankenflügel mache und was ich darüber denke, und auch ein paar Sachen, die ich in meinen Fachbüchern lese, damit ich sie nicht vergesse. Aber nur das, was ich richtig wichtig finde. "Leitsätze einer großen Ärztin" kann man da vielleicht später drüber schreiben. Einen Satz für meine Sammlung habe ich schon, und den schreibe ich hier als Motto für dieses Buch hin:

Mein Motto: Verhalte dich in deinem Dienst am kranken Menschen und im Umgang mit ihm so, wie du selbst wünschtest behandelt zu werden. (Christoph Wilhelm von Hufeland, 1762-1836)




15. September:

Jetzt bin ich schon einen halben Monat hier in Ausbildung, und ich hatte recht: Es ist genau der richtige Beruf für mich. Es macht mir jeden Tag Spaß. Ich arbeite freiwillig länger, als ich müsste, oder ich lese meine Fachbücher, also da soll Padma noch mal sagen, ich wäre nicht schlau genug für den Job! Ich weiß jetzt schon mehr über Medizin, als sie je wissen wird. Und Parvati hat auch nicht recht behalten: Ich kann wohl Blut sehen! In den zwei Wochen habe ich schon zahlreiche Wunden verbunden, und Madam Pomfrey sagt, ich mache das sehr gut. Bei ihr kann man überhaupt sehr viel lernen. Mein Stammpatient ist Neville Longbottom, ein Klassenkamerad von Parvati. Er hat sich in den paar Tagen seit Beginn des Schuljahres im Zaubertrank-Unterricht bereits eine Verbrennung und eine leichte Vergiftung zugezogen. Das muss ihm erst mal einer nachmachen! Also lag es jedenfalls nicht am Lehrer, wie er immer behauptet hat, denn bei der Vertretungslehrerin stellt er sich genauso dämlich an. Wenigstens sorgt Neville dafür, dass wir was zu tun kriegen. Sonst passiert nicht viel. Manchmal holt sich jemand einen Kratzer beim Quidditch-Spielen.



19. September:

In der ganzen Schule gibt es nur noch ein Gesprächsthema: Professor Snape kommt aus Askaban raus! Professor Dumbledore und Harry holen ihn morgen ab. Das war ein Kampf: Seit Ende des letzten Schuljahres und die ganzen Sommerferien lang und danach, hat unser Schulleiter versucht, seine Freilassung zu erwirken. Harrys Zeugenaussage hat Professor Snapes Unschuld bewiesen, aber es hat trotzdem lange gedauert, bis die Entlassungspapiere kamen. Aber es ist gut ausgegangen. Morgen ist Professor Snape wieder hier, und wahrscheinlich kommt er dann erst mal kurz zu uns in den Krankenflügel, zum Durchchecken und ein bisschen Erholen. Tja, wenn in Hogwarts was los ist, dann hier bei uns im Krankenflügel! Ich freu mich drauf, Professor Snape wiederzusehen. Er war ja sieben Jahre lang mein Lehrer in "Zaubertränke". Viele Schüler haben ihn gehasst, aber ich nicht. Gefürchtet, das ja! Aber jetzt ist er ja nicht mehr mein Lehrer. Ich hatte aber auch immer ganz gute Noten bei ihm, weil er gemerkt hat, dass mich sein Fach interessiert. "Zaubertränke" und "Kräuterkunde" waren meine Lieblingsfächer, weil ich mich schon immer für Heilpflanzen und Heiltränke interessiert habe. Professor Snape wird Augen machen, dass ich jetzt hier Medihexe bin!(Apropos Snapes Augen: Die fand ich schon immer toll. Ich kenne keinen anderen Menschen mit so schwarzen, glitzernden Augen.) Das wird bestimmt lustig morgen.


20. September:

Oh, mein Gott! Ich kann jetzt nicht schreiben, es geht einfach nicht. Morgen schreibe ich alles auf, ich verspreche es dir, liebes Tagebuch.


21. September:

Ich glaube, Parvati hatte doch recht: Ich bin nicht mutig genug für den Job. Gestern bin ich raus gerannt und habe geheult. Madam Pomfrey ist irgendwann zu mir gekommen, als sie einen Moment Zeit hatte. Sie war lieb zu mir, aber auch streng. Ich musste wieder mit in den Krankenflügel gehen. Sie hat gesagt, ich werde jetzt dringend gebraucht, und auch wenn es nicht leicht ist, da muss ich durch, wenn ich in dem Beruf arbeiten will. Erst dachte ich, sie verachtet mich, weil ich so schwach bin. Aber nachher im Krankenflügel habe ich gesehen, dass es ihr selbst nicht viel besser ging als mir. Sie ist aber geblieben und hat ihre Arbeit gemacht, also muss ich das auch. Sie braucht jetzt wirklich dringend Hilfe, und unser Patient natürlich erst recht.

Ich hatte erwartet, Professor Snape wiederzusehen. Aber das arme Wesen, das sie uns gestern gebracht haben, das hat so überhaupt nichts gemeinsam mit unserem Meister der Zaubertränke. Ich habe ihn wirklich nicht erkannt, als Professor Dumbledore ihn herein getragen hat. Nachdem wir ihn gebadet hatten und diesen Filz aus seinen Haaren und den Bartwuchs abgeschnitten hatten, sah er sich selbst wieder ein bisschen ähnlicher. Aber trotzdem... Das kann doch nicht derselbe Mann sein, der immer so imposant vor unserer Klasse gestanden hat! Der hat doch immer so viel Stärke und Macht ausgestrahlt. Und ich wäre eher gestorben, als zu wagen, ihn anzufassen! Aber dieses hilflose Bündel Haut und Knochen, das wir gestern gewaschen haben, das hatte so wenig mit ihm zu tun, dass es merkwürdigerweise ging. In dem Moment war er für mich kein Lehrer, kein Mann, nur ein Patient.

Ich habe nicht gewusst, dass ein lebender Mensch so aussehen kann, fast wie ein Skelett. Wie kann man jemanden, der einem anvertraut ist, so herunterkommen lassen? Madam Pomfrey sagt, die denken in Askaban eben sehr anders als wir, und er war nicht ihr Patient, sondern ihr Gefangener. Aber trotzdem, ich dachte immer, es gibt ein paar Regeln, die gelten für alle Menschen. Zum Beispiel: Wenn einem ein Lebewesen anvertraut ist, hat man dafür zu sorgen. Und ein Gefangener ist einem doch auch anvertraut, oder?

Aber das war noch nicht alles. Beim Waschen haben wir dann noch diese ganzen Blutergüsse und Striemen entdeckt. Einige davon sind noch recht frisch, höchstens ein paar Tage alt. Da muss er doch schon längst so ausgesehen haben wie jetzt und wahrscheinlich auch schon dieses Fieber gehabt haben. Ich verstehe nicht, wie man auf einen Menschen in diesem Zustand auch noch draufschlagen kann! Wir haben die Verletzungen natürlich mit ein bisschen Magie sehr schnell heilen können. Aber das hätten die doch auch gekonnt. Warum haben sie es nicht getan? Madam Pomfrey sagt, das ist eine dumme Frage, denn richtig müsste es heißen: Warum haben sie sie ihm überhaupt erst zugefügt? Sie hat ja recht. Trotzdem...

Auf seiner Haut sieht man jetzt keine Spuren mehr. Aber es bleibt noch sehr viel übrig, was sich nicht mal eben schnell mit einem Schlenker des Zauberstabes oder einem Trank heilen lässt. Madam Pomfrey sagt, es wird sehr lange dauern, bis er wieder etwas Fleisch zwischen Haut und Knochen hat und bis sein Gehirn wieder richtig tickt, von den Verletzungen an seiner Seele ganz zu schweigen. Wir müssen ihn aufpäppeln, hat sie gesagt, und das will ich natürlich gerne tun. Helfen und pflegen, das ist ja das, was ich immer tun wollte. Aber es ist so anders, als ich es mir vorgestellt habe. Kein Fachbuch konnte mich auf einen Anblick wie diesen Patienten vorbereiten.

Madam Pomfrey hat gesagt, ich soll alles genau beobachten und aufschreiben, jedes Symptom und jeden Gedanken. Ich versuche, mich daran zu halten, aber ich muss mich dazu zwingen. Ich habe schon immer gern geschrieben, Briefe und Aufsätze und kleine Geschichten und jetzt dieses Tagebuch. Aber ich habe nicht gewusst, dass schreiben auch weh tun kann.

Jetzt liegt er in seinem Bett im Krankenflügel, sauber und ordentlich zurechtgemacht und ohne sichtbare Verletzungen, und sein erschreckend magerer Körper ist unter der Decke verborgen. Aber sein Gesicht zu sehen, ist schlimm genug. Diese Blässe, diese eingefallenen Wangen, und seine Nase, die ohnehin nicht klein ist, ragt unverhältnismäßig groß und spitz aus diesem dünnen Gesicht hervor. Aber das Schlimmste sind die Augen. Er hatte doch so schöne Augen! Sie sind ganz verklebt von einer schlimmen eitrigen Bindehautentzündung. Madam Pomfrey hat mir erklärt, dass er sich diese Infektion (auch den schrecklich rasselnden Atem) in der kalten, feuchten Zelle geholt hat, aber die Augenentzündung ist erst nach seiner Befreiung richtig schlimm geworden. Sie sagt, das ist, weil seine Augen das Licht noch nicht ertragen können. Er war zu lange in totaler Finsternis. Wir haben den Krankenflügel schon ziemlich abgedunkelt, aber er öffnet die Augen nur sehr selten ein klein wenig. Ich wasche sie immer wieder vorsichtig mit einem Heilsaft ab, aber sie verkleben jedes Mal wieder. Es sieht so schlimm aus.

Aber Madam Pomfrey sagt, das ist alles nicht unser Hauptproblem. Unsere vordringlichste Aufgabe ist es jetzt, seinem völlig ausgetrockneten Körper genug Flüssigkeit zuzuführen. Er ist "dehydriert", hat sie mir erklärt und hat mir gezeigt, dass, wenn man eine Hautfalte an seinem Arm hochzieht, diese ganz unelastisch so stehen bleibt. Das ist ein schlimmes Zeichen. Sie war ganz außer sich und hat auf diese Leute in Askaban geschimpft, die ihm offenbar so wenig Wasser gegeben haben, dass es gerade ein Tropfen zuviel zum Verdursten war. Sein hohes Fieber hängt auch nicht nur mit der Infektion zusammen, sondern hauptsächlich mit der Überhitzung seines Körpers durch den Durst. Er muss sich gefühlt haben, als ob er innerlich verbrennt. Mit mir hat sie auch geschimpft, weil ich versucht habe, ihm ein Glas Wasser einzuflößen. Er hat doch so sehnsüchtig nach dem Wasserhahn geguckt. Aber beim Trinken hat er sich sofort verschluckt und fürchterlich gehustet und wahrscheinlich Wasser in die Lunge bekommen, was er jetzt gar nicht gebrauchen kann. Madam Pomfrey hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mich angefahren, seine Kehle sei doch völlig ausgetrocknet und wie ich auf die Idee käme, er könnte schon schlucken! Ich habe es doch nur gut gemeint. Sie ist auch sonst nicht so zu mir, aber man merkt ihr an, dass sie das alles auch sehr mitnimmt. Jedenfalls hängt Professor Snape jetzt Tag und Nacht an einem Tropf, der seinem Körper nach und nach Flüssigkeit und die allernötigsten Nährstoffe zuführt. Als Madam Pomfrey sich wieder beruhigt hatte, hat sie geseufzt und zu mir gesagt: "Immerhin lernst du an diesem Fall gleich so ziemlich alles kennen, was die Medizin der Magier und der Muggel zu bieten hat. In meiner ganzen Dienstzeit habe ich selten eine solche Herausforderung meiner ärztlichen Kunst erlebt. Und... nie etwas, das so schwer zu ertragen war."


25. September:

Ich habe ein paar Tage lang nicht geschrieben, weil wir rund um die Uhr so viel zu tun haben. Unser Patient liegt immer noch genauso schwach und teilnahmslos in seinem Bett und hängt am Tropf. Nur die Zusammensetzung der Infusionslösung hat sich geändert: Inzwischen verkraftet sein Körper ein paar Nährstoffe mehr, und außerdem führen wir ihm mehrere Heiltränke zu, vor allem für seine Nieren, die durch den Wassermangel geschädigt sind und für seine entzündete Lunge. Das Fieber ist zurückgegangen, und seine Augen verkleben nicht mehr so rasch, wenn ich sie gewaschen habe. Er öffnet sie jetzt auch ab und zu. Anscheinend gewöhnt er sich langsam wieder an das Licht, und es schmerzt ihn nicht mehr so. Aber seine Augen, diese schönen, schwarzen, ehemals glitzernden Augen, sind immer noch stumpf, ohne Glanz und Ausdruck und Richtung.

