Stern in der Dunkelheit

 

 

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Autorin: Smilla

 

Stern in der Dunkelheit

Es war spät am Abend, doch in der Düsternis der Nokturngasse machte das wenig Unterschied. Die junge Frau schob sich durch das Gedränge schwarzer Gestalten. Manche waren vermummt, andere zeigten grimmige oder grinsend verzerrte Fratzen, die manchem Angst eingejagt hätten, aber nicht ihr. Ihre einzige Sorge galt ihrem nun schon recht dicken Bauch, der nicht von irgendeinem Ellenbogen gestoßen werden sollte. Seltsam, dass sie sich darüber noch Gedanken machte...
Plötzlich wurde sie von einer klauenartigen Hand von hinten an der Kehle gepackt und eine heisere Stimme krächzte ihr ins Ohr: "Wohin des Wegs, junge Dame?"
Sie zog mit einer Hand die dürren Finger von ihrem Hals weg und wandte lächelnd den Kopf um. "Guten Abend, Vulpus", erwiderte sie freundlich mit ihrer hellen, fast noch kindlichen Stimme, "es geht dich nichts an, wohin ich will. Jedenfalls heute nicht in deinen Laden."
"Ooooh", machte der krähengesichtige Händler enttäuscht, "heute nichts zu kaufen oder verkaufen, mein Täubchen?"
"Nein, heute nicht." Achselzuckend zog sich Vulpus wieder in sein finsteres Geschäft zurück, in dessen Schaufenster allerhand Schrumpfköpfe, mumifizierte Spinnen und andere Abscheulichkeiten lagen. "Vulpus´ Souvenirs aus aller Welt".
Die junge Frau winkte ihm noch einmal freundlich zu und ging dann weiter, während er ihr immer noch nachsah und einige sehr komische Verbeugungen machte. Ab und zu grüßte sie jemanden auf der dunklen Straße, und einer Hexe, der ihr Beutel voller Krötenaugen heruntergefallen war, half sie, sie aufzusammeln. "Aber Kindchen!" protestierte die bucklige Alte, "wir alle wissen, dass du immer hilfsbereit bist, aber das geht zu weit. Du sollst dich in deinem Zustand nicht bücken. Steh gefälligst auf und lass mich das alleine machen, oder ich verwandle dich in eine Unke."
Die junge Frau stand auf und sagte: "Es ist ja schon gut, Madam Gruselka, ich beuge mich."
"Nein!", fauchte die alte Hexe und verdrehte wild die Augen. "Beugen wirst du dich eben gerade nicht! Mach dass du weiterkommst, Schätzchen!"
Die Angesprochene lachte und ging weiter bis zur Apotheke. Sie schlüpfte hinein und zog die Tür hinter sich zu.

Hier drinnen war es noch dunkler als auf der Straße, aber ihre Augen gewöhnten sich schnell daran und erkannten die Umrisse der unzähligen Flaschen und Tiegel in den Regalen. Die Düfte der Mixturen, die sich in der Luft des engen Raumes mischten, betäubten sie fast. Eine dunkle Gestalt löste sich aus dem Schatten hinter der Verkaufstheke. "Du bist zurückgekommen, Stella, ich wusste es", sagte eine raue Frauenstimme.
"Sie wissen so ziemlich alles, bevor es passiert, Madam Kassandra", erinnerte die junge Frau die alte.
"Mhhh-hmmmm", machte die alte Apothekerin nachdenklich, "jetzt wo du es sagst, in der Tat. Ich weiß viel, manchmal zuviel und glaube mir, es macht einen nicht unbedingt glücklicher. Also, was willst du?"
Stella lachte über die Frage, doch es klang freudlos: "Wissen Sie das nicht auch längst?"
Madam Kassandra schüttelte den Kopf: "Oh nein, mein Kind, ich weiß viel, aber nicht alles! Und hier geht es, soviel kann ich sehen, um eine Entscheidung, die du treffen musst. Die Entscheidungen der Menschen sind frei und unvorhersehbar, und sie verändern die Zukunft. Solche Dinge kann ich nicht im voraus sehen." Die Apothekerin stand jetzt direkt vor ihrer Kundin. Sie war kleiner als die junge Frau, aber dicker, auch jetzt noch. Ihr Gesicht sah uralt aus, aber ihre Augen funkelten sehr lebendig. Sie strich sich ihre struppigen grauen Haare zur Seite, so dass ihre riesigen Ohrringe sichtbar wurden, und kratzte sich mit ihren krallenartig langen Fingernägeln nachdenklich am linken Ohr. "Also, Stella, mein Kind, was führt dich zu mir?"

