Rache

 

 

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Autorin: Lilly

Es begann mit den Träumen... Uh, das klingt jetzt unglaublich kitschig, oder? Aber es fing wirklich so an. Eigentlich beschränkten sie sich abends aufs Bett. Ok, am Wochenende auch mal nachmittags, oder früh, wenn man durch die ersten Sonnenstrahlen (oder einen nervigen Kanarienvogel...) geweckt wird. Dann ist die Decke so wunderbar weich, jedes Räkeln wird zu einer Liebkosung und der Zwang aufzustehen verfliegt. Traumhaft...

Das alltägliche Leben verlief parallel, unbeeinträchtigt. Eigentlich war sie zufrieden. Keine feste (problematische) Beziehung und dennoch Momente, in denen sie glücklicher strahlte als jeder hormonüberladene Teenager.

Normalerweise stellte sich das Ganze nach ein paar Wochen von allein ein - frei nach dem Motto „Wenn man´s (oder Frau?) braucht“. Die jeweiligen Helden entschlüpften dem letztgelesenen Buch, bzw. gesehenen Film. Es wechselte zwischen dem Phantom, einem Vampir (oder zweien *grins*) und anderen düsteren Gestalten. Sogar Sherlock Holmes hatte es einmal geschafft, aber lassen wir das. Ich hoffe, die Schöpfer dieser faszinierenden Wesen entschuldigen den freizügigen Umgang, aber sie handelte ja stets nur zum Besten der Figuren.

Es war natürlich nicht so, dass sie nicht genug Angebote von, na, sagen wir mal realeren Gestalten gehabt hätte (natürlich nicht, wenn man klein, dick und mausgrau ist, stehen einem alle Türen offen), aber ihre Ansprüche schienen den Kerlen wohl etwas zu hoch. Dabei sollte er doch nur, ähm, geheimnisvoll, witzig (bitte mit Sarkasmus!), dunkel, schlagfertig, zärtlich, romantisch, intelligent usw. sein - also das übliche eben. Romanautoren (oder besser Autorinnen) verstehen so was, die kriegen das hin. Mutter Natur nicht (und wenn dann nicht greifbar).

Auf jeden Fall ist doch nun eindeutig geklärt, dass sie ihr Beziehungsleben selbst in die Hand nehmen musste (jetzt mal nix falsches denken!). Das letzte Buch hatte es ihr besonders angetan, besser die Bücher, war ja ein Mehrteiler. Professor Severus Snape (ich danke J.K. Rowling für diesen von ihr geschaffenen Charakter und hoffe sie nimmt mir seine Entführung nicht übel), phantastisch. Groß, hager, dunkles schulterlanges Haar, schwarze funkelnde Augen und die Hände eines Musikers. Der zuckersüße Sarkasmus, seine eindrucksvolle Mimik und die (wie hab ich das nun schon etliche Male gelesen?) „seidige“ Stimme nicht zu vergessen.

Ausgesprochen anregend seine Beschreibung immer wieder aufs neue zu entdecken, was für Bilder sich da einstellen...

Um wieder zum eigentlichen Punkt zu kommen, er machte sie süchtig. Süchtig bedeutet in der Mathestunde zu sitzen, nur kurz zu ihm abzuschweifen und beim Klingeln festzustellen, wie formelreich die Tafel plötzlich geworden ist. Süchtig bedeutet in der Kirche hochzufahren, weil die Sonntagspredigt plötzlich Gedankengänge zur vergangenen Nacht öffnete. Süchtig bedeutet statt Schul-, Haushalts- und was weiß ich fürn Mist zu erledigen, einfach den PC anzustellen, nur ein bis zwei Fanfiction zu lesen und sich halb eins zu wundern, wo denn die Zeit plötzlich hin ist.

Ich hoffe jetzt einfach mal, dass süchtig ausreichend definiert ist. Eigentlich alles noch kein wirkliches Problem, wen stört denn schon ne schlechte Note, wenn man sowieso nix mehr mitbekommt? Eben.

