Gefangen

 

 

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Kapitel 10: Mehr Blut

 


"Mein Gott, bin ich müde", stöhnte Madame Pomfrey und ließ sich in einen Stuhl fallen. Eine kalte Dezembersonne ging soeben auf, und sie hatte, assistiert von Dumbledore und McGonagall, die ganze Nacht über an Severus gearbeitet. Doch noch immer war der Zustand des junge Zauberers sehr bedenklich. Sie hatte es soweit geschafft, seine gebrochenen Rippen und das Schlüsselbein zu heilen, ausserdem die schlimmsten Schäden an seinen inneren Organen, aber es hatte sie unsäglich erschöpft. Minerva hatte mit Zaubersprüchen und Wadenwickeln geholfen das Fieber zu senken, und Albus hatte beim magischen Behandeln und Verbinden der weniger schweren Wunden assistiert und mit gemurmelten Zaubersprüchen die Cruciatus-Nachwirkungen und die Schmerzen etwas gelindert. Ohne ihre Hilfe wäre sie inzwischen sicherlich schon vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen.

Was ihr wirklich Sorgen bereitete, war der hohe Blutverlust. Es war absolut unmöglich, diesen nur mit Hilfe von Zaubersprüchen zu behandeln. Und wenn es ihr nicht gelang, Severus' Kreislauf zu stabilisieren, bevor der Effekt des Einhornblutes verklang, würde er mit Sicherheit trotz aller ihrer Bemühungen sterben. Natürlich gab es da noch die Muggel Methode, aber zuerst müssten geeignete und willige Blutspender gefunden werden. Das Problem dabei war, dass die Snapes eine der ältesten und reinblütigsten Zaubererfamilien in ganz Großbritannien waren. Und man musste Spender finden, deren Blut mindestens ebenso rein war wie das des Empfängers, ansonsten verklumpten die Magizyten und würden eine tödliche Reaktion auslösen. Niemand aus dem Lehrerkollegium erfüllte die Kriterien, nicht einmal Professor Dumbledore. Blieben noch die Schüler ...

"Minerva, wissen Sie, ob zur Zeit Schüler in Hogwarts sind, die von ebenso alter und reinblütiger Abstammung sind wie Severus? Ich muss eine Bluttransfusion durchführen, und dies so bald wie möglich, sonst hat er keine Chance."

"Ich werde die Akten durchschauen, Poppy, aber das wird einige Zeit in Anspruch nehmen, fürchte ich", antwortete McGonagall, wobei sie mit Mühe ein Gähnen unterdrückte. Dann wandte sie sich dem Direktor zu. "Ich müsste ausserdem meinen heutigen Verwandlungsunterricht absagen."

"Bitte, tun Sie das, Minerva. Und falls sich geeignete Spender unter den Schülern finden, bringen Sie sie umgehend hierher. Wir haben keine Zeit zu verlieren", drängte Dumbledore. "Und Sie, Poppy, legen sich erst einmal ein Weilchen hin. In Ihrem jetzigen Zustand sind Sie bestimmt keine große Hilfe für Severus. Ausserdem denke ich, dass der arme Junge im Moment nicht viel mehr aushalten kann. Jede Form der Magie ist letztendlich anstrengend für den Organismus, auch Heilungszauber. Und er war in den letzten Wochen ohnehin schon viel zu viel Magie ausgesetzt." Er seufzte schwer.

"Aber es ist immer noch so viel zu tun ...", wandte die Medihexe ein.

"Die verbliebenen Verletzungen müssen eben etwas warten. Sie sind nicht direkt lebensbedrohlich, oder?"

"Nein, aber ..."

"Kein ‚aber', Poppy. Und lassen Sie sich etwas Frühstück bringen. Ich bleibe so lange bei Severus. Und jetzt hinaus mit Ihnen. Und Sie ebenfalls, Minerva."