Heute allerdings hat er mich angesehen, als ich mit seiner Augenspülung fertig war. Richtig angesehen. Ich war ganz überrascht und habe ihn angestrahlt und gleich versucht, mit ihm zu reden. "Hallo, Professor Snape", habe ich gesagt, "ich bin es: Pamina Patil." In seinem Blick lag kein Erkennen. Weder bei meinem Anblick, noch bei meinen Worten. Sonst hatte er sich jedes Gesicht und jeden Namen gemerkt. Wir kannten uns immerhin sieben Jahre lang, und unser letztes Wiedersehen war erst ein paar Monate her. Aber es war wohl doch noch zuviel verlangt. Geduldig zeigte ich auf mich selbst, lächelte ihn an und erklärte noch einmal: "Mein Name ist Pamina Patil." Plötzlich flackerte Angst in seinen vorher ausdruckslosen Augen auf. Er versuchte zu sprechen, aber aus seiner Kehle kam nur ein heiseres Krächzen. Nach mehreren Anläufen schaffte er es, kaum hörbar zu flüstern: "Mein Name ist... ist..." Er zuckte plötzlich zusammen wie unter einem Peitschenhieb, dann stieß er ängstlich hervor: "Nein! Ich habe keinen Namen."

Währenddessen kam Madam Pomfrey angerauscht und machte mir heftige Vorwürfe, weil ich ihn zum Sprechen verleitet hatte. "Es strengt ihn zu sehr an", regte sie sich auf, "und es bereitet seiner ausgedörrten Kehle unnötige Schmerzen!" Doch als sie seine letzten Worte hörte, stutzte sie und verstummte. Sie hockte sich neben das Bett und sah ihm in die Augen. "Ihr Name ist Severus Snape", sagte sie langsam und deutlich und beobachtete genau seine Reaktion. "Nein!" antwortete er panisch. "Ich habe keinen Namen!"
"Oh nein", stöhnte Madam Pomfrey entsetzt auf, "diese Schweine!" Als sie meinen verständnislosen Blick bemerkte, erklärte sie es mir: "Sie haben seine Identität zerstört. Ich möchte gar nicht so genau wissen, auf welche Weise. Jedenfalls müssen sie ihn bei ihren Verhören immer wieder nach seinem Namen gefragt und für die richtige Antwort bestraft haben, so lange, bis er sie nicht mehr gesagt hat. Eine unglaublich perfide Art, jemandem jegliches Selbstgefühl und jede Orientierung zu nehmen und ihn in den Wahnsinn zu treiben. Psychische Folter der übelsten Sorte. Wen man einmal so weit hat, dass er seinen eigenen Namen nicht mehr weiß, den hat man vollkommen in der Hand, und er gibt einem jede Antwort, die man ihm diktiert. Die dauernde Isolations- und Dunkelhaft und die absolute Stille haben ihr übriges dazu getan, ihn vollkommen orientierungslos zu machen, ihm jegliches Zeitgefühl und nahezu jeden seiner fünf Sinne zu rauben. Wir haben noch viel mehr Arbeit vor uns, als wir bisher glaubten."

Ich war völlig geschockt von dem, was sie mir sagte. Ich kann nicht glauben, welche Grausamkeit Menschen anderen Menschen anzutun im Stande sind. Sie hat gesehen, wie fertig ich war und hat mich auf mein Zimmer geschickt, ich solle mal Pause machen. Aber ein Buch hat sie mir noch in die Hand gedrückt und mir eine Seite markiert, die ich lesen soll: "Soziale und sensorische Deprivation". Ich war aber im Moment nicht mehr aufnahmefähig, habe stattdessen endlich dieses Tagebuch weitergeführt und muss jetzt erst einmal schlafen. Morgen früh lese ich in dem Buch, bevor ich zur Arbeit gehe.


26. September:

Was für eine schreckliche Nacht! Das Schlafengehen war wohl doch keine so gute Idee. Nie in meinem Leben habe ich so grässliche Alpträume gehabt! Ich saß selbst in dieser finsteren Zelle und war am Verdursten. Es war grauenvoll! Und das war nur ein Traum, und nur eine einzige Nacht. Wie muss Professor Snape sich gefühlt haben, der das alles real und monatelang durchlebt hat? Ich versuche lieber nicht, mir das vorzustellen, wahrscheinlich könnte ich es auch gar nicht.

Der Traum ließ sich gar nicht richtig abschütteln, aber ich beschloss, trotzdem das Buch von Madam Pomfrey zu lesen. Wie ich vermutet hatte, machte diese Lektüre es nicht gerade besser. Aber ich will den betreffenden Auszug hier trotzdem wiedergeben, da er wichtig ist. Ich kopiere ihn magisch in mein Tagebuch:


Soziale und sensorische Deprivation

Methode psychischer Folter; wie bei jeder Art der Folter (hier aber in besonderem Maße) ist ihr primäres Ziel die Desorientierung bis hin zur Vernichtung der Persönlichkeit.

Das Mittel zu diesem Zweck ist hier die extreme Isolierung von sozialem Kontakt (Isolationstortur) und Verhinderung unterschiedlicher Sinneseindrücke, die notwendige Bedingung sind für das Funktionieren des menschlichen Organismus. Es handelt sich sozusagen um eine Aushungerung des menschlichen Kontaktbedürfnisses und von Sinneswahrnehmung, dadurch, dass der Gefangene in eine "camera silens" gebracht wird, einen schalltoten Raum, den Tag über dunkel. Aus experimental-psychologischen Untersuchungen und aus - viel zu viel - praktischer Erfahrung weiß man mit Gewissheit, dass solche Bedingungen in kürzester Frist Menschen psychisch und physisch zerrütten und zerstören können. Physisch tritt eine allmähliche Zerstörung der sogenannten vegetativen Funktionen ein (krankhafte Veränderungen bezüglich des Schlaf-, Hunger-, Durstbedürfnisses etc., wie auch Kopfschmerzen, Gewichtsverlust u.a.). Hinsichtlich der psychischen Verfassung entsteht emotionale Instabilität (unverhältnismäßige und plötzliche Angst, Freude und Wut). Psychisch-erkennungsmäßig entstehen in kurzer Zeit unter anderem zeitliche und räumliche Desorientierung, Konzentrationsschwierigkeiten, Gedankenflucht und schlechtes Erinnerungsvermögen, Sprech- und Verständnisdefizite, Halluzinationen etc. Allerdings greift dies nicht immer: Viele Personen können trotz grober Isolationstortur ihren "Persönlichkeitskern" bewahren.

Die "unblutige" Torturmethode der sozialen und sensorischen Deprivation und die aus ihr resultierende Desorientierung und Zerstörung geistiger Funktionen (Selbstkontrolle etc.) wird eingesetzt, um Angst oder Paranoia hervorzurufen und das Verhalten zu ändern. In jedem Fall ist die Anwendung unmenschlich, degradierend, grausam und barbarisch und verstößt gegen die Menschenrechte.

Jetzt ist mir noch schlechter als vorher. Aber ich muss auf die Arbeit. Ich werde mit Madam Pomfrey über das Gelesene reden. Und heute Abend hier weiterschreiben, wenn ich es schaffe.


27. September:

Wie man sieht, habe ich es gestern nicht mehr geschafft. Abends war ich nur noch müde, nach der Alptraumnacht und dem anstrengenden Arbeitstag. Ich bin früh ins Bett gegangen und habe zum Glück relativ traumlos geschlafen. Dafür wurde ich dann morgens sehr früh wach und habe weiter in dem Buch gelesen. Es ist übrigens von Professor Guy MacInquisit und heißt "Therapie von Folteropfern", und allein der Titel hätte mich warnen müssen, dass dies kein leichtverdaulicher Stoff ist. Aber wenn ich in diesem Beruf bleiben will, ist es ein wichtiges Buch für mich. Und ich habe beschlossen, zu bleiben. Ich merke, dass ich gebraucht werde.

Hier ein weiterer Auszug aus dem Buch (aus der allgemeinen Einleitung):


Definition der Folter:

Unter Folter versteht man vorsätzlich zugefügtes (und von einer staatlichen Instanz verhängtes) starkes körperliches oder seelisches Leiden mit dem Ziel, die Persönlichkeit zu zerbrechen und den eigenen Willen zu zerstören.


Mögliche Folgen der Folter:

Körperliche Dauerschäden, Narben, Schmerzen; psychische Folgen, Alpträume, seelische Verhärtung, Angst, Schuld- und Schamgefühle, Depressionen; soziale Folgen, Kontaktstörungen, Misstrauen, eigene Gewaltausübung.

Die Opfer können die Folter meist ihr Leben lang nicht vergessen und versuchen das Erlebte und ihre Erinnerungen zu verdrängen. Spezielle Therapien können helfen, schlagen jedoch oft fehl.


Therapie:

Auf die Therapie der verschiedenen körperlichen Schäden wird in den entsprechenden Kapiteln eingegangen. Hier die Therapieansätze im psychischen Bereich:

Das wichtigste und zugleich schwierigste Mittel ist die Kommunikationstherapie. Entscheidend ist, dass das Opfer sehr bald nach dem Erlebten zum Reden gebracht wird. Dies ist jedoch nicht leicht und darf andererseits nur sehr behutsam versucht werden, da der Betroffene genau das unter der Folter erlebt hat: gegen seinen Willen zum Reden gebracht zu werden. Sein Bedürfnis ist zunächst das Totschweigen und Verdrängen. Doch dies ist genau der falsche Weg, da eine Verdrängung eines derart extremen Traumas nicht möglich ist und den Zustand des Patienten nur verschlimmert.

Bei der Kommunikationstherapie gilt "alles oder nichts": Sie gelingt sofort oder nie mehr. Der Gefolterte kann anfangs noch etwas von dem mitteilen, was er erlitten hat. Je größer der zeitliche Abstand von dem brutalen Geschehen wird, desto mehr verkrümmt sich das Folteropfer in sich selbst. Es schließt sich völlig ab gegenüber der Außenwelt und bleibt so mit dem Geschehenen ganz allein. Aber warum diese Sprachlosigkeit? Es fehlen schlicht die Worte! Die menschliche Sprache ist darauf nicht ausgerichtet, das Erleiden der Folter in Worte zu fassen. Oft wurde die Erfahrung gemacht, dass am Anfang durch Gesten und eine Umarmung konkret zur Sprache kommt, was der Gefolterte braucht. Man erhält eine Ahnung von dem, was ihn heimgesucht hat.

Die non-verbale Kommunikation kann später langsam vom Therapeuten aufgeschlossen und das Erlebte vielleicht, zunächst stammelnd, in Worte gefasst werden. Man muss leider sagen, dass Menschen, die gefoltert worden sind, schon einige Wochen später zum Schweigen verurteilt sind. Es ist zu befürchten, dass sie dieses Geschehen ein Leben lang nicht in Worte fassen können und mit der Zeit innerlich aufgefressen werden. Sicher ist, dass das Erlittene von allein nicht zur Sprache kommt; es muss immer geholfen werden, dass sich in den Menschen etwas öffnen kann. Es bedarf besonderer medizinischer und psychologischer Hilfe, um eine kleine Tür zu öffnen, durch die das Folteropfer aus sich herausgehen kann. Gefolterte Menschen isolieren sich selbst, weil sie anderen nicht mehr vertrauen können. Und sie werden isoliert durch die Mitmenschen, die eine Begegnung verweigern. Es endet im schlimmsten Fall in einer verlassenen, gedemütigten und durch Unterdrückung entstandenen Einsamkeit.


All das ist mir nachher im Krankenflügel immer wieder durch den Kopf gegangen, wenn ich Professor Snape betrachtet habe, und in der Mittagspause habe ich mit Madam Pomfrey darüber geredet. Sie war sehr zufrieden mit meinem Lerneifer, doch was die praktische Umsetzung meiner neuerworbenen Kenntnisse betraf, schien sie wenig zuversichtlich zu sein. Als ich sie nach dem Grund fragte, antwortete sie: "Du kannst es ja gern mal mit einer Kommunikationstherapie bei Severus Snape versuchen, oder mit einer Umarmung!" Ihr ungewohnt sarkastischer Tonfall ärgerte mich. Klar, ich weiß auch, dass Professor Snape nie besonders gesprächig war, und unter normalen Umständen könnte es vermutlich unangenehme Folgen haben, wenn man ihn in den Arm nehmen wollte. Aber dies hier sind keine normalen Umstände. Gegen eine Berührung kann er sich ja momentan auch schlecht wehren, oder? Tut er auch nicht, er lässt sich ja umbetten, waschen und alles. Und das mit dem Reden, na ja, mal sehen... Ich werde es jedenfalls versuchen. Das habe ich Madam Pomfrey auch ganz deutlich gesagt: "So schnell wie Sie gebe ich nicht auf! Noch haben wir es nicht einmal versucht. Und ich will es schaffen, bevor es für immer zu spät ist!"

