Kinder der Nacht

 

 

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Kapitel 3: Gebrochene Herzen 

 

Der Dunkle Lord sah von seinem erhöhten Sitzplatz auf den Mann nieder, der den Saum seines Umhangs küsste. Er liebte diese Zeremonie. Seine Untergebenen verehrten ihn wie einen König, beinahe schon wie einen Gott. Während er seinen Blick durch den großen, von Hunderten von Kerzen erleuchteten Saal schweifen ließ, strömte ein wohliges Gefühl von Macht, von totaler Kontrolle durch seine Adern. Er wusste nicht genau, wie viele Hexen und Zauberer ihn in diesem Moment mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung ansahen, doch es mussten weit über 300 sein. Und alle waren ihm absolut treu ergeben. Dafür hatte er gesorgt. In seinen Reihen, davon war er überzeugt, gab es nicht das geringste aufrührerische Potential.
"Erhebe dich, Giftmischer!" Voldemort nickte dem jungen Mann anerkennend zu. Severus Snape war einer seiner liebsten Todesser. Er war jung, intelligent, hungrig nach Wissen - und, was das Wichtigste war, absolut skrupellos. Auf solchen Zauberern würde er sein Reich errichten.

Das großangelegte Todessertreffen fand in Malfoy Manor statt, dem Stammsitz der Familie Malfoy und Wohnsitz des derzeitigen Oberhauptes Lucius Malfoy und seiner Frau Narcissa. Obwohl beide noch jung - kaum älter als Severus - waren, zählten sie zu den Vertrauten des Dunklen Lords und galten als fähige schwarze Magier. Das Herrenhaus war mehrere hundert Jahre alt und wie geschaffen für eine Versammlung dieser Art. Die Malfoys luden zwar sehr häufig Gäste ein, doch die Anwesenheit von Voldemort selbst war äußerst rar und gab dem Ganzen einen offiziellen, förmlichen Charakter. Severus graute schon seit Tagen vor dieser Feier. Er wusste nur zu gut, was diese Partys eigentlich waren: Orgien mit Unmengen von Sex, Alkohol, Drogen - und Blut. Es gehörte dazu, dass Muggel und Schlammblüter zur allgemeinen Belustigung zuerst gequält und dann getötet wurden. Voldemorts Gegenwart würde nichts an all dem ändern. Im Gegenteil, schließlich war es notwendig, seine Anhänger irgendwie bei Laune zu halten ...

Als der offizielle Teil zu Ende war, rief Malfoy persönlich seine Gäste dazu auf, sich zu "amüsieren". Mit einem Schlag lösten sich die vorher so militärisch geordneten Reihen in ein undurchdringliches Gewühle und Gedränge auf. Severus stöhnte bei dem Gedanken, dass er zumindest ein paar Stunden bleiben musste, um nicht unangenehm aufzufallen. Er gehörte zum inneren Kreis um den Dunklen Lord und sein Fehlen wäre nicht unbemerkt geblieben.
Oliver und Christine Lestrange waren natürlich ebenfalls anwesend, doch er wagte nicht, sich nach ihnen umzusehen. Er hatte Christine seit jenem schicksalhaften Treffen im Hyde Park nicht mehr gesehen, was wahrscheinlich auch besser so war. Sie hatten eine unsichtbare Grenze überschritten und nun wusste er nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte.
"Hey, Sev! Alles klar?" Igor Karkaroff, Direktor von Durmstrang. Severus hatte ihn noch nie leiden könne. Er war ein elender Feigling und ein Arschkriecher.
"Mir geht's gut. Und dir?" Er versuchte, seiner Stimme einen gelangweilten Klang zu verleihen. Vielleicht würde er ihn so schneller wieder los werden.
"Man tut, was man kann. Warum stehst du so teilnahmslos rum? Komm doch mit runter in den Keller. Ich hab gehört, sie machen ein paar Muggel fertig." Ein süffisantes Lächeln überzog seine Lippen.
Severus musste sich zusammenreißen, um nicht vor seine Füße zu spucken. "Später. Ich bin auf der Suche nach Avery. Hast du ihn zufällig gesehen?" Natürlich war das eine Lüge, aber ihm war jedes Mittel recht, um Karkaroff nur endlich zum Gehen zu bewegen.
"Hmmm .... nein. Also ich geh dann mal. Wir sehen uns. Viel Glück beim Suchen!" Damit verschwand er in der Menge und ließ einen vor Erleichterung aufatmenden Severus zurück. Er wollte sich gerade in Richtung Buffet bewegen, als Narcissa Malfoy auf ihn zukam. Das Blut an ihren Händen strafte ihr Engelsgesicht und die langen blonden Haare Lügen. Narcissa war beinahe noch kälter und skrupelloser als ihr Ehemann. "Hallo Severus", hauchte sie. "Wie schön, dich endlich wieder einmal hier zu haben." Ihr Gesicht kam dem seinen gefährlich nahe.
"H ... hallo Narcissa. Nett, dich zu sehen." Er begann unwillkürlich durch den Mund zu atmen, so sehr ekelte ihn ihr Geruch, eine Mischung aus Alkohol, Schweiß und Blut, an.
"Komm mit, ich will dir was zeigen." Ein diabolisches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
"Bist du dir sicher, dass das nicht warten kann? Ich war nämlich gerade ..."
"Nein, jetzt gleich!" Der bedrohliche Unterton in ihrer Stimme duldete keinerlei Widerspruch. Sie packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich fort. Einige Zauberer sahen ihnen grinsend hinterher. Severus betete im Stillen, dass jetzt nicht das kommen würde, wovor er seit Monaten Angst hatte. Narcissa hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie ihn attraktiv fand. Solche Feiern waren immer eine gute Gelegenheit und Narcissa dafür bekannt, dass sie sich das holte, was sie haben wollte ... Ihm schauderte. Fieberhaft suchte er nach einer Möglichkeit, ihr zu entkommen, konnte aber keine finden.