Stella senkte den Kopf und antwortete mit leiser Stimme: "Sie sprachen von einer Entscheidung, die ich treffen müsse... Ich habe sie bereits getroffen. Geben Sie mir das da!" Entschlossen zeigte sie auf ein Glas auf dem oberen Regal.
Madam Kassandra folgte ihrem ausgestreckten Finger mit den Augen, und als sie sah, welches Glas sie meinte, funkelten ihre Augen vor Wut. "Oh nein, mein dummes Kind! Bist du des Wahnsinns? Du wirst die alte Kassandra schon töten müssen, bevor du das bekommst!"
In Stellas großen Augen lag nun ein verzweifelter Blick, und sie flehte die Alte an: "Bitte! Machen Sie es mir doch nicht noch schwerer! Geben Sie es mir! Jetzt!"
"Den Teufel werd ich tun!", fauchte die Apothekerin, "weißt du überhaupt, was dieses Dreckszeug macht?"
"Ja", sagte Stella sehr leise und traurig, "das weiß ich: Es tötet mein Kind."
"Und eben darum wirst du es nicht für alles Geld der Welt bekommen, dumme Gans!", kreischte Madam Kassandra schrill und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, "nimm das und komm wieder zu dir!"
Stella brach weinend zusammen.

Madam Kassandra hing über dem schluchzenden Bündel und wiegte es in ihren Armen. "Dummes Kind", murmelte sie immer wieder, "dummes, dummes Kind, es wird ja alles gut."
"Nein", wimmerte Stella, "nichts wird gut, und Sie wissen es so gut wie ich. Sie haben für mich in die Kugel gesehen, weil ich das Schicksal meines Kindes wissen wollte. Und was ich gesehen habe, muss ich ihm ersparen. Töten Sie mein Kind, bevor all das anfängt! Bitte! Es soll nicht leiden!"
"Aaaach!", machte die alte Hexe ärgerlich, "ich werde es mir eine Lehre sein lassen: Lass niemals eine Schwangere in die Kugel sehen! Ihr werdenden Mütter seid so labil und kommt nur auf dumme Gedanken." Sie schüttelte angewidert den Kopf.
Stella erhob sich vom Boden und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Es sind keine dummen Gedanken, Madam Kassandra", sagte sie, "es ist die Wahrheit. Aber bitte, lassen Sie uns noch einmal Ihre Kugel über das Schicksal meines Sohnes befragen, und wenn wir irgendwo Glück in seinem Leben finden, jenseits der frühesten Kindheit, dann werde ich ihn zur Welt bringen und ihm eine gute Mutter sein, das verspreche ich. Ich würde nichts lieber tun. Aber wenn wir nichts finden, dann geben Sie mir das Mittel. Abgemacht?"
Madam Kassandra wiegte bedenklich den Kopf hin und her, dann knurrte sie: "Also gut. Die Wette gilt. Aber ich gewinne, denn irgendetwas Gutes gibt es in jedem Menschenleben."

Sie holte ihre Kristallkugel und legte sie vor sich und ihrer Besucherin auf ein Samtkissen auf einem kleinen Tisch. Milchige Schlieren durchzogen die vorher glasklare Kugel, als die Alte ihre Beschwörungsformeln murmelte.
"Wirst du mir sein ganzes Leben zeigen?" fragte Stella.
"Das kann niemand", knurrte Kassandra, "die Wege eines Menschenlebens sind zu verschlungen. Nur einzelne Bilder können wir sehen, Szenen, die von Bedeutung sind und manchmal schleierhaft. Und nun sei still, ich muss mich konzentrieren."
Stella verstummte und starrte in die Kugel, während die ersten Bilder sich zu formen begannen. Bilder folgten auf Bilder, und das Gesicht der jungen Frau wurde immer schmerzverzerrter, je mehr sie sah. Nach über einer Stunde verlosch das Licht in der Kugel.

