Bittersüsser Nachtschatten

 

 

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Kapitel 3 

 

Severus hatte Hogwarts seit einigen Jahren hinter sich gelassen. Er war Jahrgangsbester gewesen, doch Professor Blimp hatte durch persönliche und sehr engagierte Vorsprache bei allen in Frage kommenden Institutionen dafür gesorgt, dass er keine Arbeitsstelle fand. Sie war der Meinung, dass Snape nun endlich alt genug sei, um ihn nach Askaban zu bringen, wo er hingehörte. Nach Askaban, wo seine Eltern inzwischen gestorben waren. Doch leider hatte sie nichts in der Hand, was dies hinreichend begründet hätte. Seitdem war einige Zeit vergangen, die alte Blimp sowie der Schulleiter und der Hausmeister mit der "Folterkammer" waren in den Ruhestand versetzt worden, Snape hatte Hogwarts vergessen, und Hogwarts hatte Snape vergessen. Während seine ehemaligen Klassenkameraden, trotz weniger glänzender Abschlussnoten, an den verschiedensten Orten Karriere machten, lebte und arbeitete Snape im Herrenhaus der Malfoys, wieder einmal in den Keller verbannt wie etwas, das zu peinlich war, um es bei Tageslicht irgendwem zu zeigen. Dort unten in seinem Reich braute er Tränke, vor allem natürlich stets neuen Nachschub eines ganz bestimmten Trankes, und lebte von der Gnade Lucius Malfoys. Abends versammelte sich die alte Bande meist in seinem Keller, und dann tranken sie gemeinsam ihr Elixier der schönen Träume. Tagsüber ließen sie Snape allein, und auch nachts schienen sie immer unterwegs zu sein, nachdem sie sich mit dem Trank in ein Hochgefühl von Macht und Stärke versetzt hatten. Nie erzählten sie ihm von ihren Unternehmungen, aber es schienen furchtbar wichtige Dinge zu sein. Jedenfalls taten sie so.
Eines Tages kamen sie schon morgens in seinen Keller hinab. Sie rochen nach Wald und waren noch ausgelassener als sonst. An ihren Armen hatten sie seltsame Tätowierungen. Sie feierten irgendetwas, mit einer Extraportion des Trankes, und er durfte mitfeiern. Aber was sie feierten, sagten sie ihm nicht.

Nicht lange danach ließen sie ihn wissen, dass sie seinen Trank nicht mehr brauchten. Snape geriet in Panik. Wenn sie das Zeug nicht mehr brauchten, brauchten sie ihn nicht mehr. Wo sollte er hin? "Warum wollt ihr kein Elixier mehr?", fragte er mit ununterdrückbarem Zittern in der Stimme, und dann versuchte er es mit Erpressung: "Ich glaube nicht, dass ihr ohne meinen Trank leben könnt. Ihr seid süchtig, ihr werdet nach drei Tagen auf den Knien darum betteln!"
Lucius winkte verächtlich ab: "Das Zeug hat kaum noch eine Wirkung auf uns. Der Gewöhnungseffekt. Das musste ja irgendwann so kommen. Wir haben etwas Neues, was uns einen besseren Kick gibt."
Snape schluckte trocken. Konnte es sein, dass jemand ihn, den Meister im Tränkebrauen, überflügelt und nutzlos gemacht hatte? "Was ist es?", stammelte er kaum hörbar.
Lucius beugte sich zu ihm herunter und flüsterte geheimnisvoll, obwohl weit und breit niemand war, der sie hätte belauschen können: "Kennst du den Imperiusfluch?"
Snape nickte.
Lucius grinste: "Klar, warum frage ich überhaupt? Du kanntest schon als Erstklässler alle Unverzeihlichen Flüche. Aber weißt du auch, was für ein geiles Gefühl es sein kann, beherrscht zu werden?"
Snape schüttelte den Kopf und sah ihn verständnislos an. Er stellte es sich schrecklich und demütigend vor, unter dem Imperiusfluch zu stehen, des eigenen Willens beraubt und zu Sklavenhandlungen verurteilt.
Lucius schien seine Gedanken zu erraten: "Du denkst, es ist nicht gerade toll, was? Aber wenn du den richtigen Meister findest, ist es eine Erfahrung, die viel berauschender ist als jeder bescheuerte Trank. Totale Hingabe, verstehst du? An den, den du verehrst. Er zwingt dich zu allerhand irren Taten, die du normalerweise nie wagen würdest."
Severus versuchte den Sinn dieser Worte einigermaßen nachzuvollziehen, aber es fiel ihm schwer. Alles, was er verstand, war, dass er nun wie ein herrenloser Hund auf der Straße sitzen würde. Müde schlurfte er in eine Ecke, zog seinen Koffer hervor und ließ mit dem Zauberstab etliche Habseligkeiten in den Koffer segeln.
"Was machst du da?", fragte Lucius mit scheinbarem Erstaunen.
"Ich gehe", murmelte Snape.
Doch Lucius hielt ihn am Arm fest: "Aber nein! Lieber Severus! Wie kannst du nur glauben, dass wir dich einfach so gehen lassen? Du bist doch nicht nur unser Tränkebrauer, sondern unser Freund!"
Ungläubig starrte Snape ihn an, und für einen Augenblick regte sich eine unsinnige Hoffnung in ihm.
"Du bleibst", bestimmte Lucius, "wir brauchen ja noch andere Tränke als den einen. Und du sollst teilhaben an unseren neuen Genüssen. Komm heute Nacht mit zu unserem Meister! Auch er wird dein Freund sein wollen, glaub mir!" Lucius' Augen glitzerten, und sein schmieriges Lächeln wurde sehr breit.