Sie hat geseufzt, und statt sich über meinen etwas respektlosen Tonfall zu ärgern, hat sie ihren Arm um mich gelegt. "Ich verstehe dich schon, Kind", hat sie gesagt, "und ich wünsche mir nichts mehr, als dass du Erfolg hast. Aber ich kann nicht recht daran glauben." Ich habe sie direkt angeschaut und gefragt: "Aber warum nicht?" Sie hat seltsam lange gezögert. Dann hat sie leise gesagt: "Weil die Frist vielleicht schon lange vorbei ist." Ich muss wohl sehr verständnislos geguckt haben. Sie hat wieder geseufzt, und dann hat sie das Buch geholt und auf ihre und meine Knie gelegt. Sie hat mit dem Finger einige Zeilen nachgezeichnet und halblaut mitgelesen:

"... psychische Folgen, Alpträume, seelische Verhärtung, Angst, Schuld- und Schamgefühle, Depressionen; soziale Folgen, Kontaktstörungen, Misstrauen, ..."

"... isolieren sich selbst, weil sie anderen nicht mehr vertrauen können. Und sie werden isoliert durch die Mitmenschen, die eine Begegnung verweigern. Es endet im schlimmsten Fall in einer verlassenen, gedemütigten und durch Unterdrückung entstandenen Einsamkeit."

Sie hat mich traurig angeschaut und gefragt: "Kommt dir das denn nicht irgendwie bekannt vor?"

Erst habe ich gar nichts kapiert. Dann bin ich mit den Augen ihrem Blick hinüber zu Professor Snape gefolgt. "Er?" habe ich gefragt. "Ich... hm... Sie kennen ihn sicher besser als ich. So genau habe ich darüber noch nie nachgedacht. Doch, manches davon kommt mir im Nachhinein bekannt vor, ja. Aber das war doch, bevor er..."
"Bist du sicher?" hat sie gefragt.

Wir haben es beide nicht ausgesprochen, und auch jetzt sträubt sich etwas in mir, es aufzuschreiben. Ich habe nur gefragt: "War er früher schon mal in Askaban?"
"Nein."
"Aber wo sollte er dann...?"
Madam Pomfrey hat nur Andeutungen gemacht: "Es gibt noch andere Leute, die so etwas tun. Und andere Methoden. Sind dir welche bekannt?"
"Hm,... Cruciatus?"
"Zum Beispiel. Siehst du." Aber jeden Versuch, mehr darüber zu erfahren, hat sie abgeblockt. "Es gibt einige Dinge, über die ich nicht sprechen darf", hat sie gesagt. Ich glaube aber doch sehr genau zu wissen, welche Leute sie meint. Ich wasche jeden Tag auch das Zeichen auf seinem Arm.

"Diese Leute...", habe ich angefangen zu reden, aber sie hat mich abgewürgt und in einem ziemlich bitteren Tonfall gesagt: "Diese Leute, mein Kind, sind extrem. Und Askaban ist extrem. Aber oft muss man gar nicht so weit gehen. Es gibt viele Arten, einen Menschen zu quälen und zu isolieren, und manche davon passieren ganz unspektakulär mitten unter uns, jeden Tag." Mehr war sie dann absolut nicht mehr zu diesem Thema zu sagen bereit. Wir mussten auch zurück an unsere Arbeit. Ich habe heute immer wieder Professor Snape angesehen und über all das nachgedacht. Versuchen werde ich es trotzdem.


29. September:

Heute war Professor Dumbledore länger im Krankenflügel als sonst. Er hat als bislang einziger Nichtmediziner Besuchsrecht und schaut jeden Tag mehrmals nach Professor Snape, aber heute hat er sich extra viel Zeit genommen. Heute war auch ein besonderer Tag, denn unser Patient ist jetzt so weit mit dem Nötigsten versorgt und gestärkt, dass wir ihn vom Tropf nehmen konnten. Er muss jetzt selbst essen und trinken, und dazu reicht seine Kraft natürlich noch nicht aus. Professor Dumbledore hat die erste Runde Füttern übernommen. Aber als er gemerkt hat, dass ich etwas enttäuscht war, durfte ich zuvor Professor Snape das erste Glas Wasser einflößen. Endlich! Der Arme, sein Mund war so ausgetrocknet, und immer nur das bisschen Anfeuchten war so grausam, weil er nicht weitertrinken durfte. Aber er hat sich heute bewundernswert beherrscht und nicht gierig, sondern ganz vorsichtig sein erstes Glas Wasser getrunken, so dass er nicht husten musste. Danach war sein Mundraum genügend angefeuchtet, dass er auch ein bisschen Essen schlucken konnte.

Besser als Professor Dumbledore hätte es kein Medizauberer machen können und auch kein liebevoller Vater. Das Füttern, meine ich. Er saß auf dem Bett und hielt Professor Snape fest im Arm, während er ihm ganz langsam und geduldig kleine Löffelchen voll Aufbaunahrung in den Mund schob. Ich habe mir genau eingeprägt, wie er es gemacht hat, denn er hat sehr geschickt zwei Dinge miteinander verknüpft: Einmal war das Halten natürlich notwendig, damit der geschwächte Mann aufrecht sitzen blieb, andererseits gab es Professor Dumbledore aber auch einen guten Vorwand, um ihm ganz nebenbei die Zuwendung und den Körperkontakt zu geben, die er jetzt so dringend braucht. Auf eine Weise, die Professor Snape nicht ablehnen wird, weil sie ein "Sachzwang" ist. Ich habe mir vorgenommen, meinen Patienten grundsätzlich auch nur auf diese Art zu füttern, anstatt ihn einfach mit Kissen abzustützen. Natürlich kann er zu mir nicht dasselbe Vertrauen haben, wie zu seinem alten Freund, bei dem wäre es vielleicht auch ohne Vorwand gegangen. Aber ich bin ärztliches Personal, und vor dem erlaubt man sich bekanntlich manche Schwäche oder Blöße, die man anderen Leuten nicht zeigen würde. Sachzwänge eben, wie gesagt.

Ebenfalls habe ich genau beobachtet, wie Professor Dumbledore die ganze Zeit über mit Professor Snape geredet hat. Das lenkt ihn von dem an sich etwas demütigenden Prozess des Fütterns ab. Ich kenne das von unangenehmen Untersuchungen, z.B. wenn der Patient nackt sein muss, dann soll man auch immer reden, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Ich sehe schon, was viele Medihexen und -zauberer erst erlernen müssen, hat unser Schulleiter von Natur aus: das nötige Einfühlungsvermögen.

Außerdem bekam Professor Snape auf die Art auch gleich noch ein wenig "Kommunikationstherapie", auch wenn er bisher nur zugehört und selbst nichts gesagt hat. Ob er alles verstanden hat, was der alte Herr zu ihm gesagt hat? Ich bin mir nicht sicher, wie viel sein langsam wieder erwachender Geist schon verarbeiten kann. Aber ich glaube, darauf kommt es auch gar nicht an. Der Inhalt von Dumbledores Worten war eher belangloser Natur, aber was zählt, ist die Kommunikation an sich und der Tonfall. Die meiste Zeit sagte Professor Dumbledore eigentlich nur immer wieder sanft und liebevoll: "Severus... Severus... Severus". Bei den ersten Erwähnungen seines Namens ist Professor Snape jedes Mal leicht zusammengezuckt, aber das ließ mit der Zeit nach und hörte schließlich ganz auf. Er scheint begriffen zu haben, dass die Nennung dieses Namens nicht mehr mit Strafe und Schmerz verbunden ist. Vielleicht sogar, dass es sein eigener Name ist. Wenn wir großes Glück haben, ist es Professor Dumbledore heute gelungen, ihm seine Identität wiederzugeben!

Die Zeit im Krankenflügel schien stillzustehen, solange Professor Dumbledore anwesend war und seine unendliche Ruhe und Geduld ausstrahlte. Selbst Madam Pomfrey, die fast immer eifrig und etwas hektisch herumwuselt, hielt ganz still. Lange, lange Zeit ließ der alte Herr seinen kranken Freund so, an seinen Oberkörper gelehnt, in seinem Arm und strich ihm mit der anderen Hand sanft über den Rücken. Während er mit seinem leisen "Severus... Severus..."-Gesumme fortfuhr, schien seine Hand einen Teil des übergroßen Kummers aus dem gequälten Menschen heraus zu streichen. Professor Snapes bisher ständig irgendwie schmerzverzerrtes Gesicht entspannte sich immer mehr. Albus Dumbledore muss wahrhaftig eine große Magie besitzen! Oder ist das gar keine Zauberei?

Irgendwann wagte ich näher zu treten und stellte fest: "Er schläft ja!"
"Schon lange", sagte Professor Dumbledore, "er ist erschöpft." Er hielt ihn dann noch eine ganze Weile, bis er ihn schließlich vorsichtig auf das Bett zurück legte, damit er sich ausruhen konnte. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft, sah Professor Snape im Schlaf friedlich aus. Sonst schienen ihn immer Alpträume zu quälen, und das werden sie sicher noch oft. Aber für heute fand er einmal Erholung und Ruhe.

Als Professor Dumbledore ging, folgte ich ihm hinaus bis auf den Gang. Er drehte sich zu mir um und blieb lächelnd stehen. Er fragte nicht, was ich wollte, sondern wartete einfach ab. "Jetzt geht es ihm besser", sagte ich ohne Einleitung, "Professor Dumbledore, wird er wieder richtig gesund?" Der Direktor legte mir eine Hand auf die Schulter und antwortete: "Das müssen wir abwarten, meine Liebe. Aber wir werden unser Bestes geben, nicht wahr? Er braucht jetzt das Beste von jedem von uns: die Erfahrung und Geduld des Alters, wie Madam Pomfrey sie hat, und auch den Optimismus der Jugend, wie Sie ihn haben." Ich blickte forschend in sein zugleich ernsthaftes und freundliches Gesicht, dann fragte ich: "Sie haben beides, nicht wahr?" Er sah mich einen Moment lang überrascht an, dann schmunzelte er und sagte: "Ja."


2. Oktober:

Mit Professor Dumbledores Füttermethode klappt es tatsächlich sehr gut! Mein Patient lässt sich bei den Mahlzeiten widerstandslos von mir halten. Ich spüre deutlich, wie viel Kraft ihn das Aufrechtsitzen noch kostet, denn er sinkt immer schon nach wenigen Minuten in meinem Arm zusammen und sein Kopf auf meine Schulter. Er ist halt noch sehr müde, und seine Muskulatur muss erst wieder aufgebaut werden, und außerdem spielt sein Kreislauf verrückt, wenn er nicht flach liegt. Ich kann ihn problemlos so halten, wenn ich auf der Bettkante sitze, und er ist immer noch wahnsinnig leicht. Häppchen für Häppchen flöße ich ihm die Aufbaunahrung ein, die Madam Pomfrey zusammengestellt hat. Sie enthält alle wichtigen Nährstoffe in hochkonzentrierter, aber leicht verdaulicher Form, Vitamine und eine spezielle Kombination magischer Heilkräuter. Zusätzlich zu dieser Nahrung bekommt er morgens und abends Medikamente, Heiltränke. Einen davon kann ich inzwischen schon allein brauen. Er muss jeden Abend ganz frisch zubereitet werden. Dann gibt es noch die Salbe für kreislauffördernde Einreibungen und Massagen, die Professor Sprout hergestellt hat.

Alle diese Arbeit tue ich sehr gerne. Ich halte ihn gern beim Füttern im Arm, und es fühlt sich schön an, wenn er sich anlehnt und sein Kopf auf meiner Schulter ruht. Ich mag dieses warme, schwere Gefühl auf der Schulter und in meiner Halsbeuge und wenn seine langen Haare auf meiner Haut kitzeln. Ein Mensch, so nah, so lebendig und so schutzbedürftig. So habe ich mir das Gefühl vorgestellt, wenn man für jemanden sorgen kann, und das will ich gerne mein ganzes Leben lang tun. Ich habe eben doch den richtigen Beruf gewählt, sie haben alle nicht Recht behalten mit ihrer Unkerei.


5. Oktober:

Heute waren wir wieder im Garten. Seit einigen Tagen darf unser Patient ab und zu nach draußen. Madam Pomfrey war zuerst strikt gegen meinen Vorschlag. Ich sei unvernünftig, das sei viel zu anstrengend für ihn. Aber ich habe regelrecht gebettelt und gesagt, es sind doch die letzten Sonnentage draußen, bevor es richtig Herbst wird, und dann kommen lange keine mehr. Und der arme Mensch hat die ganze warme Jahreszeit über in einem stockfinsteren, eisigen Loch gesessen. Meine Chefin blieb unnachgiebig, doch ich fand einen unerwarteten Beistand: Professor Dumbledore war gerade hereingekommen und hatte unser Gespräch mit angehört, und er war der Meinung, der Kranke brauche sogar sehr dringend Sonnenlicht und frische Luft, nicht nur zur Stärkung seines Körpers, sondern auch seiner Seele. Ihm wagte sie nicht zu widersprechen, und so sitzt unser Schützling (Dumbledore nannte ihn so und zwinkerte mir verschwörerisch zu) nun jeden Tag ein Weilchen in einem Liegestuhl in der Sonne, gut zugedeckt natürlich, auf dem Stückchen Rasen draußen vor dem Krankenflügel. Ihm selbst ist nicht anzumerken, ob es ihm gut tut oder ihn eher überfordert, aber ich hoffe doch, dass es die richtige Entscheidung war.

