Der Seelenlauscher

 

 

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Autorin: Smilla



Der Seelenlauscher



Eines Tages hatte Hogwarts unerwartet einen ungewöhnlichen Gast. Nun könnte man sagen, der ungewöhnlichste Besucher in Hogwarts wäre ein ganz gewöhnlicher Mensch. Nicht nur Zauberer, auch magische Wesen der unterschiedlichsten Art gehen hier täglich ein und aus. Aber dieser hier war doch etwas Besonderes, nie Dagewesenes. Er nannte sich selbst einen "Engel", aber sie sollten nicht zuviel darüber nachdenken, er sei nicht das, was sie meinten, dass ein Engel wäre, und überhaupt verwende er diesen Namen nur, damit man eine ungefähre Vorstellung von ihm bekäme. In Wirklichkeit sei er etwas, das man nicht erklären und begreifen könne, und überhaupt sähe er auch ganz anders aus, als so, mit Flügeln und allem, wie er sich ihnen zeigte. Aber das sei auch unwesentlich, er sei nicht hier, damit sie ihn erkannten, sondern um sie zu erkennen. Jeden einzelnen von ihnen. Er habe nämlich eine ganz besondere Fähigkeit: den Ton der Seele zu hören.

Der Engel versammelte alle Schüler und Lehrer in der Großen Halle. Er bat um absolute Stille und flog zu jedem Einzelnen hin und horchte angestrengt in ihn hinein. Die Anwesenden hörten überhaupt nichts, der Engel aber behauptete, bei jedem einen Ton oder eine Melodie zu hören. Sie hätten ihn vielleicht für einen Hochstapler gehalten, hätte er nicht jeden der ihm fremden Menschen so treffend beschrieben, dass er wohl wirklich etwas gehört haben musste. Es konnte kein Zufall mehr sein, dass er Albus Dumbledore als eine machtvolle und sehr heitere Symphonie beschrieb, und Minerva MacGonagall als einen etwas strengen, aber doch freundlichen, angenehmen Klaviersatz, dass er ausgerechnet bei dem riesigen Hagrid nur ganz sanfte Töne hörte und zwischen den leisen, scheuen Tönen von Neville Longbottom den einen oder anderen unvermutet trotzigen Unterton. Er fand bei jedem etwas, das absolut passte, bei manchem auch etwas, das die anderen überraschte, aber nie etwas, das völlig unlogisch erschien. Und dieses Hineinhorchen in die Menschen schien ihm ein unbändiges Vergnügen zu bereiten. Es war offensichtlich, dass es nicht nur seine besondere Begabung, sondern auch seine Leidenschaft war. Deshalb zog er wohl auch durch die Welt, besuchte die verschiedensten Orte und Menschen und lernte sie auf diese Weise kennen. Bei jedem lächelte er, mal strahlend, mal ein wenig wehmütig, aber er lächelte. Zu jedem sagte er ein paar Worte.

Nur bei Severus Snape lächelte er nicht, und er sagte kein Wort. Er lauschte in ihn hinein, sah ihn dann lange ernst an und flog stumm weiter.

Irgendwann war er fertig, und alle verließen die Halle. Der Engel blickte sich in dem leeren Saal um. Einer war nicht gegangen. Einer stand noch allein in einer dunklen Ecke und schien ihm regelrecht aufzulauern. Einer, der noch mehr als alle anderen darauf gebrannt hätte, zu erfahren, was denn der Engel bei Severus Snape gefunden hatte: Severus Snape.

Als er spürte, dass der Engel ihn beobachtete, trat er ein kleines Stück aus seiner dunklen Ecke heraus, doch nicht zu weit hinaus aus dem schützenden Dunkel. Er zog seinen schwarzen Umhang enger um sich, als müsste er sich schützen gegen das, was er nun herausfordern würde. Auch sein Gesicht ging in Verteidigungshaltung, mit kritisch erhobener Augenbraue und spöttisch verzogenen Mundwinkeln, als er fragte:

"Und, was haben Sie nun bei mir gehört? Lassen Sie mich raten: Einen schaurigen Missklang, ein ganzes Orchester durcheinander, laut, disharmonisch, einfach scheußlich. Irgendetwas Gewaltiges und durch und durch Böses. Etwas, wovor jedes gute Wesen flieht. Auch Sie."

"Nein", sagte der Engel leise und nachdenklich, "nichts dergleichen. Das ist es ja. Nur einen leisen, unendlich traurigen Ton in dunklem Moll. Sehnsuchtsvoll und so einsam: Nur ein einziges Instrument. Der weiche, warme, dunkle Klang eines Kontrabasses, aber wenn man genau hinhört, schluchzend wie eine Geige. Er ist sehr, sehr gefühlvoll und gar kein bisschen hässlich, und gerade deshalb ist er schwer zu ertragen. Die Trauer dieses Tones schwingt in meinem Innersten nach. So etwas ist mir noch nicht passiert. Sie entschuldigen mich bitte, ich muss das erst verkraften..." Und er flog aus dem offenen Fenster davon. Snape konnte sehen, dass seine Flügel zitterten.



 

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