***



In ihrem Büro angekommen, nahm McGonagall sich Severus' alte Schülerakte vor. Die Akten der Angestellten hatte Dumbledore in seinem eigenen Büro, aber diese hier würde ihren Zweck genauso gut erfüllen. Dank der vielen Einträge über die ständigen Zwistigkeiten zwischen dem Slytherin und den ‚Herumtreibern' war sie fast ebenso umfangreich wie die der Weasley-Zwillinge. Und dies waren nur die Zwischenfälle, die von einem Vertrauensschüler oder einem Lehrer gemeldet worden waren. Wie viele mehr es gegeben hatte, konnte sie nur erahnen. Und immer waren es vier gegen einen gewesen. Dem Slytherin wurde regelmäßig die meiste Schuld an allem zugeschoben. Und die höchsten Punktabzüge und das längste Nachsitzen. Nur weil er keinen anderen Weg gesehen hatte sich zu verteidigen, als die Zaubersprüche und Flüche anzuwenden, die er zu Hause gelernt hatte - leider Gottes ausnahmslos ziemlich schwarze Magie. Es fiel ihr noch immer schwer zu begreifen, wie sie so blind gegenüber dem gewesen sein konnte, was direkt unter ihrer Nase passiert war. Und unter Dumbledores. Kein Wunder, dass Severus schließlich Schutz in der Klicke von Slytherins rund um Bellatrix Black und Rodolphus Lestrange gesucht hatte, obwohl diese ihn, weil seine Familie nicht reich war wie die aller anderen, und trotz all seines Wissens über die Dunklen Künste und Zaubertränke, nie als ihnen ebenbürtig behandelt hatten. Von dort war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu Voldemort gewesen. Und das traumatische Erlebnis in der Heulenden Hütte hatte ihm nur bestätigt, dass ein Slytherin von einem Gryffindor keinerlei Hilfe erwarten konnte - weder vom Direktor, noch von der stellvertretenden Schulleiterin.

Nun, es half nicht viel, jetzt Geschehnissen nachzuhängen, die ohnehin nicht mehr geändert werden konnten. In der Vergangenheit hatte sie den Jungen so oft im Stich gelassen, jetzt fand sie besser schleunigst einen Weg, um ihm zu helfen. Mit der Spitze ihres Zauberstabes tippte sie auf Severus' Namen auf der Akte und murmelte: "Generis revolo", dann berührte sie damit ein leeres Blatt Pergament. Sogleich erschien der Stammbaum der Familie Snape auf dem Bogen. Jetzt musste sie diese Prozedur nur noch mit einigen hundert anderen Schülerakten durchexerzieren und die Daten vergleichen. Es würde nur einige Tage dauern ... Tage, die sie nicht hatten. Nein, Minerva, denk doch ausnahmsweise mal logisch. Was würde Severus an deiner Stelle tun. Zuerst alle Muggel-Geborenen und Halbbluts ausschließen. Das verringerte die Anzahl der möglichen Kandidaten aller Häuser, mit Ausnahme von Slytherin, schon mal um gut die Hälfte. Und Geschwister brauchte sie nur einmal zu überprüfen. Oder vielleicht auch nicht, sicher ist sicher. Slytherin sollte eigentlich die höchsten Erfolgsaussichten bieten, aber es gab auch immer einige Reinblütler aus alten Zauberergeschlechtern in den anderen Häusern. Einen gewissen Sirius Black zum Beispiel. Aber jetzt, wo er Severus zur Abwechslung einmal hätte helfen können statt sein Leben zur Hölle zu machen, hatte der Gryffindor es geschafft, sich abmurksen zu lassen. Immerhin waren da noch die Longbottoms und die Weasleys. Sie würde es zuerst mit diesen versuchen, und mit Draco Malfoy. Der Slytherin würde seinem Hauslehrer bestimmt nur zu bereitwillig helfen. Etwas, das man wahrscheinlich nicht von den anderen Kandidaten behaupten konnte. Aber sie würde sie schon dazu bringen, und wenn sie sie mit ihrem Zauberstab dazu zwingen musste ...

"Accio Neville Longbottom, Accio Ronald Weasley, Accio Ginevra Weasley, Accio Draco Malfoy!", rief die Hexe aus und richtete ihren Zauberstab auf die Schubladen, in denen die Akten verstaut waren. Vier Aktenordner schwebten heran und breiteten sich auf ihrem Schreibtisch aus.

"Nun, lasst uns nachsehen." Sie wiederholte den Generis revolo-Zauber mit den Namen auf den Aktenordnern, so dass sie am Ende vier weitere Stammbäume vor sich liegen hatte. Rons und Ginevras waren in der Tat identisch. Nicht, dass sie bei Molly und Arthur Weasley je etwas anderes vermutet hätte, aber besser auf Nummer Sicher gehen ... Jetzt machte McGonagall mit einem einfachen Duplikationszauber Kopien von Snapes Stammbaum, legte je eine davon mit der Schrift nach unten auf die anderen vier Stammbäume und murmelte: "Comparatio."

Die Schrift auf den Pergamenten begann zu glühen und schien für einige wenige Augenblicke ineinander zu sickern. Dann erschienen die Ergebnisse auf der Rückseite.