Ich habe mir heute einen Klappstuhl neben seinen Liegestuhl gestellt und mich zu ihm gesetzt, fest entschlossen, es endlich mit der "Kommunikationstherapie" zu versuchen. Ich dachte, vielleicht gelingt es mir draußen besser, in der schöneren Umgebung und vor allem, ohne Madam Pomfreys ständige Aufsicht. Ich machte also ein paar Versuche, ihn anzusprechen, aber ich kam nie viel weiter als bis: "Professor Snape..." Er wirkte total apathisch, keine Reaktion auf seinen Namen. (Wenigstens auch keine angsterfüllte mehr.) Irgendwann beschloss ich, etwas Neues zu wagen. Professor Dumbledore kam doch viel besser mit ihm voran, was machte der denn, was ich nicht tat? War es wirklich allein die Tatsache, dass die beiden alte Freunde waren? Oder war es irgendetwas an Professor Dumbledores Berührungen, seinem "Severus"-Gesumme? Severus! Natürlich! So nannte er ihn! Darauf reagierte er. Das war die Identität, die Professor Dumbledore ihm gegeben hatte, nicht "Professor Snape"! Also zum Teufel mit all dem Respekt vor dem großen Meister der Zaubertränke, er ist nicht mehr mein Lehrer, dies hier ist erst einmal nur ein Mensch namens Severus, und der braucht schnellstens Hilfe. Madam Pomfrey ist nicht hier draußen, sie hört nicht, ob ich ihn "Severus" nenne, und sie sieht nicht, ob ich ihn umarme. Und das tat ich also...

Ich legte meine Arme um ihn. Keine Reaktion, immerhin auch kein Widerstand. Er saß einfach steif da und starrte weiter geradeaus. "Severus", sagte ich leise, "hallo, Severus..." Eine leichte Bewegung seines Kopfes. Er richtete seinen Blick auf mich! Ein staunender, fragender Ausdruck in seinen Augen. (Seine Augen, die wieder gesund und so schön sind, wie ich sie in Erinnerung hatte; das Sonnenlicht hat ihnen nicht geschadet, im Gegenteil!) "Severus!" jubelte ich und hatte Freudentränen in den Augen, was mir einen noch verwirrteren Blick von ihm eintrug. Dann sprach er zum ersten Mal mit mir! "Mein Name ist Severus", sagte er langsam. Ich nickte eifrig: "Ja, das ist dein Name, Severus. Mein Name ist Pamina." Er dachte nach, dann sagte er leise: "Pamina... ‚die immerwährende Vollmondnacht'." Seine dunkle, samtige Stimme klang wie von weit her. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus! Da hatte ich bis eben noch gezweifelt, ob sein Verstand überhaupt wach war, und er wusste sogar die Bedeutung meines äußerst seltenen, alten, griechischen Namens. Natürlich, in seinem Fach beherrscht er Griechisch und Latein. Das meine ich nicht. Aber dass er so klar denkt!

"Ja", bestätigte ich, "das ist die Bedeutung meines Namens. Pamina. Pamina Patil. Ich war deine Schülerin. Erinnerst du dich an mich?" Langsam schüttelte er den Kopf und sah mich etwas hilflos an. Das war also noch zuviel verlangt. Sein Verstand und sein Wissen sind da, nicht aber seine persönlichen Erinnerungen. Das muss ein Schutzmechanismus sein. Er verdrängt die Erlebnisse in Askaban und alles andere gleich mit. Aber er kann und darf Askaban nicht verdrängen, weil es ihn sonst zerstören wird. Er muss doch reden! Ich muss ihn dazu bringen, und zwar schnell! Es muss heraus aus ihm, bevor es untrennbar mit ihm verbunden ist, wie ein Draht, der schmerzhaft in die Rinde eines Baumes einwächst. Ich war fest entschlossen, es jetzt zu schaffen. Jetzt und hier.

"Severus", sagte ich sanft und schlang meine Arme fester um ihn, lehnte ihn an mich, wie ich es beim Füttern tue, so dass er mich bei diesem schweren Gespräch nicht ansehen musste, "Severus, du warst in Askaban. Erinnerst du dich: Askaban?" Das Zittern, das durch seinen Körper lief, war auch eine Antwort. "Keine Angst", flüsterte ich, "du bist nicht mehr dort. Du musst nie wieder dorthin." Das Zittern hielt an. "Sie haben dir sehr weh getan", sprach ich behutsam weiter. Kein Wort von ihm, aber das Zittern wurde stärker. Ich hätte es ihm gerne erspart, aber es musste sein. "Severus", sagte ich traurig, "armer Severus. War es sehr schlimm?" Natürlich war das eine dumme Frage, aber ich wusste es nicht anders in Worte zu fassen. Und offenbar erreichte es ihn, denn ich spürte ein Nicken seines Kopfes, den er an mir vergraben hatte, und ein Zucken seiner Schultern, und nach und nach Nässe an meiner Bluse. Ich schlang meine Arme noch fester um ihn und blieb einfach so sitzen, sagte selbst kein Wort mehr.

Ich hatte nicht gemerkt, dass Professor Dumbledore hinter mir stand. Erst als er leise "Bravo!" sagte, hob ich meinen Kopf und sah ihn. Im ersten Moment fürchtete ich, ich hätte etwas falsch gemacht, und es sei eine ironische Bemerkung gewesen. Doch er sah mich so freundlich an, dass ich diesen Gedanken gleich wieder verwarf. "Es muss aus ihm heraus", sagte er, als wüsste er sehr genau, was meine Absicht gewesen war, "und wenn es aus seinen Augen herausfließt, statt aus seinem Mund, dann ist das beinahe ebenso gut, glauben Sie mir."

Ich stellte fest, dass Severus schlief, vermutlich schon seit einer ganzen Weile, und bettete ihn vorsichtig auf seine Liege. Professor Dumbledore nahm mich einen Moment beiseite und lobte mich noch einmal, bis ich ganz verlegen wurde. "Dank Ihrer Fürsorge geht es ihm schon viel, viel besser", versicherte er mir.
"Aber er ist so schwach", entgegnete ich.
"Schwach?" fragte Dumbledore, "Severus? Täuschen Sie sich nur nicht! Severus ist sehr stark, meine Liebe, sonst hätte er unter solchen Bedingungen gar nicht so lange überlebt."
Ich dachte darüber nach und musste ihm recht geben. Die wenigsten Menschen hätten nach Monaten in diesem Loch, diesem... Grab, noch gelebt. Professor Dumbledore legte mir eine Hand auf die Schulter, bevor er ging, und sagte: "Unterschätzen Sie niemals Severus!"


6. Oktober:

Professor Dumbledores Worte haben mich noch bis in die Nacht hinein beschäftigt. Sie haben etwas in mir ausgelöst. Er hat mich gezwungen, mir dieses Loch, in dem sie Severus lebendig begraben hatten, vorzustellen. Richtig bildhaft vorzustellen. Das und alles, was sie ihm angetan haben (manches konnten wir diagnostizieren, anderes nur erahnen). Es ist schrecklich, sich das auszumalen, aber es ist nur fair: Bevor ich Severus dränge, sich dem Grauen zu stellen, sollte ich mich selbst dazu zwingen. Aber ich werde nie wirklich wissen, wie es sich anfühlt; Severus weiß es leider. Und begreifen werde ich es wohl auch nie. Er auch nicht, und niemand. Dieses "Warum?" Sicher kann niemand nachvollziehen, was in den Leuten vorgegangen ist, die ihm das angetan haben. Und doch, es gibt Menschen, die das nicht nur verstehen würden, sondern die es sogar tun könnten. Getan haben, das ist der Beweis. Wie schrecklich, dass Menschen das können!

Das hat mich alles so verfolgt, dass ich zu Professor Dumbledore gegangen bin, bevor ich zur Arbeit erschien. Ich musste mit jemandem reden, sonst hätte ich mich auf keine Tätigkeit konzentrieren können. Er hat sich Zeit für mich genommen, obwohl er bereits so früh morgens an seinem Schreibtisch saß, über einen dicken Stapel Papiere gebeugt.
"Erzählen Sie mir mehr darüber!" bat ich. "Erzählen Sie mir, wer das getan hat, und warum!"
"Es war in der Hauptsache ein Mann namens Drywell", antwortete er, "ein Angestellter von Askaban, der ein eigentümliches Interesse an Severus hatte. Die allererste Zeit hat Severus noch in einer normalen Zelle unter ‚normaleren' Bedingungen zugebracht. Aber Drywell wurde bei den Verhören auf ihn aufmerksam und hat die persönliche Verfügungsgewalt über ihn beantragt - und bekommen. Sobald er in der Gewalt dieses Mannes war, hatte Severus mehr zu leiden, als jeder andere in Askaban. Soviel zu Ihrer Frage, wer es war. Ja, wir kennen den Täter, und dennoch wird er nie dafür bestraft werden. Denn zu all dem war Mister Drywell traurigerweise befugt und ist es weiterhin, bei anderen Gefangenen. Und die andere Frage, das ‚Warum?'..."

Ich war aber in Gedanken immer noch bei dem ‚Wer?'. "Drywell", murmelte ich, "wir hatten doch mal einen Schüler namens Drywell. Darwin Drywell, der war eine Klasse über mir." Dumbledore nickte: "Sein Sohn, er hat heute auch irgendein Pöstchen beim Ministerium."
Ich schüttelte den Kopf: "Ausgerechnte der! In der Schule war er ja nicht gerade eine Leuchte. Und frech war er auch, auf eine richtig unangenehme Art. Ich erinnere mich, dass er ständig Ärger mit Professor Snape hatte... Moment!" Ein fürchterlicher Gedanke überfiel mich. Eben war ich ganz in der Vergangenheit gewesen, so sehr, dass ich Severus als 'Professor Snape' bezeichnet hatte. Sobald ich mir aber ins Gedächtnis rief, dass ich von unserem Severus sprach, zog ich eine Verbindungslinie vom Gestern zum Heute. Gab es sie, die Verbindung? "Oh mein Gott, Professor Dumbledore", flüsterte ich, "er musste doch nicht deshalb so leiden?"

"Nein, nein!" beeilte er sich zu sagen, doch dann fügte er leise und weniger sicher hinzu: "Nein, das kann ich mir... das möchte ich mir nicht vorstellen. Obgleich der Sohn, wie aus den Akten hervorgeht, sogar an einigen der Verhöre beteiligt gewesen ist. Dennoch glaube ich, dass dieser Aspekt höchstens mit hineingespielt hat. Ich denke, es ging um etwas anderes."

"Aber um was?"
"Es war ein Machtkampf", erklärte er mir, "wie ich bereits sagte: Severus ist stark. Sehr stark. Es fragt sich nur, ob das für ihn in Askaban ein Vorteil oder ein Nachteil war."
"Ein Vorteil natürlich", meinte ich, "er hätte diese Tortur sonst nicht überlebt!"
"Er hätte diese Tortur sonst vielleicht gar nicht erlebt!" konterte Dumbledore, "verstehen Sie? Sie konnten es nicht ertragen, dass er so stark war, deshalb haben sie alles daran gesetzt, ihn zu vernichten. Sie sind es gewohnt, Menschen zu verbiegen, und da sie es bei ihm nicht konnten, wollten sie ihn brechen. Er war stolz, also wollten sie ihn auf Knien sehen. Er war stark, also wollten sie ihn schwächen. Seinen Körper konnten sie aushungern und austrocknen lassen, bis er nur noch ein Schatten seiner selbst war, seiner Seele von Dementoren die Kraft aussaugen lassen. Aber irgendwo tief innen drinnen war er immer noch stark, und das hat sie bis zur Weißglut gereizt. Es hat ihre Macht untergraben."
Ich glaubte zu wissen, wovon er sprach. "Ich habe darüber gelesen", sagte ich, "manche Gefangene bewahren sich auch unter extremsten Bedingungen ihren ‚Persönlichkeitskern'."
"Ja", sagte er, "darum ging es, das konnten sie nicht zulassen. Aber ich glaube, wenn wir ihn nicht herausgeholt hätten, dann wäre er eher gestorben, als sich aufzugeben. Sie hätten ihn töten können, aber nicht besiegen."

"Ich verstehe es trotzdem nicht", sagte ich traurig, nachdem ich darüber nachgedacht hatte, "wie konnten sie so kalt und gefühllos zusehen, wie schlecht es ihm ging, und ihn immer noch mehr quälen, nur wegen diesem sinnlosen Machtkampf? Nur weil Mister Drywell seinen Gefangenen ganz und gar schwach und hilflos sehen wollte, oder vielleicht Darwin seinen Lehrer?"

"Es war eine Herausforderung", sagte Professor Dumbledore, "so unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind die Herausforderungen, die sie antreiben. Für Sie, Pamina, ist es die größte Herausforderung, einem leidenden Wesen zu helfen und es zu stärken. Deshalb haben Sie Ihren Beruf gewählt. Für Leute wie Drywell ist es die größte Herausforderung, einen starken Menschen zu demütigen. Deshalb hat er seinen Beruf gewählt. Seien Sie froh darüber, meine Liebe, und stolz darauf, dass Sie so etwas nicht verstehen!"