Inzwischen gingen sie einen menschenleeren Korridor entlang, nur von einem Leuchter erhellt, den Narcissa in ihrer Hand hielt. Sie öffnete eine der vielen Türen und bedeutete Severus, ihr zu folgen. Wie er bereits befürchtet hatte, hatte sie ihn in ein Schlafzimmer gebracht, einem düsteren Raum mit schweren, roten Damastvorhängen und einem reichverzierten Himmelbett. Narcissa schloss die Tür hinter sich, stellte den Leuchter auf einen der Nachttische und sah ihn herausfordernd an. "Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet!"
"Narcissa ..."
"Pst!" Sie hob einen Finger an die Lippen. "Ich weiß, was du sagen willst, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Lucius ist seinerseits damit beschäftigt, sich mit Therese Goyle zu vergnügen. Wir führen eine offene Ehe." Sie lächelte anzüglich.
"Narcissa, hör mir zu, ich ...", startete er einen letzten verzweifelten Versuch, dem sie dadurch begegnete, einfach ihre Lippen auf die seinen zu pressen. Er versuchte, sie abzuschütteln, doch sie hielt ihn fest. Für eine so kleine, zarte Person war sie ungewöhnlich kräftig.
Severus würgte, als sie ihre Zunge zwischen seine Zähne schob. Sie schmeckte nach Alkohol und Tod. Um seinen Widerstand zu brechen, presste sie ihren Körper noch fester an seinen, wobei ihre Finger weiterhin seine Handgelenke umklammert hielten. Nach etwas, was ihm wie eine kleine Ewigkeit erschien, ließ sie endlich von seinem Mund ab und ließ ihre Lippen über seinen Hals nach unten wandern. Er versuchte sich zu konzentrieren, seine Gedanken irgendwo anders hin zu lenken, aber er scheiterte kläglich.
"Na wer sagt's denn! Ich habe doch gewusst, dass er dir gefallen wird." Narcissa sah ihn von unten herauf an, bevor sie sich den Knöpfen seine hochgeschlossenen Robe zuwandte.
Er ließ seine Hände über ihren Rücken und durch ihr langes blondes Haar gleiten. Jeglicher Widerstand war gebrochen. Er - sein Körper - begehrte sie und er hasste sich dafür. Ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen, als eine ihrer Hände tiefer wanderte und nach dem Verschluss seiner Hose tastete. Ohne Nachzudenken riss er ihr das Kleid von den Schultern. Es war nicht so, dass er seit jenem Abend mit Lily am See in totaler Enthaltsamkeit gelebt hatte, doch da die bei Todessern an der Tagesordnung liegenden Vergewaltigungen nicht unbedingt nach seinem Geschmack waren und ihn Prostituierte gewöhnlich eher abstießen als erregten konnte er auch nicht von sich behaupten, ein besonders aufregendes Liebesleben zu haben. Meistens redete er sich ein, dass ihm in dieser Beziehung nichts fehlte, doch in Situationen wie dieser wurde ihm eines schmerzlich bewusst: Dass er eben doch nur ein Mann war.
Narcissa stieß ein triumphierendes Lachen aus, als er sie zum Bett drängte. Gerade wollte er sich ihren Brüsten zuwenden, als er einen Schrei vernahm, der aus einem der angrenzenden Zimmer zu kommen schien. Mit einem Mal hatte er seine Selbstkontrolle völlig wiedererlangt. Wie von einer Tarantel gestochen ließ er von Narcissa ab, machte ihm Aufstehen seine Hose zu und stürzte zur Tür hinaus. Er hatte die Stimme, die da geschrieen hatte sofort erkannt: Sie gehörte Christine Lestrange.