Problematisch wurde es erst ab dem Traum. Nicht so einer. Ein Richtiger. Nachts. Beim Schlafen. Träumen stellt meist eine Abfolge unterbewusster Ereignisse dar. Ein Streit, eine Begegnung, lauter Dinge, seltsam verzerrt, die wie ein Film in deinem Kopf ablaufen. Manchmal realer, manchmal unheimlich, manchmal erschreckend.

In gewisser Hinsicht war es so ein Traum. Der Film zeigte Bild für Bild, alles hübsch geordnet. Aber plötzlich wurde er zerschnitten. Ein Fremdkörper tauchte auf, wie ein unerwünschter Beobachter nahm er den Film auseinander, betrachtete ihn eingehen, aber brachte sich selbst nicht ein.

Der Erholungseffekt dieser Nacht war gleich null. Den ganzen Tag über führten sie ihre Erinnerungen immer wieder an die Stellen zurück, kurz bevor der Film geschnitten wurde. Sie versuchte weiter zu sehen, über die Bilder hinweg, doch in diesen Momenten wurde sie sich ihrer Gedanken bewusst und alles verschwand.

Die folgenden Nächte brachten keine Veränderung, jeden Morgen war sie müde und unausgeglichen und diese verdammten Träume verwickelten ihre Gedanken immer stärker. Es merkte aber mal ausnahmsweise keiner was los war, erstens aß sie nicht weniger (eher mehr) und zweitens kümmerte es eh niemanden wenn sie gedankenversunken durch die Gegend lief.

Die Phantasien mit Severus hatten am meisten zu leiden. Die Träume hielten sie plötzlich von ihm ab, beschämten sie. Er war nicht mehr von ihr geformt und bestimmt, vielmehr etwas eigenständiges. Zuerst war ihr der Grund dieser Distanz nicht bewusst, später (irgendwann kam sie schon drauf) verstand sie die Zusammenhänge nicht. Er war nicht real, aber das Gefühl im eigenen Kopf einen Beobachter zu haben wirkte einschüchternd.

Natürlich hielt dieser Zustand nicht an (wäre vielleicht besser gewesen?). Wie ich schon schrieb, begann alles mit den Träumen und mit denen gings (ist doch logisch, oder?) auch weiter.

Blauer Himmel. Ein Hund auf dem Fußgängerweg. Ich habe Angst vor Hunden. Grün lackierte Krallen, muss der von meiner Französischlehrerin sein. Die wohnt doch gar nicht mehr hier... oder doch? Mein Lieblingsbuchladen. Warum verkaufen die hier Eis? Und wieso nur Erdbeer? Ich mag kein Erdbeer. Da hinten sitzt Clod. Mit Silvio? Die können sich doch gar nicht ab. Seit wann trag ich eigentlich ein himmelblaues Kleid?
-Filmriss-


Da stand er und sie verstand plötzlich nichts mehr. Wo war der Buchladen? Und alles andere... Nur noch Dunkel, nein, fast nur noch Dunkel. Dort im schwachen Schein einer Fackel war Licht. Eigentlich hätte es überwältigend sein müssen. All die Stunden, die sie davon geträumt hatte... Aber irgendwie stimmte hier was nicht. Ihr war kalt (logo, kurzes Sommerkleid in eisig-feuchtem Kerker) und (was wesentlich schlimmer war) der Mann ihrer Träume, musterte sie abschätzend und sah definitiv nicht so aus, als wolle er ihr seinen Umhang leihen. „Ähm- Räusper -, das klingt jetzt nicht einfallsreich, aber wie komme ich hier her?“ Ok, keine Reaktion. Er starrte einfach weiter herüber und rührte sich nicht. „Nagut, versuchen wir es anders: Wie komme ich hier heraus?“

Vielleicht träumte sie wieder, das musste es sein. Natürlich, erst Buchladen und dann Kerker. Es musste einfach ein Traum sein. Aber wenn es ein Traum war, wieso wachte sie nicht auf? Verdammt noch mal, wach auf! Nichts! Langsam wurde es wirklich unheimlich. So vertraut sie ihn auch geglaubt hatte, dieser Fremde war unheimlich. „Angst?“ Seine Stimme war ein schneidendes Flüstern - nix mit Seide. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Kein oh-was-für-ne-sexy-Stimme oder diese-Situation-macht-mich-scharf-Schauder, eher ein ICH-WILL-SOFORT-HIER-RAUS!. „Kein angenehmes Gefühl wenn man plötzlich gefangen ist, nicht war? Dem Willen eines anderen ausgeliefert...“ Was zum Teufel sollte das hier werden? Was wollte er? Und warum hatte sie mit ihren dämlichen Phantasien nicht bis zu dem Buch gewartet, indem näher erklärt wurde wie sehr Snape sich für das Deatheater-Dasein begeistert hatte?