15. Oktober:

Die letzten Tage waren wunderschön. Ich bin gar nicht zum Schreiben gekommen, weil ich in meiner Freizeit meist unten im Krankenflügel geblieben bin. Mit Severus geht es steil bergauf, und man kann jetzt schon richtig viel mit ihm "anfangen". Er kann länger draußen bleiben und herumlaufen, muss nicht mehr ständig im Liegestuhl sitzen. Wir machen kleine, vorsichtige Spaziergänge im Garten, wenn das Wetter schön ist. Zum Glück haben wir dieses Jahr einen traumhaften "goldenen Oktober". Man kann sich auch gut mit Severus unterhalten. Ich kann nicht finden, dass er so schweigsam ist, wie alle immer behauptet haben. Und unfreundlich ist er auch nicht, oder "aufbrausend", oder was man ihm alles im Laufe der Zeit so angedichtet hat (na ja, oder wie er manchmal im Unterricht gewirkt hat)! Er ist ein ganz ruhiger, höflicher Mensch und ein sehr anregender Gesprächspartner. Über was für Sachen man mit dem reden kann! Viel interessanter als das, was man mit den meisten Menschen so an Belanglosigkeiten austauscht. Severus weiß nicht nur viel über Zaubertränke, er hat auch noch ganz andere Themen auf dem Kasten, da kann ich immer wieder nur staunen. Er redet mit derselben Gewandtheit über die dunklen Künste, über Kultur und über Philosophie und was weiß ich noch alles. Gibt es überhaupt irgendetwas, wovon er keine Ahnung hat? Ich kann es ja nicht immer beurteilen, aber es hört sich alles sehr klug an, was er sagt. Ich könnte ihm den ganzen Tag zuhören. Es ist einfach faszinierend, und seine Stimme hat einen unvergleichlichen Klang.

Ich brauche also nicht mehr zu betonen, dass er bei vollkommen klarem Verstand ist. Gemerkt habe ich das schon letzte Woche, und das war so: Ich war gerade dabei, seinen abendlichen Heiltrank zuzubereiten. Severus lag hinten in seinem Bett, wie zu dem Zeitpunkt noch fast ständig - dachte ich. Ich schnitt gerade einige Baldrianwurzeln. Die werden abends dem Trank beigefügt, damit Severus nachts erholsamen Schlaf findet und nicht so viel von seinen schrecklichen Alpträumen gequält wird. Ich schneide also diese Wurzeln in dünne Scheiben, als ich plötzlich einen sanften Druck auf meiner Hand spüre und vor Schreck zusammenzucke. Ich fahre herum und traue meinen Augen nicht: Severus steht direkt hinter mir, und seine Hand liegt auf meiner.

Zu dem Zeitpunkt war es noch etwas ganz Unglaubliches, dass er allein aus dem Bett aufstand und herumlief. Ich hätte nicht gedacht, dass er es ohne Hilfe vom Bett bis zu meinem Arbeitstisch herüber schafft. Und noch weniger hatte ich damit gerechnet, dass er mich ansprechen würde. Bis zu dem Tag hatte er so gut wie gar nicht gesprochen, und wenn, dann waren es wenige Worte, um seine lebensnotwendigsten Bedürfnisse zu äußern. Seine Stimme klang auch immer, als käme sie von ganz weit her, so als wäre er noch nicht richtig bei sich. Aber jetzt war sie klar und deutlich, und er sagte: "Du willst die Wurzeln nicht wirklich so grob geschnitten in den Trank geben, nicht wahr? Kein Wunder, dass ich nachts schlecht träume." Sprachlos vor Staunen, ließ ich zu, dass er mir das Messer und die Wurzel aus der Hand nahm. Ich trat einen Schritt beiseite und beobachtete ihn, wie er hauchdünne Scheibchen produzierte, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Seine Arbeit war sehr präzise, obwohl ich sehen konnte, dass seine Hände, sowie auch seine Beine, vor Anstrengung leicht zitterten. Ich ließ meinen Blick über seinen ganzen Körper wandern und stellte zufrieden fest, dass er bereits wieder einiges auf den Rippen hat. Sein Pyjamaoberteil ließ ein paar kleine Blicke auf seinen Oberkörper zu.

Oh ja, der Pyjama, das ist auch eine Geschichte für sich! Am Tag zuvor war ich nämlich in Hogsmeade gewesen. Madam Pomfrey hatte darauf bestanden, dass ich mal einen Tag rauskomme und mir etwas Gutes gönne. Sie hat mir sogar einen Gehaltsvorschuss ausgezahlt und aus eigener Tasche ein wenig aufgestockt, damit ich mir etwas Schönes kaufen sollte. Ich ging also zum ersten Mal mit (größtenteils) selbstverdientem Geld einkaufen, was für ein Gefühl! Hab mir ein paar Klamotten gekauft, aber keine Süßigkeiten oder Scherzartikel mehr. So etwas kaufen sich kleine Kinder von ihrem Taschengeld. Stattdessen bekam ich Lust, etwas für jemand anderen zu kaufen. Etwas Größeres als nur mal eine Packung Schokofrösche. Das ist auch ein ganz neues Gefühl für mich, mir das leisten zu können.

Ich stand in dem Kleidergeschäft, wo ich mir gerade einen Rock gekauft hatte, und mein Blick fiel auf die Abteilung mit der Nachtwäsche. Mir fiel ein, dass Severus das Krankenflügel-Nachthemd zu hassen scheint. Er hat zwar nichts gesagt, aber man sieht ihm an, dass er es verabscheut. Diese weißen Hemden, die wir da haben, sind aber auch potthässlich! Jeder Patient sieht darin aus wie ein Gespenst, selbst wenn er nicht todkrank ist. Ich hätte ihm ja etwas aus seinem Kerker holen können, aber viel besser gefiel mir plötzlich der Gedanke, ihm hier etwas zu kaufen. Es gab dort sehr schöne Pyjamas aus schwarzem Satin, die mir sofort ins Auge fielen. Er trägt doch so gern schwarz. Nur wegen der Größe war ich mir nicht sicher. Ich fragte geradeheraus die Verkäuferin, ob sie wüsste, welche Kleidergröße Severus Snape hätte. Ja, sie wusste es, denn wie ich es mir gedacht hatte, ist auch er dort Kunde. Aber wie die mich angeguckt hat, das war einfach göttlich! Allein dafür hat sich der Kauf schon gelohnt. Billig war das Teil ja wirklich nicht. Aber es hat mir Freude gemacht, es ihm zu schenken, und es steht ihm wirklich sehr gut. Severus in schwarzem Satin, ja, das hat was.

Ach so, aber ich war bei dem Tag, als er die Wurzeln geschnitten hat. Er beherrschte und konzentrierte sich eisern, bis er sein Werk vollendet hatte. Danach brach er aber vor Erschöpfung fast zusammen, und ich habe ihn schnell zurück zu seinem Bett gebracht. Trotzdem, ich glaube, es hat ihm sehr gut getan.

Seitdem habe ich ihm immer wieder mal etwas mitgebracht. Also, nichts neu Gekauftes mehr, ich habe ja noch nicht viel Geld. Aber ich habe ihm Sachen aus seinem Kerker besorgt, die er gern haben wollte. Zum Beispiel seinen Umhang, damit er auch bei etwas kühlerer Witterung nach draußen kann. (Ich glaube aber, er wollte den Umhang nicht nur deshalb. Er fühlt sich einfach wohler, wenn er ihn hat.) Oder auch einige seiner Bücher und Zaubertrankzutaten. Das darf aber Madam Pomfrey nicht wissen. Wenn er liest, sagt sie, er überanstrengt sich. Und dass er in ihrem Arbeitsbereich Tränke mischt, dass würde sie schon überhaupt nicht dulden. Da ist sie sehr eigen. Ich finde aber, es tut ihm gut, und deshalb habe ich ihm dazu verholfen.

Madam Pomfrey überlässt mir die Sorge für Severus zum großen Teil allein, seit es ihm besser geht. Wenn sie dann im anderen (öffentlichen) Bereich des Krankenflügels arbeitet, gebe ich Severus heimlich seine Bücher oder lasse ihn ein bisschen das Labor benutzen. Er blüht dabei förmlich auf. Manchmal weiß ich wirklich besser als Madam Pomfrey, was gut für ihn ist. Heute hat er etwas Lustiges gesagt! Ich hatte Madam Pomfrey mit einem Trick aus dem Zimmer rausgelockt (ich gebe zu, ich habe die Krankenakten absichtlich ein wenig unordentlich geführt, so dass sie sie korrigieren musste...) und habe Severus so zu einem Stündchen Lesezeit verholfen. Er soll doch hier nicht geistig verhungern, so wie er es in Askaban körperlich musste! Das muss schrecklich sein, für einen so intelligenten Menschen wie ihn. Aber Madam Pomfrey sieht in erster Linie nur den Körper ihrer Patienten, nicht alles andere, was zum Menschen gehört. Na ja, jedenfalls war er sehr froh über meine Hilfe. Er hat leicht gegrinst (und das ist selten bei ihm!) und hat zu mir gesagt: "Pamina, du bist meine Komplizin."


17. Oktober:

Ich habe heute jemanden geschlagen. Ich, Pamina, die brave Hufflepuff, die fürsorgliche Medihexe! Und ich kann nicht behaupten, dass ich mich dafür schäme. Ron soll sich schämen (dieser rothaarige Freund meiner Schwestern)! Als ich heute über den Hof ging, um Kräuter aus dem Gewächshaus zu holen, bin ich Padma und Parvati und ein paar anderen Schülern begegnet. Sie haben mich ausgefragt, wie es Severus gehe. Ich habe nicht viel erzählt, das darf ich ja auch gar nicht. Hab nur gesagt: "Inzwischen geht es ihm besser. Aber als er aus Askaban kam, war er schrecklich zugerichtet." Da hat dieser Ron wohl gemeint, es wäre unglaublich cool, eine dumme Bemerkung zu machen. Er hat die anderen angegrinst, und dann hat er gesagt: "Na, endlich hat ihn mal jemand richtig behandelt." Na ja, und dann hatte er meine Hand im Gesicht.

Ich weiß nicht, was weiter geschehen wäre, wenn Professor Dumbledore nicht gerade vorbei gekommen wäre. Die anderen sind abgehauen, als er kam, und ich blieb stehen und habe ihm die ganze Sache erzählt. Es war mir egal, ob er mit mir schimpfen würde. Aber er legte nur freundlich seinen Arm um mich, ging mit mir ein paar Schritte und versuchte etwas Verständnis für Ron bei mir zu erwecken: "Er hat es sicher nicht so böse gemeint, wie es sich angehört hat. Das wäre schon wirklich sehr böse, nicht wahr? Er ist noch ein unvernünftiger Junge und weiß nicht immer, was er redet. Und vor allem: Er hat nicht gesehen, was sie mit Severus gemacht haben! Sonst würden ihm solche Sprüche im Hals stecken bleiben." Aber nach diesen begütigenden Worten machte er eine kurze Pause, beugte sich zu meinem Ohr herunter und flüsterte: "Trotzdem danke, dass Sie es getan haben. Ich darf ja nicht."


22. Oktober:

Und wieder sind ein paar Tage vergangen, und sie waren wunderschön und ich zu beschäftigt, um zu schreiben. Doch heute muss ich erzählen, denn wir hatten ein denkwürdiges Gespräch.

Wir hatten ein paar Runden durch den Garten gedreht, wie jeden Tag. Es ist immer noch sonnig, wenn auch nun von Tag zu Tag merklich kühler und etwas windig. Auf unserer Lieblingsbank unter der alten Eiche setzten wir uns hin, damit er sich etwas ausruhen konnte, und führten unsere anregende Unterhaltung über Heiltränke weiter. Doch irgendwann brach er das Gespräch ab und schwieg eine ganze Weile, und es war etwas in diesem Schweigen, was mich davon zurückhielt, es zu unterbrechen. Er hatte den Kopf gesenkt und sah auf seine rechte Schuhspitze, mit der er in den herabgefallenen, goldgelben Eichenblättern stocherte. Ich spürte, wie ich nervös wurde, ohne den Grund zu kennen. "Pamina", sagte er nach einer langen Zeit, leise und ohne aufzublicken, "ich bin dir zu großem Dank verpflichtet." Aber irgendwie klang es, als sei es nichts Gutes, was er sagte. Instinktiv wiegelte ich ab: "Ach, nicht doch, wofür? Für ein paar Bücher, die ich an Madam Pomfrey vorbei geschmuggelt habe?" Ich versuchte zu lachen.

