phoenixfedern

 

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Kapitel 20


Ich hatte den Brief mehrmals hintereinander durchgelesen. Erst einmal überflogen, dann sorgfältig, Wort für Wort. Wahrscheinlich in der idiotischen Hoffnung, dass die Worte ihren Sinn verändern würde. Dass ich dann vielleicht gerade etwas anderes lesen würde, als Harry Potters Abschiedsbrief. Leider taten sie mir diesen Gefallen nicht. Stur blieben die mit schwarzer Tinte hingeworfenen Worte auf ihrem Platz, und so sehr ich auch geistig flehte, veränderte nicht ein Buchstabe seinen Platz, geschweige denn ein Satz seinen Sinn. Der Brief blieb, was er war. Ein Abschiedsbrief.

Und zwar einer der Sorte, die ich niemals hatte bekommen wollen. Weil das, was in dem Brief stand, so verdammt logisch konzipiert war, so übersichtlich und nüchtern, dass er einen fatalen Fehler vollkommen übersehen hatte. Denn inmitten einer solchen Nüchternheit übersieht man schnell, das ein grundliegender Faktor fehlt: Nämlich der, dass das, was manche Leute 'Schicksal' nennen sollen, sich niemals irrt. Dass alles immer irgendeinen Sinn hat.

Es ist, als würde man versuchen, einen komplizierten Trank im falschen Kessel zu brauen. Als würde man, zum Beispiel, für den Wolfsbanntrank mit einem silbernen Kessel arbeiten wollen. Dann können alle Zutaten, Schneidegrößen, Garzeiten, Wassergrade und Reihenfolgen noch so richtig sein - das Ergebnis wird völlig wirkungslos sein. Und die Folgen wären fatal. Und genau dieser Fehler war in diesem Brief aufgetaucht.

Vielmehr war es ein Brief der Sorte, die mir in den dunkelsten Stunden meines Lebens aus der Feder geflossen waren.

Vielleicht war es genau das, was mich so an diesem Brief schockierte. Das er klang, als hätte ich ihn geschrieben. Zu nüchtern. Zu kalt.

Es klang nicht nach dem jungen Schüler, den ich sieben Jahre lang unterrichtet hatte. Es war nicht das, was ich kannte. Keine Spur mehr von der Selbstherrlichkeit, dem Egoismus und dem Heldentum, den ich so an dem Jungen bemängelt hatte - es hatte mich so verdammt an den Vater erinnert, der immer Held sein wollte, ganz egal ob jemand einen Held brauchte oder nicht.

Mitten in meine Überlegungen hinein hallten mehrere helle Glockenschläge, die mich zusammenfahren ließen. Wo zum Teufel kam hier eine Glocke her? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, und lauschte erst in die Stille des Hauses, um dann den Brief noch mal zu lesen. Wahrscheinlich hatte ich es mir nur eingebildet. Und dann wäre ignorieren das beste.

(Mehr als alles überrascht mich heute noch, dass ich damals so verwirrt war, dass ich meinem Verstand nicht mehr traute... nicht mehr trauen konnte. Es war der einzige Zeitabschnitt meines Lebens, in dem mich diese Zweifel befielen.)

Ich hatte noch nicht einmal die ersten Sätze gelesen, als ich die Glockenschläge wieder hörte. Diesmal mehrere hintereinander, drängend, hektisch. Wo sollte bitte hier eine - verdammt. Die Türglocke.

Fluchend schälte ich mich aus meinem Sessel, legte die Rolle auf den kleinen Tisch und eilte zur Tür.

Als ich die schwere Eichentür öffnete, schlug mir die eisigkalte Nachtluft entgegen. Draußen herrschte schwarze Nacht, und das einzige Licht, das auf meinen späten Besucher fiel, kam aus dem Inneren des Hauses.

"Guten Abend, entschuldigen Sie die Störung, darf ich reinkommen?"

Wortlos trat ich einen Schritt zurück, und Arthur Weasley betrat mein Haus. Er war sichtlich komplett durchgefroren und aufgelöst. Und ganz offensichtlich hatte er keine guten Nachrichten für mich.

"Möchten Sie eine Tasse Tee?"

In einem seltsamen Anfall von Gastfreundschaft wollte ich ihn in mein Wohnzimmer bitten, damit er sich aufwärmen konnte, aber er winkte ab.

"Ich will Sie nicht länger belästigen, ich habe auch nur eine Frage... Haben Sie vielleicht etwas von Harry gehört?"

Eigentlich war es keine Frage, die er an mich hatte. Vielmehr war es aber ein verzweifelte Appell, irgendetwas zu tun.

"Was ist passiert?"

Weasley holte Luft, seufzte tief und verzweifelt.

"Er ist letzte Nacht verschwunden, und ich dachte, vielleicht... Vielleicht hätte Sie eine Ahnung, wo er sein könnte.."

Also meinte er es ernst. Harry Potter war tatsächlich dabei, irgendwo in einer einsamen Ecke dieser Welt Selbstmord zu begehen. Oder hatte es schon getan. Hätte ich das Pergament doch früher gelesen..

"Ich habe keine Ahnung."

Sämtliche Hoffnung wich aus Weasleys Blick. Anscheinend war ich sozusagen die 'letzte Hoffnung' gewesen.

"Ich verstehe. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend. Gute Nacht."

Damit drehte er sich um und wollte gehen. Noch bevor er allerdings aus der Tür hinaus war, hatte ich eine Winterrobe samt Umhang gegriffen, und war ihm gefolgt. Er sah mich kurz überrascht an, dann verstand er und nickte.

Hinter uns schlug die schwere Tür zu, und die Kälte der Nacht umfing uns. In meinem Kopf rasten die Gedanken. Wo würde ich hingehen, wäre ich Harry Potter und würde mich umbringen wollen? Irgendwohin, wo sich um diese Uhrzeit niemand aufhalten würde. Irgendwohin, wo sich keine lebende Seele aufhalten würde.. keine lebende Seele.. keine Seele..

"Mr. Weasley, suchen Sie weiter. Ich melde mich wieder bei Ihnen."

Mit einem letzten Blick in den schwarzen Nachthimmel und einem Stoßgebet zu den Sternen, dass meine Vermutung richtig wäre, apparierte ich. Spätestens jetzt war mir klar, dass diese Nacht keine angenehme werde würde.

Es wurde immer kälter.


Kapitel 19

 

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