Bingo! Das war sogar besser als sie erwartet hatte. Sowohl die Malfoys als auch die Weasleys waren exakt genauso alt und reinblütig wie die Snapes, und die Familie Longbottom konnte sogar noch über zwei Generationen weiter zurück verfolgt werden. Manchmal zahlte sich der Gebrauch von Logik doch aus, das musste sie zugeben. Aber nur sich selbst gegenüber. Sie würde die Schüler gleich einsammeln und zum Krankenflügel bringen. Ronald wusste wahrscheinlich ohnehin schon, was passiert war, da sie in ihrer Aufregung vollkommen vergessen hatte, Miss Granger zu sagen, dass sie nicht über die Geschehnisse der letzten Nacht sprechen sollte. Und falls Poppy noch mehr Spender benötigen sollte, konnte sie später zurückkommen und weitere Akten überprüfen. Oder die anderen Mitglieder der Weasley-Familie herbeirufen. Severus würde zwar bestimmt nicht begeistert sein, in ihrer Schuld zu stehen, und ausgerechnet Neville Longbottom sein Leben zu verdanken wird ihn sicherlich schwer treffen, aber es war nun einmal nicht zu ändern. Und vielleicht täte Severus eine Infusion von Gryffindor Blut nur gut, wer weiss? Bei diesem Gedanken konnte die gestrenge Hexe ein Lächeln nicht unterdrücken.

***



"Bitte warten Sie einen Augenblick hier. Ich bin sofort zurück und erkläre Ihnen alles", sagte McGonagall und schob die drei Gryffindors und den einen Slytherin in den kleinen Wartesaal im Krankenflügel. Sie hatten alle nicht die leiseste Ahnung, weshalb sie hier waren, aber da die drei Sechstklässler aus einer todlangweiligen Stunde bei Professor Binns herausgerufen worden waren, machte ihnen dies nicht viel aus. Nur Ginny war ein wenig enttäuscht darüber, dass sie ihr Lieblingsfach, Kräuterkunde, verpassen würde.

Als sie ihren Bruder draussen vor dem Gewächshaus hatte warten sehen, hatte die alte Angst von ihr Besitz ergriffen, etwas könnte ihrer Mutter oder ihrem Vater oder einem ihrer älteren Brüder, die alle für Dumbledores Phönixorden arbeiteten, zugestossen sein. Seit jenem Tag, an dem Mr. Weasley während seines Dienstes für den Orden von Voldemorts Riesenschlange gebissen worden war, wurde sie von Alpträumen geplagt, die allesamt vom gewaltsamen Tod eines Familienmitglieds handelten. Wenn sie jetzt gerade einem Boggart begegnen würde, nähme er mit Sicherheit fast die gleiche Gestalt an wie der ihrer Mutter im Grimmauld Platz. Aber wenn ihrer Familie etwas passiert war, warum waren Neville und Draco Malfoy dann hier? Und warum hatte McGonagall sie, ohne ein einziges Wort zu sagen, zum Krankenflügel geführt?

Harry konnte ausnahmsweise einmal nichts zugestoßen sein. Sie hatte ihn erst vor kurzem in der Großen Halle bei einem herzhaften Frühstück gesehen. Nur Hermine war anders gewesen als sonst. Die Gryffindor Vertrauensschülerin hatte ausgesehen, als hätte sie die ganze Nacht lang nicht geschlafen, und sie war zu spät zum Frühstück gekommen, was sonst eigentlich nie passierte. Sie hatte die Große Halle verlassen, ohne auch nur ein einziges Wort mit jemandem zu wechseln, nicht einmal ‚hallo', und hatte auch ihr Essen nicht angerührt. Aber warum sollte Malfoy hier sein, wenn etwas mit Hermine nicht stimmte? Sie ging doch nicht etwa mit dem arroganten Slytherin aus? Obwohl, Malfoy war in letzter Zeit gar nicht so überheblich und giftig gewesen wie sonst. Genaugenommen seit dem Tag, an dem Professor Snape verschwunden war. Ein weiteres, ungelöstes Rätsel. Im Moment stand Malfoy abseits von den anderen Jungen in einer Ecke des kleinen Zimmers, hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und starrte finster vor sich hin. Aber irgendwie kam es Ginny vor, als sei er unter der düsteren Fassade eher unsicher und nervös. War das möglich? Neville schien natürlich immer unsicher und nervös zu sein, wenn er nicht gerade im Gewächshaus arbeitete, obwohl es schon viel besser geworden war, seit er bei Dumbledores Armee mitmachte. Er war auch ein ganzes Stück gewachsen und war nicht mehr der pausbackige, untersetzte Junge, den sie während ihrer ersten Fahrt mit dem Hogwartsexpress kennengelernt hatte. Wenn man genauer hinschaute, sah er eigentlich sogar ganz gut aus ...