Er hob den Kopf, und sein Gesicht war sehr ernst, seine Augen geradezu traurig, als er mich ansah. "Ja, zum Beispiel. Dafür dass du meine Komplizin bist und dafür sorgst, dass ich alles bekomme, was ich brauche. Und für wochenlange Pflege, für all die manchmal unangenehmen Arbeiten, die das mit sich bringt, für ständiges Da-Sein, Tag und Nacht, für stundenlange Gespräche, alles in allem für die Rettung meines Lebens..."
Ich zog etwas hilflos die Schultern nach oben: "Wenn du es so sehen willst... Und wo liegt das Problem?" Denn dass da eines war, spürte ich deutlich.
"Ich war noch nie gut im Dankbar-Sein", antwortete er, "ich hasse es, in jemandes Schuld zu stehen. Und leider resultiert daraus meistens, dass ich denjenigen hasse. Es hat schon einmal jemand mein Leben gerettet, als ich noch sehr jung war, jünger als du jetzt. Und ich kann nicht behaupten, dass ich denjenigen mag. Gelinde ausgedrückt. Aber dich mag ich. Zu gern, um dir das zumuten zu wollen. Ich will dich nicht hassen."
"Müsstest du das denn?"
Er nickte seufzend: "Ich fürchte, ja. Ich kenne mich, besser als mir lieb ist. Du kennst das Zauberergesetz: Wenn ein Zauberer einem anderen das Leben rettet, dann gehört dieser ihm quasi für den Rest seines Lebens, so tief steht er in seiner Schuld. Und das, nein... ich kann es nicht ertragen! Später hat noch einmal jemand mein Leben gerettet: Albus. Ihn hasse ich nicht. Aber er durchschaut mich auch zu gut und hat dem vorgebeugt. Er erlaubt mir, etwas für ihn zu tun, was seine Tat wieder aufwiegt. Ich habe vielfach mein Leben für Albus riskiert, und deshalb fühle ich mich ihm gegenüber frei. Das ist alles schwer zu begreifen, nicht wahr?" Er seufzte wieder tief. "Ich begreife es ja selbst nicht wirklich, ich weiß nur, dass es so ist. Und du... Du tust so viel für mich, und ich bin nur ein Kranker, immer noch schwach und ohne jede Möglichkeit, mich zu revanchieren. Ich habe nichts, was ich für dich tun oder was ich dir geben könnte. Nichts. Ich ertrage das nicht."

Ich habe ihn nur angeschaut und versucht, das Ganze zu kapieren. Denkt er denn wirklich, ich würde mich für ihn aufopfern und würde nur geben und nichts bekommen? Weiß er denn nicht, wie viel mir das Zusammensein mit ihm gibt, jedes Gespräch und alles? Ich suchte nach den richtigen Worten, um ihm das begreiflich zu machen. Schließlich versuchte ich es auf eine etwas seltsame Art. Ungewöhnliche Menschen erfordern ungewöhnliche Mittel.

"Du denkst also, du gibst mir nichts?" fragte ich. "Dann will ich dir eine Geschichte erzählen. Ich weiß nicht mehr alle Einzelheiten, aber wahrscheinlich kennst du sie auch, es ist ein altes Märchen. ‚Der Kaiser und die Nachtigall'. Nur soviel: Der Kaiser von China wurde sehr, sehr krank. Er war sehr schwach und konnte nur noch im Bett liegen, und sein ganzer Hofstaat konnte ihm nicht helfen. Alle hatten Angst, er würde sterben. Nur er nicht. Er wünschte sich, zu sterben. Denn er war ein sehr trauriger Mann. Und der Tod kam immer und hockte schwer auf seiner Brust, so dass er kaum noch atmen konnte und flüsterte ihm zu, wie schön und friedlich es im Garten des Todes wäre, bis er immer mehr Sehnsucht danach bekam. Aber es gab da eine kleine Nachtigall im Reich des Kaisers. Sie war einmal in seinem Besitz gewesen, aber sie war geflohen. Denn als der Kaiser noch stark war, war er ein harter Mann, mächtig und streng und gewohnt, dass man ihm gehorchte. Wenn er sagte, sie sollte für ihn singen, war es keine Bitte, sondern ein Befehl, und es klang ziemlich unfreundlich. Deshalb war sie ihm entflogen. Aber jetzt, als es ihm so schlecht ging, kam sie zurück. Sie setzte sich an sein offenes Fenster und sang für ihn, nur weil sie es wollte. Sie sang und sang, und er lag in seinem Bett und lauschte und ihm kamen die Tränen. Und die Nachtigall sang dem Tod, der auf seiner Brust hockte, etwas vor, ein süßes, lockendes Lied über seine eigenen Gärten, bis er schließlich selbst solche Sehnsucht danach bekam, dass er durch das Fenster davon schwebte. Dem Kaiser wurde plötzlich ganz leicht, er konnte wieder atmen und wurde bald wieder stark und gesund. ‚Du hast mir das Leben gerettet, kleine Nachtigall', sagte er, ‚wie soll ich dir dafür danken? Womit soll ich dich bezahlen? Wünsch dir aus meiner Schatzkammer, was du willst!' Aber die kleine Nachtigall antwortete: ‚Ich bin schon bezahlt. Ich habe einen Schatz bekommen, den kein anderer in deinem ganzen Reich besitzt: Ich habe Tränen in den Augen des Kaisers gesehen.'"

Als ich meine Erzählung beendet hatte, sah ich Severus in die Augen, und sein Blick sagte er mir, dass er sie verstanden hatte. "Du meinst also, ich gebe dir etwas?" fragte er nach einigem Nachdenken, und das zu akzeptieren schien ihm viel schwerer zu fallen, als den bloßen Sinn der Worte zu begreifen.
"Ja", antwortete ich ruhig und fest, "sehr viel. Soviel, dass es ein Leben aufwiegt. Du bist mir nichts schuldig geblieben." Severus erhob sich von der Bank und schlurfte mit den Füßen durch die Blätter, dass sie raschelten. "Dann muss ich das wohl glauben", sagte er, "begreifen kann ich es aber nicht. Das musst du mir nachsehen. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand freiwillig länger in meiner Nähe bleibt als notwendig und das noch als... als... Geschenk empfindet."
Ich lächelte. "Es hat auch niemand verlangt, dass du es begreifst", konterte ich, "du mutest mir ja auch zu, dich so zu nehmen, wie du bist, ohne es zu begreifen. Nicht wahr? All das mit der Dankbarkeit, die du nicht ertragen kannst usw."
Er grinste ganz leicht: "So, so. Aha. Nun ja, diese Argumentation ist schwer zu widerlegen. Also gut, Komplizin." Er streckte die Hand aus, und ich ergriff sie und ließ mich hochziehen. Schweigend setzten wir unseren Spaziergang fort. Aber dieses Mal war das Schweigen nicht bedrückend und machte mich nicht nervös.


1. November:

Ich weiß, ich habe lange nicht geschrieben...

Heute habe ich Professor Dumbledore auf dem Hof getroffen. "Na", fragte er, "wie geht es mit Severus voran?" Ich habe etwas irritiert nachgefragt, was genau er meint. Er hat geschmunzelt und geantwortet: "In jeder Hinsicht." Da habe ich beschlossen, ein Stück mit ihm zu gehen und über einiges zu reden. "Körperlich geht es ihm von Tag zu Tag besser", berichtete ich, "er muss aber noch weiter zu Kräften kommen. Und was das Seelische angeht, na ja... Wir sind uns sehr nahe gekommen. Ich hoffe, Sie verstehen das nicht falsch. Ich will damit sagen, wir sprechen auf eine sehr vertraute Art miteinander, über alle möglichen Themen, aber mittlerweile auch über seine Erlebnisse in Askaban. Ich hätte das zuerst nicht zu hoffen gewagt."

Ja, er hat mir tatsächlich einiges erzählt. Und ich gestehe, dass ich meinem Vorsatz untreu geworden bin, jedes medizinisch relevante Detail in diesem Tagebuch festzuhalten. Ich bin zu feige, es tut zu weh. Ich kann und will nicht schildern, wie es sich anfühlt, wenn die Isolation dich auffrisst oder der Durst dich langsam verbrennt oder Peitschenhiebe dich zerfetzen oder Dementoren dir schleichend die Seele aussaugen oder... Nein, ich kann es nicht, denn ich habe es nicht selbst erlebt, und mir fehlen die Worte, und ich will es nicht, denn was man schreibt, greift einen nachhaltiger an, als was man nur hört.

Ich ging auch gegenüber Dumbledore nicht ins Detail. Ich sagte stattdessen: "Das ist viel wert für seine Heilung, nicht wahr? Aber in den letzten Tagen stoße ich immer wieder an eine unsichtbare Grenze. Ich weiß auch nicht, wie ich Ihnen das beschreiben soll. Erst war er so offen, und plötzlich verschließt er sich wieder. Ich habe versucht, über andere Dinge mit ihm zu sprechen. Über das Leiden im allgemeinen, über Einsamkeit, über das Böse, denn das beschäftigt mich, seit ich weiß, dass es Unmenschen wie die Drywells gibt. Ich habe ihn in dem Zusammenhang nach allem möglichen gefragt, nach schwarzer Magie und bösen Flüchen wie dem Cruciatus, aber auch danach, in welchen ganz alltäglichen Formen wir Leid oder Grausamkeit erleben oder einander zufügen. Es sollte einfach eines dieser philosophischen Gespräche werden, wie wir sie oft führen. Ich habe aus meinem bisschen Lebenserfahrung erzählt und wollte auch von ihm etwas dazu hören, was er erlebt hat (außer Askaban, meine ich). Aber plötzlich kam gar nichts mehr von ihm. Kein Erfahrungsbericht, keine erkennbare Gefühlsregung, keinerlei allgemeine Gedanken zum Thema. Seit Tagen schweigen wir uns sozusagen an. Es tut mir weh, weil wir uns schon so nahe waren. Haben wir uns denn nichts mehr zu sagen?"

Professor Dumbledore versuchte mich zu beruhigen: "Nein, ich glaube nicht, dass dort das Problem liegt. Sie werden sicher noch viele Gespräche miteinander führen. Lassen Sie ihm Zeit und vor allem... hm... wählen Sie die Themen mit Bedacht! Fragen Sie ihn nach ein paar schönen Zaubertränken, und er wird den Mund schon wieder aufkriegen. Lassen Sie ihn mit all seinen schrecklichen Erlebnissen in Ruhe, Pamina, er hat darüber geredet, und das war wichtig und heilsam, aber er hat doch genug gelitten, nicht wahr? In Askaban und jetzt, in dem er es noch einmal durchlebt hat."

Er hatte ja recht, aber ich versuchte ihm begreiflich zu machen, was ich meinte (und selbst nicht recht begriff): "Ja, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich nicht alles von der Seele geredet hat. Nicht genug, damit er wirklich gesund werden kann. Als ich begann, mit ihm über das Schlimme zu reden, war es, wie wenn man in lockerer Erde wühlt, um etwas Verschüttetes auszugraben. Ich kam gut voran. Aber jetzt ist es, als ob ich plötzlich mit der Schaufel auf Zement stoße und nicht weiterkomme. Doch ich habe das Gefühl, dass unter dem Zement noch eine Leiche begraben liegt."

"Das mag sein", sagte Professor Dumbledore seufzend, "aber es ist eine alte Leiche, ein versteinertes, verhärtetes Fossil. Sie werden nicht bis dahin vordringen, niemals. Er hat über das, was zuletzt geschehen ist, geredet, solange er noch konnte, und das ist gut. Aber all das andere... Pamina, diese Leiche liegt dort, seit Severus ein Kind war, und viele haben neue Erdschichten darüber aufgehäuft und festgetreten. Der eigentliche Mörder ist vielleicht ein mächtiger Zauberer, der ihn verlockt und missbraucht und gequält hat. Aber das Schlimmste waren wohl die vielen kleinen Schritte und Fußtritte, mit denen andere ihn bis dorthin getrieben und dann darauf herumgetrampelt haben: Mitschüler, seine Lehrer, seine Schüler, Kollegen, viele Menschen, zu viele. Lassen Sie es gut sein, mein Kind, daran rühren Sie nicht mehr. Sie haben Großes geleistet, wenn Sie uns den Severus zurückgegeben haben, wie er vor Askaban war. Den kleinen Jungen, der vor langer, langer Zeit in ihm gestorben ist, den bringen Sie nicht zurück. Der liegt da unten begraben, versteinert."


13. November:

Ich bin Professor Dumbledore so dankbar für seine Ratschläge von neulich! Er hatte Recht: Wenn ich die schrecklichen Themen weglasse (über die wir ja wirklich genug geredet haben), dann können Severus und ich wieder stundenlang die wunderbarsten Gespräche miteinander führen. Dass wir das täglich tun, sieht man schon daran, wie lange ich keine Zeit mehr zum Schreiben hatte. Dabei wäre jedes Wort, das wir wechseln, es wert, festgehalten zu werden. Unsere Unterhaltungen sind manchmal voller Tiefgang, manchmal auch einfach leicht und unbeschwert. Ich habe Severus in den letzten Tagen oft lächeln, sogar lachen gesehen. Das ist eine noch schönere Belohnung für die "Nachtigall", als Tränen in seinen Augen erblickt zu haben. Dieser Mann, der nicht nur zuletzt so furchtbare Dinge erleben musste, nein, den auch vorher schon alle Welt nur als verbissen und verschlossen kannte, lässt sich einfach fallen, öffnet sich, vertraut - MIR!