Auf dem Flur angelangt, sah er sich einer Vielzahl von Türen gegenüber. Ohne sich Zeit für weitere Überlegungen zu nehmen riss er aufs Geradewohl die Nächstliegende auf. Zunächst konnte er aufgrund der im Raum herrschenden Dunkelheit nichts erkennen, doch dann wurde er sich der fülligen Gestalt McNairs bewusst, der mit irgendetwas so beschäftigt zu sein schien, dass er den Eindringling nicht einmal bemerkte. Severus brauchte nur wenige Sekunden, um zu begreifen, was sich da vor ihm abspielte. "Expelliarmus!" Ein Wort und ein kurzer Wink mit dem Zauberstab und McNair flog gegen einen mehrere Meter entfernt stehenden Schrank, wo er benommen liegen blieb.
Ohne die Gestalt zu bemerkten, die hinter ihm aufgetaucht war, stürzte Severus auf Christine zu, die scheinbar regungslos auf dem Fußboden lag. Anscheinend war sie ohnmächtig geworden. Gerade wollte er sich zu ihr hinunterbeugen, als von der Tür her eine Stimme sagte: "Na na, Severus! Nicht so hastig! Wir beide waren noch nicht fertig! Oder ... war ich dir etwa nicht gut genug?" Narcissa. Was sollte er jetzt tun? Kurzentschlossen richtete er seinen Zauberstab auf sie und rief "Amnesia temporalis," dann nahm er Christine auf den Arm und rannte mit ihr aus dem Zimmer. Nun konnte er nur hoffen, dass der Amnesia Zauber bei Narcissa tatsächlich gewirkt und sie die letzte Stunde völlig vergessen hatte. Was McNair betraf, so hoffte er nur, dass er nicht im Stande gewesen war, seinen Angreifer zu erkennen.
Am liebsten wäre er mit Christine sofort nach Hause appariert, aber über dem Gebäude lag zum Schutz vor Auroren ein Zauber, der dies unmöglich machte. So hastete er ins Treppenhaus und die Stiege nach oben, bis er zu einem kleinen Korridor kam, der nach dem Staub und den Spinnweben zu urteilen schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden war. Er drückte eine der Türklinken herunter. Sie war nicht verschlossen