Er trat plötzlich aus dem Lichtkreis in die Schatten. Die Dunkelheit ließ sein sich näherndes Gesicht nicht erkennen. Aber ehrlich gesagt wollte sie es gar nicht erkennen. Angst lähmte sie. Er war ein Fremder. Ein Fremder, dem sie allein gegenüber stand und der sie mit einer Stimme ansprach, die Glas hätte schneiden können.

I turn my head up and down, I turn, turn, turn, turn - turn it around… Was zum Geier...? Radio? Durchs Fenster schimmerte schon der Sonnenaufgang. Die vermaledeiten Vögel zwitscherten und die Hälfte ihrer Decke lag auf dem Boden. Sie war völlig verschwitzt und zog fröstelnd die Bettdecke zurück. Was war das denn gewesen? Wahrscheinlich sollte sie aufhören ständig Fanfiction zu lesen, konnte ja nicht gut sein.

„Was hast du bei zwei C geschrieben?“ Zwei C? Das hatte sie nicht rausbekommen, Themenwechsel. Warum musste man eigentlich die Klausuren noch mal durchkauen? Reichte es nicht, sie zu schreiben? Anja verwickelte sich immer stärker in die Diskussion mit Uli. Sollten die beiden doch, ihr ging das ganze am A*** vorbei. „Ausgeschlafen?“

Beinahe hätte sie ihre Jacke fallen lassen. „Wer war das?“
„War was?“ Wer hatte das gesagt? Sie gingen doch allein auf dem Flur. Kein Kerl zu sehn und doch... Sie war übermüdet. Bestimmt. Was sonst?

Bio verlief ganz angenehm. Sie nahmen gerade das Gehirn durch. Gar nicht schlecht, vielleicht fand sie ja so raus, wo bei ihr ne Schraube locker war. Ach nö - Stichpunkte aus dem Lehrbuch. Natürlich, schon der erste Absatz Hieroglyphen. Wie sollte man so was lernen? „Denkblockade?“ Nicht schon wieder! Langsam hob sie den Kopf und schaute sich um. Alle schienen zu arbeiten. Schon klar, alles Einbildung. „Darauf würde ich nicht vertrauen.“ Mit eine Ruck fuhr sie hoch. Das war verrückt. „Darf ich bitte mal auf die Toilette?“

Kaltes Wasser, viel kaltes Wasser. Sie musste endlich mal wieder ausschlafen, am Besten mit Schlaftabletten oder Baldriantee. „Schlechte psychische Verfassung?“ Aufhören verdammt! Was war das für ein dummer Scherz? „Hast du Angst?“ Ruhe! „Du solltest welche haben...“ Ruhe! - Ruhe, Ruhe, Ruhe! Verzweifelt schlug sie mit der Hand gegen den Kopf. Das musste aufhören. Es musste. Tränen standen in ihren Augen. Sie beugte sich über das Waschbecken, würgend und schluchzend. „Schau mich an.“ Was? „Schau mich an!“

Langsam hob sie den Kopf. Zwei verweinte Augen blickten in die ihren. Das Haar hing in wirren Strähnen ins blasse Gesicht. Ihr Spiegelbild schien völlig entstellt. Und plötzlich, ganz langsam, formte sich ein Schatten. Vielleicht auch mehr ein Nebel. Schleierartige Formen verfestigten sich, wurden zu einer Gestalt. Gebannt schaute sie in den Spiegel. Er war es. Ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich nach vorn beugte. Ganz nah an ihr Ohr. „Wie fühlt es sich an, mir ausgeliefert zu sein?“ Die Übelkeit verstärkte sich. „Du glaubst ich wäre nach deinen Wünschen willig? Du glaubst mich zu kennen? Lerne mich kennen.“

Sie wollte ihn zurückstoßen. Das Gesicht nicht mehr sehen, die Stimme nicht hören. Doch ihre Hand hob sich nicht, nichts bewegte sich - alles war Stein.