Und ich? Ich genieße jeden Augenblick, sauge seine Worte in mich auf, suche, das gebe ich zu, jede seiner kleinen Berührungen, einfach seine Nähe. Ich bin zu unerfahren, um diesem Zustand einen Namen geben zu können. Oder ist es wirklich... was man "Liebe" nennt? Wenn sie sich nicht so anfühlt, wie dann? In seiner Nähe ist es wie im Himmel, eine Steigerung ist nicht denkbar, also muss es das wohl sein, und was immer es ist, ich will nur noch das und nichts anderes. Ich könnte mein Leben und die Ewigkeit damit zubringen, mit ihm in diesem Garten auf und ab zu gehen, unserem kleinen Paradies. Und keine Schlange wird uns daraus vertreiben, nicht wahr, die Schlangen sind doch seine Freunde? Immerhin ist er der Höchste von Slytherin.

Uns macht es nichts aus, dass der Wind draußen eisig geworden ist und der Winter naht. Severus ist viel stärker geworden, er hält das gut aus, und wir geben uns gegenseitig genug Wärme. Unser Paradies ist zu jeder Jahreszeit schön. Immer, für immer. Severus´ Haut ist weiß wie der Schnee, den man in der Luft schon riechen kann. Seine Augen sind schwarz wie die Nacht, und es glitzert und funkelt darin wie die Sterne am Winterhimmel. Sein Haar und sein Umhang flattern im kalten Wind wie die schwarzen Segel eines Freibeuterschiffes im Eismeer. Aber wenn seine schlanken Finger leicht und wie zufällig über mein Gesicht streichen, ist ihre Berührung sanft und warm wie der Frühlingswind. Der Duft seiner Haut ist wie die Blüten des Frühlings, wie die Hitze des Sommers, wie die Melancholie des Herbstes und wie die Klarheit des Winters. Er verspricht... alles. Mein Gott, wie schreibe ich denn heute? So kenne ich mich gar nicht. Kann mir mal jemand sagen, was mit mir los ist? Werde ich neuerdings poetisch, oder... was?


21. November:

Nein!
NEIN!!!

Hat nicht jemand ein Stundenglas, damit ich die Zeit zurückdrehen kann? Nur um einen Tag? Nur einen einzigen Tag zurück, bitte, das ist doch nicht viel, aber für mich wäre es viel: der Weg aus der Hölle zurück ins Paradies.
Ich muss mich zwingen, meine Gedanken zu ordnen und alles der Reihe nach aufzuschreiben.

Heute früh war die Welt noch in Ordnung. Was heißt "in Ordnung"? Wunderschön war sie! Ich hatte Severus seine morgendliche Medizin gegeben und sein Bett gemacht, er war nebenan und nahm ein Bad. Ich freute mich schon auf unseren Gartenrundgang. Hinter der alten Eiche hatten wir ein Nest seltener Giftpilze entdeckt, und heute wollten wir wieder nach ihnen sehen, und Severus wollte mir alles über ihre Anwendung erzählen. Ich öffnete ein Fenster des Krankenflügels zum Lüften, sah zu, wie sich der Morgennebel in unserem Garten langsam lichtete und war durch und durch glücklich. Madam Pomfrey kam herein und lobte mich, sie sei mit meiner Arbeit sehr zufrieden. Das tat mir natürlich auch sehr gut.

Dann stand plötzlich Severus in der Tür zum Badezimmer, in einen langen Bademantel gehüllt, unwiderstehlich, duftend und mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ich strahlte ihn an und erkundigte mich nach dem Grund seiner guten Laune. "Ich habe mich gerade im Spiegel gesehen", antwortete er mit einem stolzen und etwas frechen Grinsen, "und ich muss sagen, ihr zwei habt mich gut wieder hingekriegt. Man sieht mir Askaban gar nicht mehr an, stimmt´s? Ich finde, ich sehe richtig gut aus. Und so fühle ich mich auch. Stark und gesund und unternehmungslustig. Es wird Zeit, dass ich den Krankenflügel verlasse."

Mir muss in dem Moment alle Farbe aus dem Gesicht gewichen sein, wenn es so etwas wirklich gibt. Der Schock traf mich wie ein Faustschlag, völlig unvorbereitet. Natürlich, wenn ich jetzt darüber nachdenke, hätte ich darauf vorbereitet sein müssen. Jeder Patient wird irgendwann entlassen. Aber er war doch nicht irgendein Patient, er war Severus, mein Severus, ein Stück meines Lebens. Er konnte doch nicht einfach gehen! Weiter konnte ich in diesem Augenblick nicht denken. In meinem Kopf war nur noch Platz für den einen Gedanken: "Severus geht!" Ich hatte ein paar Wochen lang in der Illusion gelebt, es würde immer so weitergehen, ich könnte immer und ewig mit ihm in unserem kleinen Paradies bleiben und die Welt draußen würde sich ohne uns weiterdrehen. Nein, er durfte nicht gehen, er war doch krank und brauchte mich! Und ich... ich brauchte ihn doch...

Ich war unfähig zu sprechen. Zum Glück war Madam Pomfrey auch noch da, und wie es ihre Art ist, war sie strikt dagegen, einen Patienten früher als geplant zu entlassen. In ihrem üblichen strengen Tonfall sagte sie: "Professor Snape, Sie bleiben! Die Entscheidung, wann Sie sich genug erholt haben, werden Sie mir überlassen, und außerdem werden dann einige abschließende Untersuchungen nötig sein." Ich war erleichtert und warf ihr einen dankbaren Blick zu. Wenn mich auch vor wenigen Minuten brutal die Erkenntnis getroffen hatte, dass unser glücklicher Zustand ständigen Beisammenseins nicht von Dauer war, dann wollte ich sein Ende doch so weit wie möglich hinausschieben.

Doch Severus sah die Sache anders. Ein wütender Blick aus seinen schwarzen Augen traf Madam Pomfrey und machte gleich darauf einem überheblichen Grinsen Platz. "Das werden wir ja sehen", sagte er spöttisch, ging seelenruhig zu seinem Schrank und begann, seine wenigen Sachen zusammenzupacken. Als er sein Bündel beisammen hatte, schritt er auf die Ausgangstür zu und drückte energisch die Klinke herunter. Die Tür blieb zu.

Severus fuhr herum und schaute Madam Pomfrey giftig an. "Tja", sagte sie mit einiger Genugtuung, "manchmal ist eine kleine, alte Medihexe doch schneller als ein schlauer Slytherin. Sie können rütteln, soviel Sie wollen, diese Tür bleibt verschlossen, solange ich es für richtig halte." Tatsächlich hatte Severus wütend an der Klinke zu rütteln begonnen, doch nun ließ er davon ab und fasste sich wieder. "Meinen Sie wirklich?" fragte er verächtlich und durchquerte mit langen Schritten den Krankenflügel. Mit einer lässigen Armbewegung wollte er die Tür zum Garten aufstoßen - doch sie gab nicht nach. Als Severus feststellte, dass auch diese Tür verschlossen war, malte sich pures Entsetzen auf seinem Gesicht. Ruckartig drehte er sich um, und sein Blick fiel erst auf Madam Pomfrey auf der anderen Seite des Raumes, dann auf mich, die ich neben der Tür stand. Ja, ich hatte sie verriegelt. Meine Chefin nickte mir zufrieden zu, und da begriff er. "Du, Pamina?" flüsterte er tonlos. Ich meinte: "Es ist nur zu deinem Besten, Severus. Bitte tu, was Madam Pomfrey sagt! Du bist noch nicht ganz gesund, du musst hier bleiben! Bitte!" Er sah mich flehend an und stieß heiser hervor: "Gib mir den Schlüssel!" Ich schüttelte heftig den Kopf: "Es gibt keinen Schlüssel. Die beiden Türschlösser sind magisch verriegelt, nur das Personal kennt den Code."
"Dann öffne mir!" verlangte er. "Oder sag mir den Code!" Wieder schüttelte ich energisch den Kopf.

Severus sah mich mit einem unendlich langen Blick an, fassungslos, ungläubig, enttäuscht. Er murmelte: "Ich dachte, du wärest meine Komplizin..." Dann wurde seine Stimme lauter und aufgeregter, als er verbittert sagte: "Es war ein Fehler, dir zu vertrauen, irgendwem zu vertrauen, es ist immer ein Fehler! Man sollte grundsätzlich nur auf sich selbst vertrauen!" Er fing an, im Krankenflügel auf und ab zu gehen, ja, zu rennen, zwischen den beiden Türen hin und her. Immer hin und her, wie ein Raubtier im Käfig. Er drehte völlig durch. Sinnlos immer hin und her, von einer Tür zur anderen, nur um immer wieder festzustellen, dass sich keine von ihnen öffnete. Sein Umhang flatterte hinter ihm her, sein Gesicht war verzerrt, seine Fäuste geballt. Madam Pomfrey und ich standen erschrocken daneben und warfen uns ratlose Blicke zu. Sein Atem ging keuchend und stoßweise, vor Anstrengung, wie ich zunächst annahm, doch als er endlich stehen blieb, sah ich, was es war: Panik! Sie stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, flackerte in seinem Blick. Diesem beinahe irren, verzweifelten Blick. Wie ein gehetztes Tier sah er aus, zitternd, schnaufend und diese Augen... diese Augen... Nie habe ich solche Angst in den Augen eines Menschen gesehen! Was war denn nur in ihn gefahren?

"Jetzt weiß ich, was hier gespielt wird!" keuchte er, "hier ist Askaban! Askaban! Es hat nie aufgehört, nie! Ihr seid wie Drywell! Ihr sperrt mich ein!" Ich war schockiert, doch ich versuchte ihn zu beruhigen: "Severus! Wie kannst du so etwas von uns denken? Wir wollen doch nur dein Bestes." Er trat näher zu mir, sah mir direkt in die Augen und zischte: "Du willst nur mein Bestes? Komplizin? Verräterin? Ich kann dir sagen, was du von mir willst: Du, Nachtigall, du wolltest Tränen in meinen Augen sehen. Du wolltest deinen Lehrer endlich einmal schwach sehen, genau wie Drywell junior. Du wolltest mich hilflos sehen, wie der alte Drywell. Nur so erträgst du mich, du willst nicht, dass ich stark werde. Lieber sperrst du mich ein!"

"Alohomora!" brüllte er die Tür an, doch nichts tat sich. Er machte einen letzten Versuch, streckte die Hand aus und bat mich: "Gib mir einen Zauberstab! Man hat mir hier keinen gegeben. Gib mir deinen, irgendeinen, damit ich mich hier heraus zaubern kann." Doch ich reagierte nicht, war wie gelähmt, und Madam Pomfrey schüttelte nur den Kopf. Die Angst in Severus´ Augen wich einem Ausdruck von Wut und einer Spur Triumph. "Auch Muggel haben wirksame Methoden", sagte er gefährlich leise und ergriff plötzlich einen Stuhl. Er hob ihn hoch in die Luft und schleuderte ihn herum, und in seinem Blick lag nun solcher Hass, dass ich glaubte, er wollte mich damit angreifen. Doch stattdessen schwang er den Stuhl mit aller Gewalt gegen die Tür zum Garten, so dass die Glasscheibe mit lautem Klirren zersprang. Er donnerte den Stuhl auf den Boden, so dass er zersplitterte und zwängte sich durch das Loch in der Tür. Die scharf gezackten Abbruchkanten schnitten ihm den rechten Arm blutig, doch es schien ihm nichts auszumachen. Eilig quetschte er sich hindurch ins Freie, rannte durch den Garten und war mit einem katzenhaften Satz auf der Mauer, die diesen kleinen Park vom Rest des Hogwarts-Geländes trennt. Ein letztes Mal drehte er sich nach uns um, dann sprang er auf der anderen Seite hinab.

Ich löste mich endlich aus meiner Erstarrung und lief zu der Mauer. Mit einiger Mühe zog ich mich daran hoch und spähte über den Rand. Von weitem sah ich Severus, der mit wehendem Umhang davon eilte und Professor Dumbledore, der aus dem Schloss gekommen war, Severus entdeckte und dann einen Blick zu mir herüber warf. Professor Dumbledore brachte Severus nicht zu mir zurück. Er legte einen Arm um ihn und führte ihn weg, ins Schloss, vermutlich in seine Kerker. Weg von mir. Meinen Severus. Weg von mir, die er hasst.

In dem Moment fühlte ich mich so furchtbar ungerecht behandelt. Warum hilft mir denn keiner? Ich bin doch im Recht! Ich will doch nur Gutes! Und mich mit Drywell zu vergleichen, diesem Monster!

Aber jetzt am Abend, wo ich allein in meinem Zimmer sitze und über alles nachdenke, fange ich an, Severus zu verstehen, gegen meinen Willen. Wie furchtbar gedankenlos von mir, einen Menschen, der so lange gefangen war und sich gerade einigermaßen von diesem Trauma erholt hatte, einzusperren! Und bin ich wirklich besser als Drywell? Ich wollte doch nur Gutes tun und helfen. Aber habe ich nicht wirklich mehr an mich selbst als an meinen Patienten und Freund gedacht? Wollte ich "meinen Severus" nicht besitzen und habe ihn dadurch genauso zu einer "Sache" gemacht, wie Drywell? Wünsche ich mir wirklich heimlich, er würde für immer schwach und hilflos bleiben - von mir abhängig? Ich wollte doch, dass er stark und gesund wird, aber kann ich es nun vielleicht wirklich nicht ertragen? Ich schäme mich. Ich bin erschrocken über mich selbst. Bin das wirklich ich? Ich habe immer geglaubt, es wäre viel einfacher, "gut" zu sein. Selbstlos, eine echte Hilfe. Einfühlsam. Man hat mir immer eingeredet, dass ich so sei. Schließlich war ich doch in Hufflepuff. Der Hut muss doch wissen, warum...

