Vollkommene Freiheit

 

 

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Autorin: Lilly



Wo soll ich beginnen zu erklären, was nicht zu erklären ist? Ja, was noch nicht einmal in Worte gefasst werden sollte. Vielleicht bin ich verrückt. Das ist lächerlich. Ich habe oft daran gedacht verrückt zu werden, sozusagen als letzter Ausweg.

Aber mit einem Schlag wurde es anders, alles anders. Ich habe erkannt, kenne nun die wahre Bedeutung, den eigentlichen Wert. Es ist, als wäre eine alte rostige Münze plötzlich von unschätzbarem Wert. Das heißt, sie war es natürlich schon immer, es hat nur niemand bemerkt.

Kennst du das Gefühl, wenn alles zu viel wird, du dich nur noch verkriechen möchtest, klein und verletzlich. Und dann öffnet sich ein Tor, nur ein Spalt wird sichtbar. Es ist, als wäre man ewig eingekerkert. Im dunklen. Kein Licht, kein Windhauch, kein Leben. Und dann bricht ein Stein aus dem kalten Mauerwerk. Er fällt dir zu Füßen und du trittst an die Öffnung heran. Das helle Licht blendet, brennt in deinen Augen. Du fürchtest dich, weichst zurück. Angst, wie ein kleines, hilfloses Tier kauerst du dich in die hinterste Ecke, nur nicht zurück. Doch die Zeit, die hier unten nie existierte, beginnt plötzlich zu verstreichen. Wie eine längst verdrängte Erinnerung kehrt sie in deine Gedanken zurück. Die Angst fällt von dir ab. Erst langsam, dann immer mehr. Immer schneller, unkontrolliert. Sie wandelt sich in Neugier. Verlangen wächst, Verlangen das Unbekannte zu entdecken. Meter um Meter kriechst du auf die Öffnung zu. Dicht an den Boden gepresst. Knie und Hände schrammen auf dem rauen Boden, du spürst es nicht.

Dann ist es da, langsam hebst du den Kopf. Wieder das Stechen, sofort zuckst du zurück. Doch die Angst ist verschwunden. Erneut richtest du den Blick in das Licht. Schmerzt es nicht schon weniger? Konturen zeichnen sich plötzlich ab. Tatsächlich, da sind Formen zu erkennen. Verschwommen, ja, doch Formen. Die ewige Zeit im Dunkel und nun farbige Gebilde. Farbig? Farben. Das Licht ist zerfallen. Vor dir erstreckt sich das Paradies. Ein endloser Garten, ein Fluss und Wald, überspannt von einem Tuch aus hellblauer Seide. Du riechst das frische Gras, siehst den Tau auf den Wiesen schimmern, spürst förmlich deine Füße hinüberstreifen. Die Sonne, so warm und zärtlich schenkt jeder Welle im Fluss eine glitzernde Seele. Der Wind rauscht leicht durch die Kronen der Bäume, lässt die Blätter säuseln. Ein Schleier aus weißen Blütenblättern wird in die Luft gehoben, der Wind tanzt mit ihm. Deine Augen folgen diesem Spiel, bis es am Horizont verschwindet und dann...

...wachst du auf. Alles ist wieder dunkel. Schwärze umfängt dich, kalt - erbarmungslos. Deine Augen füllen sich mit Tränen. Sinnlos gegen den Schmerz anzukämpfen. Du willst ihn, willst, dass er dich vergessen lässt. Alles vergessen.

Ich lebe in diesem Dunkel. Es war eigentlich gar nicht schlimm, was du nicht kennst, fehlt dir nicht. Ich kannte kein Licht. Jetzt aber habe ich in den Garten geblickt, war glücklich für so wenige Minuten. Der Schmerz frisst mich auf, die Sehnsucht verbrennt mich. Ich glaube zu ersticken, ringe nach Atem, doch da ist nichts. Die Luft ist so dünn, so unglaublich dünn. Warum lässt sie mich nicht sterben. Ewig schlafen, traumlos.

Ich bin gefangen, am Leben erhalten um ewig zu leiden. Nein das ist kitschig, nicht ewig. Irgendwann wird auch meine Zeit vorüber sein. Irgendwann habe ich die Strafe abgebüßt und werde aus dem Dunkel in den Tod übergeben.

Und plötzlich ist es wieder da, das Tor. Ganz klein und unscheinbar. Unbeachtet, geradezu verhöhnt. Doch ich betrachte es. Immer wieder. Und je länger mein Blick darauf ruht, desto größer wird meine Gewissheit. Es ist so leicht. Wie sagt man? Spielend zu schaffen? Ein schöner Ausdruck, so passend. Und wenn ich erst einmal hindurch gegangen bin, dann gibt es kein zurück. Dann bin ich frei, bis dass der Tod mir die endgültige Erlösung gewährt. Frei endlich sein, denken und fühlen zu können. Frei zu atmen. Frei zu Leben.

Es gibt kein Wort dafür, kein passendes. Die Menschen verachten es ja, Narren. Sie beschimpfen es. Sperren es ein, hinter riesigen Mauern und vergitterten Fenstern. In kleinen Zellen. Doch sie begreifen nicht wie vollkommen sinnlos diese Handlungen sind, fast paradox. Sie können die vollkommene Freiheit nicht einsperren, das ist lächerlich.

Wieso wage ich es nicht? Wieso verharre ich im Dunkeln? Immer nach Luft ringend, die Hände zu Fäusten geballt und den Körper verkrampft.

Jeden Tag stehe ich auf nehme meine Sachen und lasse den Tag vergehen. Schüler, Kessel, Lehrer, Pergament, Kerker - wie ein Karussell. Immer schneller dreht es sich, die Konturen verwischen und die Inhalte verblassen. Alles was ich sehe ist schwarz.



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