"Da siehst du es", flüsterte die Schwangere tonlos, "ich habe gewonnen. Ich hätte so gerne verloren. Nun gib mir das Mittel!"
Aber so schell wollte sich die Alte nicht geschlagen geben. "Lass uns erst in Ruhe darüber reden", bat sie, "das Mittel läuft dir nicht weg. Du bist unerfahren mit diesen Dingen, du verstehst die Sprache des Orakels nicht. Ich muss dir die Bilder erklären."
Stella begann wieder zu weinen: "Was gibt es da noch zu erklären? In all den Bildern war mein Sohn unglücklich und einsam und verloren. Da war nirgendwo Glück in seinem Leben. Ich erspare ihm das."
"Du begehst einen schweren Fehler, mein Kind!", beharrte Madam Kassandra, "lass mich dir doch erklären... Da war ein dunkler Schatten über manchen Bildern, erinnerst du dich?"
"Ja", flüsterte Stella, "wie sollte ich nicht? Dieser Schatten war so bedrohlich, und er lag über meinem Kind!"
"Er liegt über der ganzen Welt, Stella", sagte Kassandra, "er bedroht alle. Willst du darum alle töten, die in den nächsten Jahren zur Welt kommen werden?"
Im Gesicht der jungen Frau malten sich Unverständnis und Entsetzen: "Wie meinst du das?"
"Ich habe diesen Schatten schon so oft in meinen Prophezeiungen gesehen", seufzte Kassandra, "er ist übermächtig, und er kommt bald. Nein, er ist schon da, aber bald wird seine Macht beginnen, und dann werden wir alle ihn sehen. Zauberer wie Muggel, Gute wie Böse. Alle werden unter ihm leiden, jeder auf seine Art. Wollen wir ihm die Arbeit abnehmen und vorher alle töten?"
Stella schüttelte unentschlossen den Kopf.
Madam Kassandra lächelte leicht: "Ich wusste, dass du es ihm nicht so einfach machen würdest, Stella. Du bist ein zu trotziges Kind. Hast du dich damals vielleicht von irgendwem abhalten lassen, deinen Sinistrius zu heiraten?"
"Nein", gab Stella zu.
"Nein", bestätigte Kassandra schmunzelnd, "du hast es getan, gegen den Willen deiner 'weißen' Familie und seiner 'schwarzen'. Du bist aus einer heiteren, unbeschwerten Welt hier herunter zu uns gekommen, aus freiem Willen und mit stolz erhobenem Haupt und hast ein Licht mitgebracht in unsere Düsternis. Stella, unser kleiner, heller Stern. Du weißt, wie wir dich lieben, auch die Finstersten unter uns."
"Ja, das weiß ich!", stimmte die junge Frau eifrig zu, "ihr seid meine Familie und ich liebe euch alle. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dieser... Schatten einem von euch etwas tut!"
Die Alte lachte heiser: "Was sorgst du dich um uns, Kindchen? Wir sind Kinder der Dunkelheit. Viele von uns werden ihm freiwillig folgen. Was soll man machen."
"Und mein Sohn?", hauchte Stella matt.
"Erinnere dich an die Bilder!", befahl die Alte. "Du hast es gesehen: Er hat den Schatten umarmt, nicht wahr?"
"Ja", bestätigte Stella schaudernd, "und der Schatten hat ihm sehr weh getan."
"Ja, das hat er", fuhr Kassandra ungerührt fort, "und in den anderen Bildern?"
"Hat er den Schatten... fortgestoßen, oder?"
Kassandra nickte: "Ja! Sehr mutig, nicht wahr? Der kleine Kerl gegen den großen, mächtigen Schatten. Und diesen prächtigen Menschen willst du töten?"
"Du weißt, dass ich nicht will!", protestierte Stella, "also sag mir: Wird er den Schatten besiegen? Wird er dann glücklich sein?"
Die Alte schüttelte unwillig den Kopf: "Du stellst Fragen! Wie soll ich wissen, ob er, ob irgendjemand diesen mächtigen Schatten je besiegen wird? Aber er wird gegen ihn kämpfen. Vieles wird davon abhängen, welche Entscheidungen er trifft. Aber soweit ich gesehen habe, wird er nicht glücklich sein, da bin ich ehrlich, er wird allein dastehen, er wird Angst haben und leiden und missverstanden werden... Ich will dich nicht belügen. Aber wenn du ihn fortnimmst aus dieser ganzen Geschichte, dann sieh, was passieren würde!" Sie hielt der jungen Frau die Kugel direkt vor´s Gesicht und zischte einen Zauberspruch, woraufhin das Glas kurz milchig wurde und sich dann völlig verfinsterte. Der Schatten war wieder da, und er wuchs ins Unermessliche und sprengte schließlich die ganze Kugel, die in tausend Scherben zersprang.
Erschrocken ließ Stella die Überreste fallen und besah sich ihre blutigen Hände.
"Dein Sohn wird gebraucht!", sagte die alte Frau eindringlich. "Du hast kein Recht, ihn uns zu nehmen! Er ist ein Wanderer zwischen den Welten von Hell und Dunkel, und solche haben es niemals leicht. Aber du hast kein Recht, ihn uns zu nehmen!"

Stella sah die alte Frau mit tränengefüllten Augen an. Dann ging sie zur Tür mit den Worten: "Ich werde ihn euch nicht nehmen. Ich mache mir nichts vor, ich werde nicht lange für ihn da sein können. Ich habe auch gesehen, was aus mir und aus Sinistrius werden wird. Aber solange ich noch kann, werde ich meinem Sohn soviel Gutes mitgeben, wie irgend möglich."
"So ist es brav, meine Kleine", sagte Madam Kassandra zufrieden. Sie wies mit einer ausladenden Armbewegung über all die geheimnisvollen Gläser und Tiegel in den Regalen und fügte hinzu: "Und ich werde ihm all das hier mitgeben, solange ich kann! Und schick mir eine Eule, wenn es soweit ist. Ich bin die beste Hebamme weit und breit."
"Das weiß ich", sagte Stella lächelnd, "ach übrigens: Wie soll ich den Kleinen nennen?"
"Severus", antwortete die Alte ohne Zögern.
Stella verzog den Mund: "Severus? Heißt das nicht 'der Strenge'? Kein besonders schöner Name für ein kleines Kind."
"Aber ein kraftvoller Name", widersprach Kassandra, "er wird ihn brauchen. Er wird streng sein müssen, vor allem mit sich selbst, um zu überleben."
"In Ordnung", gab Stella Snape nach, "wir sehen uns in etwa einem Monat."

 

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