In dieser Nacht bekam auch Severus das Brandmal auf den Unterarm geprägt. Er musste sich dabei fast übergeben, nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor Widerwillen. Es war erniedrigend, und er hasste nichts mehr als Erniedrigung, die er zu oft erfahren hatte. Doch offensichtlich war es nötig, um weiterhin dazu zu gehören. Zu seinen alten und neuen "Freunden" und zu ihm, dem Meister, Lord Voldemort. Zugegebenermaßen faszinierte ihn der Meister. Er schien immense magische Kräfte zu besitzen, und er strebte nach nicht weniger als der Weltherrschaft. Er war rücksichtslos und hatte sich sicher nie so viel gefallen lassen wie der dumme, kleine Severus Snape. Bestimmt konnte man viel von ihm lernen.

Als Snape das erste Mal mit dem Imperius-Fluch belegt wurde, fühlte er sich noch elender als beim Einbrennen des Mals. Dies hier war die größte denkbare Erniedrigung. Er war Voldemorts Spielzeug, und der Meister ließ ihn eine Reihe unsinniger Dinge tun, unter dem Gelächter der anderen Todesser. Es war wie damals, als die versammelten Schüler laut lachend aus ihrem Versteck hervorgebrochen waren, gerade in dem Moment, als er das Mädchen küssen wollte. Snape wusste, dass man sich mit einem starken Willen gegen den Imperius-Fluch zur Wehr setzen konnte, aber er schaffte es nicht. Er war zu schwach. Natürlich.

Im Laufe der Wochen gewöhnte sich Severus an den willenlosen Zustand unter Voldemorts Imperius-Fluch. Tatsächlich begann er allmählich, die Freuden dieses Zustandes zu erleben, von denen Malfoy gesprochen hatte. Es tat auf seltsame Weise gut, sich ganz fallen zu lassen, selbstvergessen zu tun, was der Meister verlangte, nichts entscheiden, nichts verantworten zu müssen. Es ähnelte tatsächlich dem Rausch durch den Trank. Es befriedigte. Und es sicherte ihm seine Zugehörigkeit. Die Stunden, in denen er Voldemorts Sklave war, erfüllten ihn mit einem Gefühl totaler Zugehörigkeit. So ähnlich stellte er es sich vor, geliebt zu werden.