Es ist Nacht, ich sollte längst im Bett sein, doch ich finde keinen Schlaf. Ich habe alles aufgeschrieben, aber diesmal bleibt die befreiende Wirkung aus. Ich will nicht, dass nach dieser Nacht ein neuer Tag kommt. Ein Tag ohne Severus. Ein ganzes Leben ohne Severus. Ständig sehe ich ihn vor mir. Wie er mich anstarrt, so voller Enttäuschung, voller Hass. Wie er vor mir flieht. Und Dumbledore. Wie er ihn wegbringt. In Sicherheit. Vor mir! Und wenn ich Professor Dumbledore vor mir sehe, dann höre ich seine Worte, die er vor Wochen zu mir gesagt hat: "Unterschätzen Sie niemals Severus!"


30. November:

Severus habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Das heißt, doch, ich sehe ihn ja bei fast allen Mahlzeiten am Lehrertisch sitzen. Von weitem. Anders als von weitem sehe ich ihn nicht mehr. Zum Glück ist sein angestammter Platz ohnehin am äußersten Ende des Tisches und meiner am anderen äußersten Ende, neben Madam Pomfrey. Ich habe gehört, dass er bereits wieder unterrichtet. Er schont sich nicht. Ich muss aber zugeben, dass er wirklich nicht schwach aussieht. Stark und gesund sieht er aus und schön. Vermutlich tut es ihm gut, wieder aktiv zu sein. Frei zu sein. Gerettet vor Gefängniswächtern wie Drywell und... mir.

Ich werde dieses Tagebuch beenden. Was soll ich noch schreiben? Was ich täglich tue? Bagatellverletzungen einiger Schüler versorgen? Kräuter für Madam Pomfrey aus dem Gewächshaus holen? Krankenakten führen? Alles nicht wert, es täglich aufzuschreiben. Oder wie es in mir aussieht? Nein, bitte nicht. Das Schreiben macht keinen Spaß mehr. Das ganze Leben macht keinen Spaß mehr. Das Buch ist ohnehin fast voll, ein paar Seiten sind noch übrig, und ich werde kein neues kaufen.


5. Dezember:

Heute traf ich zufällig Professor Dumbledore. Wobei ich mir bei ihm mit den "Zufällen" nie ganz sicher bin. Irgendwie ist er mir zu zufällig immer zur rechten Zeit am rechten Ort. So wie damals, wo er gerade in dem Moment vor das Schloss trat, als Severus aus dem Krankenflügel geflohen war und ihn brauchte. Jedenfalls frage ich mich, was der Schulleiter in den Gewächshäusern zu suchen hatte, aber egal.

Ich zupfte gerade ein paar Früchte von einem Spinnenbeeren-Stöckchen. Madam Pomfrey braucht sie regelmäßig für den Koagulopathikus-Trank (zur Förderung der Blutgerinnung bei größeren Verletzungen). Die Pflanze ähnelt stark einem Weinstock, ihre Beeren sind in Traubenform angeordnet, haben jedoch das Aussehen von Kreuzspinnen (braune Kugeln mit weißem Kreuz darauf) und schmecken widerwärtig.

Jedenfalls zupfte ich gerade, als er mich plötzlich von hinten ansprach. "Eine faszinierende Pflanze", hörte ich seine ruhige Stimme hinter mit, "ihr bitterer Geschmack ist nicht jedermanns Sache, aber sie ist uns eine unverzichtbare Hilfe, die schon manches Leben gerettet hat." Seine Hand griff an mir vorbei und rieb sanft eines der Blättchen zwischen seinen Fingern. Ich sah, dass seine Haut war wie Pergament. Ich drehte mich nicht nach ihm um, blickte nur weiter auf die Pflanze und auf seine Hand. "Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie bemerken, dass die Pflanze auf ihre ganz eigene Art wunderschön ist. Wussten Sie überhaupt, dass sie duftet?" Er hielt mir die Finger, mit denen er das Blatt gerieben hatte, unter die Nase, und ich atmete einen angenehm minzigen Duft ein. Nein, das hatte ich nicht gewusst.

"Alles, was die Natur hervorgebracht hat, ist ein Wunder", sagte Dumbledore, "man muss sich nur die Mühe machen, richtig hinzusehen. Und man muss es achten und pflegen, jedes auf seine Art." Er ging halb um mich herum, so dass er nun seitlich von mir stand, in meinem Blickfeld. "Das Spinnenbeeren-Stöckchen zum Beispiel muss man an einem Stab anbinden, damit es nach oben wächst und stark wird. Es braucht eine Stütze, sonst knickt es schon nach wenigen Zentimetern Wachstum ab und welkt dahin. Sehen Sie, unsere gute Professor Sprout hat das sehr sorgfältig gemacht." Ich betrachtete den Stab, an dem die Rebe befestigt war und empor rankte. "Allerdings", fuhr er fort, "ist irgendwann der Zeitpunkt gekommen, wo man die Schnüre und den Stab entfernen muss. Die Pflanze ist stark genug, um sich allein aufrecht zu halten und würde durch diese Fesseln in ihrer Entfaltung nur noch gehemmt. Ich werde Professor Sprout hier einmal eigenmächtig vorgreifen, denn ich sehe, dass es für dieses Pflänzchen schon an der Zeit ist." Er ergriff eine herumliegende Gartenschere und kappte die Schnüre, die die Pflanze an den Stab banden. Den Holzstab warf er beiseite, er wurde nicht mehr gebraucht, die Rebe hielt sich aus eigener Kraft aufrecht. "Unser Pflänzchen wäre eingegangen, wenn ich das nicht getan hätte", sagte Professor Dumbledore.

Mir waren Tränen in die Augen gestiegen. Ich habe in letzter Zeit nah am Wasser gebaut und heule bei jeder Gelegenheit. Das ist mir sehr unangenehm, aber ich kann es nicht unterdrücken. Professor Dumbledore nahm mein Gesicht in beide Hände und sagte nur: "Na, na..." Ich wollte mir hastig mit dem Ärmel über die Augen wischen, doch seine Arme waren mir im Weg. Ich war gezwungen, in seine hellen, freundlichen Augen zu sehen und den Tränen freien Lauf zu lassen. "Warum tun Sie das?" schluchzte ich, "warum sind Sie nett zu mir? Ich bin nicht nett! Sie müssten mich hassen, genau wie Ihr Freund Severus mich hasst!"

Professor Dumbledore schüttelte lächelnd den Kopf: "Mein liebes Kind, wenn ich jeden Menschen hassen wollte, der einmal einen Fehler gemacht hat, dann hätte ich nach 150 Jahren Leben keinen einzigen Freund mehr auf der Welt, und das wäre sehr einsam und sehr langweilig. Und wenn Severus Sie hassen würde, hätte er sie längst totgeflucht."
Ich riss die Augen weit auf: "Tut er so etwas denn für gewöhnlich?!"
"Nein", erwiderte Dumbledore schmunzelnd, "er hat nie jemanden zu Tode geflucht, obwohl er es mit dem kleinen Finger tun könnte. Und warum nicht? Vermutlich, weil er niemanden hasst. Hassen bedeutet, jemandem den Tod zu wünschen. Und darum frage ich mich, warum so viele Leute ausgerechnet unserem guten Severus unterstellen, 'hasserfüllt' zu sein. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, das Leben anderer zu retten! Da hat er wohl ein Hobby mit Ihnen gemeinsam, was?"

Er ließ mein Gesicht los und reichte mir ein seidenes Taschentuch aus seinem Umhang. "Was haben Sie denn noch für Hobbys?" fragte er, während ich mir Augen und Nase abputzte, "außer Leben retten und Wunden heilen?" Ich zuckte die Schultern: "Weiß nicht... hab mal Tagebuch geführt, aber das mache ich kaum noch... Einhörner malen..."
"Ah, Einhörner!" sagte Dumbledore, "wundervolle Tiere, in der Tat! Die Sinnbilder der Unschuld. Sie hätten wohl gern eines als Haustier, was?" Ich nickte. Der alte Mann wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger vor meinen Augen hin und her: "M-mh, mein Kind, sehen Sie, genau da liegt der Fehler! Ein Einhorn ist ein freiheitsliebendes, wildes Geschöpf. Es würde in Gefangenschaft vor Kummer sterben, und wenn es eine noch so liebevolle Gefangenschaft wäre. Wenn Hagrid ein verletztes Einhorn findet, pflegt er es in seiner Hütte gesund. Aber sobald es sich erholt hat, lässt er es frei. Und gerade weil er das tut, sind die Einhörner seine Freunde und kehren manchmal zu ihm zurück und besuchen ihn. Aus freien Stücken. Das ist das ganze Geheimnis und die nicht ganz leichte Kunst, ein Freund zu sein."

Ich schüttelte traurig den Kopf: "Das ist eine schöne Geschichte, Professor Dumbledore, aber im Gegensatz zu Hagrid habe ich in der Kunst der Freundschaft versagt, und Severus wird niemals zurückkehren."
"Es ist viel zu früh, dass zu behaupten", meinte Professor Dumbledore.
"Nein", beharrte ich, "es gibt keine Fortsetzung."
"Nein", stimmte er mir zu, "es gibt keine Fortsetzung. Aber vielleicht etwas ganz Neues." Ich schaute ihn fragend an. "Ich will es Ihnen erklären", fuhr er fort, "Ihre Geschichte, ich meine Severus´ und Ihre, hat bisher zwei abgeschlossene Kapitel. Das erste ist sieben Jahre lang und war Ihre Schulzeit. Das zweite ist etwa zwei Monate lang und heißt 'Im Krankenflügel'. Aber sehen Sie, zu einer Liebesgeschichte taugen beide nicht. Die Voraussetzungen stimmen nicht. Für eine Liebesgeschichte muss man sich aus nächster Nähe gegenüberstehen und einander tief in die Augen blicken. Das geht nur, wenn die Augenhöhe stimmt. In Ihren zwei Kapiteln stand aber immer einer oben und schaute auf den anderen herab, und einer stand unten und blickte zu dem anderen auf. Erst war Severus Ihr Lehrer, Pamina, unerreichbar weit über Ihnen. Und dann war er Ihr Patient, hilflos zu ihren Füßen liegend. Aber jetzt ist er keines von beidem mehr. Und das ist kein Verlust, sondern eine Chance, glauben Sie mir! Vielleicht, mein Kind, vielleicht gibt es ein drittes Kapitel, und in dem treffen Sie beide sich in Augenhöhe."

Professor Dumbledore kann tolle Worte machen, es wird einem dabei ganz warm ums Herz. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll. Was sollte Severus und mich noch einmal zusammenführen? Um einander auf neue Art wieder nahe zu kommen, müsste man uns sozusagen dazu zwingen, überhaupt länger als 1 Minute am selben Ort zu verweilen.


25. Dezember:

Weihnachten. Mir war nicht nach feiern. Ich ging nur kurz in die Große Halle, um mir etwas Gebäck mit aufs Zimmer zu nehmen. Severus war auch nicht bei der Feier, wie ich sah. Aber als ich die Halle verließ, drückte mir Professor Dumbledore ein kleines Stück Pergament in die Hand. "Frohe Weihnachten!" sagte er. Ich war aber nicht froh. Mit einem gezwungenen Lächeln bedankte ich mich und beeilte mich, hinaus zu gelangen. Ich schloss mich in meinem Zimmer ein und entrollte das Pergament. Ich las:

"Hiermit bitte ich den Meister der Zaubertränke, Professor Severus Snape, und Miss Pamina Patil, Medihexe, für mich einen Heiltrank herzustellen, der speziell auf die Bedürfnisse eines uralten, aber noch sehr aktiven Mannes zugeschnitten ist. Ich kann mir kein besseres Team für diese Aufgabe vorstellen, als Sie beide. Ein brillanter Forscher und ein in der Heilkunst bewanderter junger Geist können viel erreichen, wenn sie gleichberechtigt zusammenarbeiten. Da das Projekt viel Zeit in Anspruch nehmen wird, stelle ich Sie beide für die nächsten Wochen von Ihren sonstigen beruflichen Verpflichtungen frei. Nehmen Sie sich soviel Zeit, wie Sie brauchen!

Albus Dumbledore, Schulleiter

P.S.: Liebe Miss Patil, ich rechne fest mit Ihrer Kooperation, denn Severus hat ohne Zögern zugestimmt. Also, Sie lassen einen alten Mann doch nicht im Stich mit seinen Alterswehwehchen? Viel Spaß, gutes Gelingen in jeder Hinsicht und wie gesagt: Frohe Weihnachten!"







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