Quietschend öffnete sich die Tür und McGonagall betrat den Raum. Sie blickte so streng und ernst wie immer, als sie mit ihrer Erklärung begann.

"Wie Mr. Weasley vielleicht schon gehört hat", - ein verständnisloser Blick von Ron - "oder wohl doch nicht, wurde Professor Snape letzte Nacht lokalisiert. Genauer gesagt, hat Miss Grangers Katze ihn schwer verletzt aufgefunden. Um das Leben Ihres Lehrers zu retten, bitte ich Sie nun um eine Blutspende. Mancher von Ihnen mag Professor Snape vielleicht nicht sonderlich, und das liegt sicherlich zum großen Teil an ihm selbst, aber Professor Snape ist schon seit vielen Jahren ein treues Mitglied des Phönixordens und hat mehr als einmal geholfen, Harry Potters Leben zu retten. Er verdient es, gerettet und respektiert zu werden - trotz all seiner Unzulänglichkeiten. Wenn Sie mir bitte folgen würden ..."

Zu Ginnys Erstaunen hatte Draco Malfoy nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als McGonagall Snape ein treues Ordensmitglied genannt hatte. Als Sohn eines flüchtigen Todessers sollte er die Neuigkeit eigentlich nicht so ruhig aufnehmen, oder? Aber statt Abscheu und Verachtung war echte Besorgnis in seinem Gesicht zu lesen. Etwas stimmte nicht mit dem Slytherin, ganz bestimmt nicht. Das war nicht der Malfoy, den sie nun schon seit über vier Jahren kannte. Hatte er sich tatsächlich verändert?

Ron jedenfalls hatte sich nicht verändert. Er sah aus, als hätte McGonagall ihn gebeten, Schnecken zu schlucken. Er und Harry hatten die Abwesenheit ihres verhassten Lehrers in vollen Zügen genossen. Wenn Ron, wie sein Freund Harry, nicht so scharf darauf gewesen wäre Auror zu werden, hätte er Zaubertränke mit Sicherheit, und ohne auch nur einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, abgegeben. Dummerweise mussten zukünftige Auroren das Fach beibehalten und benötigten sogar gute Noten darin. So kam es, dass die Jungen weiterhin mit Snape Vorlieb nehmen mussten - und Snape mit ihnen - eben bis zu diesem denkwürdigen Montag im November. Ron hatte damals über Snapes mutmaßlichen Tod Witze gerissen, und Harry hatte nicht eine Gelegenheit verpasst eine Bemerkung darüber zu machen, dass Snape sicher wieder die Seiten gewechselt hatte. Offensichtlich hatte er sich einmal mehr in dem Mann getäuscht. Und Snape musste wohl ernsthaft verletzt sein, wenn er eine Bluttransfusion brauchte. Normalerweise verabreichten die Heiler einfach einen Blutvermehrungs-Trank. Das hatten jedenfalls die Heiler in St. Mungo's mit ihrem Vater gemacht, als er nach dem Angriff der Schlange fast verblutet wäre. Wenn Snape sich all diese Wochen in den Klauen der Todesser befunden hatte, dann ging es ihm wahrscheinlich noch viel dreckiger als Mr. Weasley damals. Aber warum hatte Voldemort den Verräter nicht einfach getötet?

Neville sah ziemlich blass und nervös aus, wenngleich nicht so angeekelt wie Ron. Er hatte schon immer unheimliche Angst vor dem Meister der Zaubertränke gehabt und lief jedes Mal die Treppen zum Kerker hinunter, als ob er zu seiner eigenen Beerdigung ginge. Aber er hatte ein weites Herz. Er würde sogar seinem schlimmsten Feind helfen, da war sich Ginny sicher. Nur, dass er kein Blut sehen konnte ...

Als McGonagall den Schülern die Tür offen hielt, war Draco der erste, der sich ihr anschloss.

"Wie geht es dem Professor?", fragte er leise.

"Nicht gut. Wir hoffen dennoch, dass wir sein Leben retten können - mit Ihrer Hilfe." Während sie die letzten Worte betonte, sandte die gestrenge Hexe Ron, der sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hatte, einen missbilligenden Blick. Wenngleich nicht ganz so tödlich wie der von Snape, so war es doch unmöglich, McGonagalls Blick zu ignorieren, und so folgte schließlich auch der Rotschopf seiner Hauslehrerin zu den Krankenzimmern, wo Madame Pomfrey sie erwartete.


 

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