Plötzlich war die Spiegelung verschwunden, sie stand allein im Raum.

Geographie, Gott sei Dank. Ablenken, ausruhen. Etwas wo sie sicher war. Seit diesem Jahr plötzlich ihr Lieblingsfach. Die Lehrerin schien von der ersten Minute überzeugt, sie wäre eine gute Schülerin, also war sie gut. Es klingelte zur Stunde. Leistungskontrolle. Verdammt, sie hatte nicht noch einmal in den Hefter geschaut. „Definieren Sie City.“ Das war leicht. „Versager!“ Oh bitte nicht, nicht jetzt. „Du weißt nichts, gar nichts! Du bist dumm.“ Hör auf! „Vollkommen sinnlos irgendwelches Wissen an dich zu verschwenden.“ Ich hab gesagt hör auf! „Wertloses Stück! Dass du dich überhaupt noch wagst den Mund aufzumachen“ „Aufhören!“ Sie schrie. Die Klasse zuckte zusammen. Eine unangenehme Stille hatte sich ausgebreitet, während sie auf die Antwort gewartet hatte. Der Schrei zerbrach die Spannung.

Sie fand sich auf dem Flur wieder. „Bleib am besten etwas hier draußen bis du dich wieder beruhigt hast.“

„Ich hätte dich schon längst hinaus geworfen.“ Wann hörte das wohl auf? „Wer kann schon lange deinen Anblick ertragen? Ich dachte es gibt so was wie ein Menschenrecht.“ Langsam wippte sie auf ihren Fußspitzen. Das geschieht alles gar nicht. Ich schlafe immer noch. Ich träume. „Sicher träumst du. Was sollte daran real sein? Oder wirst du vielleicht verrückt? Hörst du etwa Stimmen in deinem Kopf?“ Verzweifelt presste sie die Handflächen auf die Ohren. „Was ist denn? Spielt dein dummes kleines Köpfchen verrückt? Wo ist denn deine Stärke? Deine Überlegenheit? Warst du nicht stark und überlegen? Jeden Abend wenn du mich vor dem Lord gerettet hast? Als die Deatheater dir zu Füßen lagen? Als du jeden Zaubertrank im Traum brauen konntest und mich bloß gestellt hast?“ Lautlos rannen ihr die Tränen über das Gesicht. Es konnte nicht, es konnte einfach nicht... „Du bist ein Nichts!“

Sie fuhren sie nach Hause. Ihre Mutter brachte sie sofort ins Bett und brachte Schlafmittel. Sofort war er da, kalt, hart, grausam. Jedes seiner Worte knallte wie ein Peitschenhieb. Sie schnitten in ihre Seele. Nach dem Aufwachen verstummte er nicht. Jeder ihrer Schritte wurde kommentiert, jedes ihrer Worte höhnisch belacht.

„Vertrau dich ihnen doch an. Sie halten dich auch jetzt schon für verrückt.“ Nach drei Wochen reagierte sie kaum noch. Verrückt. Ja, wahrscheinlich. „So nachgiebig? Wehr dich.“ Verrückt. Sie war verrückt. Das war eine Erklärung. Das überhaupt DIE Erklärung. Sie war verrückt. Langsam stand sie auf. Was sollte eine Verrückte in der Schule. Die Busse fuhren durch die ganze Stadt. „Was hast du vor?“ Er klang gespannt und erwartungsvoll.

Sie sprang aus dem Bus, das war es gewesen. Ohne die Autos zu beachten überquerte sie die Straße. Mittlerweile wurde es dunkler. Wie lang war sie gefahren? Die Hintertür stand offen. Stufe für Stufe erklomm sie die Treppen. Wie viele mochten es wohl sein? Endlich die kleine Tür zum Dach. Der Wind wehte kühl über die abendliche Stadt. Tief atmete sie ein. Wie ruhig es hier oben war. Selbst er schwieg. Die Stille war Erlösung. Sie würde sie nicht wieder her geben. Nie wieder.