Und dann kam der große Tag. Lord Voldemort ehrte seinen treuen Diener Severus Snape vor allen anderen. Es war ein so ganz anderes Gefühl, als vor aller Augen in der Ecke zu stehen und als Beispiel für menschlichen Abschaum ausgestellt zu werden. Sehr ungewohnt, sehr rauschhaft, besser als jeder Trank oder Fluch. Severus spürte, dass er alles tun würde, nur um dieses Gefühl noch ein paar Mal in seinem Leben erfahren zu dürfen. Und Voldemort versprach ihm eine Belohnung für seinen treuen, bedingungslosen Gehorsam. Er sollte zum ersten Mal eine wahrhaft würdige Aufgabe erhalten, die kleinen Spielchen zur Brechung des Willens waren vorbei. "Ich werde dich jetzt mit dem Imperius-Fluch belegen", verkündete Voldemort feierlich, "und du wirst große Dinge tun." Mehr verriet er ihm nicht. Wenn er erst unter dem Fluch stand, würde er genau wissen, was er zu tun hatte.

Snape fühlte, wie sein Wille, seine Gefühle, sein ewiger Schmerz von ihm abfielen. Er tauchte hinein in einen wohligen Nebel und versank immer tiefer darin. Die anderen hörten ihn wohlig aufstöhnen. Undeutlich nahm er wahr, wie er sich durch den Wald bewegte. Dann stand da ein Mann vor ihm. Nein, er kniete. Wie er selbst so oft, in der Ecke des Klassenzimmers. Und in seinen Augen stand nackte Angst. Snape wusste nicht, wer der Mann war oder was ihm solche Angst machte. Es war doch alles so wundervoll hier. Sie schwebten auf einer Wolke aus Glück. Snapes Hand mit dem Zauberstab darinnen streckte sich nach vorn und wies auf den Mann. Wie durch eine Schicht aus dicken Polstern hörte er ihn schreien. Doch die Stimme in seinem Kopf war lauter, und sie sagte unaufhörlich: "Avada Kedavra!" Snapes Lippen begannen, die Worte mitzuformen, lautlos zuerst. Dann straffte sich sein Körper, er fühlte sich von einer Welle magischer Kraft durchströmt und rief laut und deutlich: "Avada Kedavra!" Irgendwo hinter dem Nebel zuckte ein grünes Licht. Dann wurde plötzlich der Imperius-Fluch von ihm genommen. Severus Snape erwachte wie aus einem tiefen Traum und sah sich um. Wo war er? Sein Blick fiel auf die verkrümmte Leiche vor ihm, dann auf den Zauberstab in seiner Hand. Von mehr als nur einer bösen Ahnung gepackt, befahl er mit tonlosem Flüstern dem Zauberstab: "Priori Incantatem!" Und der Zauberstab zeigte ihm seinen letzten Fluch. Er sah das Abbild eines Mannes, der, von einem grünen Blitz getroffen, leblos in sich zusammensank. Snape rannte ein paar Meter weit und übergab sich. Er rannte weiter und weiter.

Es schienen ihm Tage, die er nur gerannt war, fast ohne Pausen. Er war nicht zum Haus der Malfoys zurückgekehrt. Es war ihm auch niemand gefolgt. Sie schienen sich sicher zu sein, dass er zurückkehren würde, so wie er sich immer sicher gewesen war, dass sie erneut nach seinem Trank fragen würden. Warum aber hatten seine Füße ihn ausgerechnet hierher getragen? An einen Ort, den er Tausende Male verflucht hatte, an den er nicht mehr gehörte und nie gehört hatte. Und doch war es die einzige Zuflucht, die er kannte. Es gab den unterirdischen Gang tatsächlich noch immer, und er führte in das vertraute Kellerloch, und niemand schien es nach ihm und Malfoy entdeckt zu haben, denn sogar seine Gläser und Flaschen standen noch da, als wäre er erst gestern gegangen. Nur die dicke Staubschicht auf dem Glas verriet, dass es nicht so war. Sie verdeckte die Etiketten, doch Snape fand mit einem einzigen Griff die richtige Flasche. Bittersüßer Nachtschatten (Solania dulcamara).

Mit geübten Handgriffen stellte er die Mischung her. Eine neue Mischung. Der Anteil an Bittersüßem Nachtschatten war höher denn je. Das Elixier roch süßer denn je und bitterer denn je. Dies war sein neuestes, sein letztes Experiment. Und er kannte bereits das Resultat. Seine Hand zitterte nicht, als er das dampfende Glas an die Lippen setzte.

 

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