Plötzlich war der Dachrand da. Ein Abgrund, darin ein Meer von Lichtern. Alles funkelte. Verträumt schaute sie der untergehenden Sonne nach. Am Himmel waren die ersten Sterne zu sehen. Würde sie dieses Bild auf ewig sehn? Oder war es einfach nur schwarz. Auf jeden Fall würde es still sein und... „Was tust du?“ Hätte er ihr diesen Augenblick nicht lassen können? Langsam hob sie den Fuß, nur ein Schritt. „Zurück!“ Die Stimme war laut und klar. Eine Hand griff sie am Arm und riss sie nach hinten. Verwirrt drehte sie sich um. Da stand er wieder. Aber sie träumte doch gar nicht. „Bist du verrückt? Was glaubst du, was du da tust?“ „Ja.“ „Ja?“ Sie betrachtete ihn mit verschleiertem Blick. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „ Ich bin verrückt. Verrückt, verrückt, verrückt.“ Das Lächeln wich einem hysterischen Lachen. Er stand wie versteinert. Ihr Lachen wurde schrill, überschlug sie einige Male, verstummte. Sie sank in die Knie. Tränen liefen über Gesicht. „Es tut mir leid.“ - kaum mehr als ein Flüstern. „Ich wollte Sie nie beleidigen. Ich wusste doch nicht... Tut mir leid.“ Sie schluchzte auf. Wie hatte sie es wagen können? Dumm, wertlos, hässlich. Dumm, wertlos, hässlich. Immer wieder. Bis sich alles drehte.

(Ihr glaubt doch nicht, dass ich das so enden lasse, oder?)
Plötzlich kniete er vor ihr, strich das Haar aus ihrem Gesicht. Vorsichtig, als könnte sie zerbrechen, zog er sie an sich. Selige Geborgenheit lag in seinen Armen. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr Gesicht in seinem Hemd vergraben. Wärme strahlte durch den dünnen Stoff, sein Duft erfüllte sie. Keine dunkle Erinnerung drang mehr in ihr Bewusstsein, kein Gedanke, keine Angst.

Verzweifelt versuchte sie sich festzukrallen als er sich zurück zog. Sanft aber bestimmt griff er ihre Hände und löste sie von seiner Kleidung. Erneutes Zittern stieg in ihr auf. Mit den Spitzen seiner Finger streichelte er über ihr Haar, beruhigend. Sie blickte zu Boden. Die Hand strich weiter über ihr Gesicht, hob vorsichtig ihr Kinn. Kinderaugen blickten ihm entgegen, zerbrochen, ängstlich, sehnsüchtig. Er hielt in der Bewegung inne. Hatte er sie vernichtet? Was war sie noch? Seiner Wut über die Demütigungen ausgesetzt. Ein warmer Hauch ließ ihn in die Wirklichkeit zurück kehren. Was auch immer zuvor in ihrem Blick gewesen sein mochte, es war verschwunden, durch Zärtlichkeit ersetzt.

Die Vorstellung verrückt zu sein war plötzlich nicht mehr erschreckend, nur neu. Wenn das Wahnsinn war, schien es recht lebenswert. Sie legte eine Hand in seinen Nacken, verschlang die Finger in den langen, schwarzen Haaren und zog ihn zu sich.

Wie zögerndes Tasten berührten sich ihre Lippen, zuckten elektrisiert zurück, wagten erneut einen Versuch. Weich und zart, fiebrig glühend. Jede Berührung forderte mehr. Immer tiefer versanken sie in dem Kuss. Gierig sog sie seinen Atem ein, als wolle sie darin ertrinken. Seine Zunge fuhr über ihre Lippen, schob sich dazwischen. Schmeckte ihr Verlangen, entzog sich dem Sog, kehrte zurück. Wie zwei Ertrinkende, hilflos einander ausgeliefert, sich gegenseitig das Leben schenkend.



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