Bei dem winzigen Raum mit dem Bett und der Kommode handelte es sich augenscheinlich um ein ehemaliges Dienstbotenzimmer. Das würde genügen. Hier würde man zumindest nicht nach ihnen suchen. Vorsichtig legte er die immer noch bewusstlose Christine auf das Bett und entflammte mit Hilfe eines Zauberspruchs den Kerzenstummel, der auf dem Nachttisch stand. Es war nicht hell, jedoch hell genug um zu erkennen, dass Christine keine schwerwiegenden Verletzungen erlitten hatte. Auf jeden Fall keine auf den ersten Blick erkennbaren. Zwar war ihre Robe am Hals zerrissen, doch schien McNair nicht weiter vorgedrungen zu sein.
Severus war erleichtert. Er war noch rechtzeitig gekommen. Am Besten war es wohl, er würde einfach warten, bis sie wieder zu sich kam. Dann konnten sie zusammen zurück nach unten gehen und so tun, als sei nichts passiert. So tun, als sei nichts passiert. Dieser Satz verfolgte ihn während der letzten Wochen geradezu und immer war Christine im Spiel gewesen. Er fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte. Und ob sie es schaffen würden ... Es war schon seltsam.
Severus kannte Christine seit ihrem ersten Schultag in Hogwarts. Sie war in seinem Jahrgang und in seinem Haus, Slytherin, gewesen. Trotzdem hatte er sich nie wirklich für sie interessiert. Erst als sie im sechsten Jahr Olivers Freundin geworden war, hatte er angefangen, sie überhaupt wahrzunehmen. Er erinnerte sich vage, dass sie eine gute Schülerin gewesen war, sogar in Zaubertränke konnte sie es beinahe mit ihm aufnehmen. Ansonsten gab es wenig Bemerkenswertes über sie zu sagen. Eigentlich hatte er sich immer gefragt, was Oliver an ihr fand. Man konnte sie nur schwerlich als attraktiv bezeichnen. Sie war nicht sehr groß - Severus reichte sie gerade einmal bis an die Brust, hatte glattes, dunkelbraunes Haar und einen schmalen Körperbau. Während ihrer gemeinsamen Zeit als Todesser hatte er sie jedoch als ausnahmslos starke Persönlichkeit kennen gelernt, die ihren männlichen Kollegen in nichts nachstand, sowohl was ihre magischen Fähigkeiten aber auch ihre Skrupellosigkeit anging. Wenn er darüber nachdachte, wäre sie im Grunde eigentlich die Letzte gewesen, von der er irgendwelche Selbstzweifel von der Art, wie er sie empfand erwartet hätte. Aber was waren schon Äußerlichkeiten? Severus selbst hielt sich für einen ziemlich guten Schauspieler. Genaugenommen konnte er sich nur an sehr wenige Ereignisse erinnern, an denen er wirklich er selbst gewesen war. Am besten gefiel er sich für gewöhnlich in der Rolle des arroganten, schweigsamen Alchemisten, den eine Aura aus Eis zu umgeben schien. Seine größte Angst war von jeher gewesen, dass eines Tages einmal jemand entdecken könnte, wie verletzlich er eigentlich war. So wie damals Lily. 'Und nun Christine', dachte er, während er auf sie hinuntersah.
Das flackernde Kerzenlicht warf gespenstische Schatten an die Wände und auf ihr Gesicht. Eigentlich ein schönes Gesicht. Severus erschrak über diesen Gedanken. Das durfte nicht sein. Wenn er anfing, so zu empfinden, dann ...
In diesem Moment schlug Christine die Augen auf. "Wo ... wo bin ich?" Sie schien verwirrt zu sein, was aufgrund ihrer Ohnmacht nicht weiter verwunderlich war.
"In Sicherheit." Severus beugte sich über sie, wagte aber nicht, sie zu berühren.
Reflexartig raffte sie ihre zerrissene Robe am Hals zusammen "Oh Gott! Die Feier, McNair ..." Sie schreckte hoch. Langsam schienen sich die Ereignisse des Abends zurück in ihr Bewusstsein zu drängen.
"Ganz ruhig!" Sachte aber bestimmt drückte er sie zurück auf die Matratze. "Es ist alles in Ordnung."
"Sev, wo sind wir hier?", flüsterte sie.
"In meinem Zimmer." Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Severus drehte sich um und sah sich einer jungen Frau gegenüber, die im Stil des 19. Jahrhunderts gekleidet war und direkt vor ihm schwebte. Natürlich war es nicht so, dass Geister etwas ungewöhnliches für ihn gewesen wären, schließlich war er ja in der Zaubererwelt aufgewachsen, trotzdem erschrak er über den unerwarteten Besucher.
"Was wollt Ihr hier?" Sie stemmte die Arme in die Seiten und sah ihn erwartungsvoll an.
"Verzieh dich!" knurrte Severus. Ein nervendes Gespenst war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Ohne weiter auf die Erscheinung zu achten, wandte er sich wieder Christine zu, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
"Ist dir nicht gut?"
"Severus ..."
"Sprich jetzt lieber nicht."
"Severus! Hinter dir!" Doch es war bereits zu spät. Noch bevor er sich bewusst werden konnte, was eigentlich geschehen war, fand er sich leicht benommen auf dem Fußboden wieder. Der Geist des Mädchens ließ die rostige, alte Bettpfanne sinken und lächelte in sich hinein.
"Warum hast du das getan?" Christine, die ihre Sinne inzwischen wieder vollständig beieinander hatte, funkelte sie wütend an.
"Ihr habt hier nichts verloren! Das ist mein Zimmer!"
"Du wolltest sagen, das war dein Zimmer. Offensichtlich brauchst du es ja nicht mehr!" Damit drehte sie sich demonstrativ zur Seite, schwang die Beine über die Bettkante und beugte sich zu Severus hinunter, der sich den schmerzenden Hinterkopf rieb. "Alles okay?"
"Bis auf die Beule, die mir diese ..." Er warf dem Gespenst einen wütenden Seitenblick zu. Gerade wollte er zu einer bissigen Bemerkung ansetzen, da bemerkte er die Tränen, die ihr über die durchscheinenden Wangen liefen. "Oh Mann, fang doch nicht gleich zu heulen an! Wenn hier einer einen Grund zum Heulen hat, bin ich das!" Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, sein Todesserimage wieder aufzusetzen, aber diese ... was sie auch immer sein mochte ... brachte ihn einfach in Rage.
"Ihr ... ihr seid alle gleich! Genauso wie er!", schluchzte sie. Erst jetzt fiel auf, dass sie mit dem leichten Anflug eines Akzents sprach.
"Wer ist er?" Christine war neugierig geworden.
"Der, der mich hierher brachte. Mein Herr."
"Wer ist dein Herr? Lucius etwa?", keifte Severus.
Sie gab ihm keine Antwort sondern wich nur noch ein Stück weiter zurück.
"Was ist denn nun schon wieder?"
"Sev, ich glaube, sie hat Angst vor dir."
"Angst? Ha! Und vor lauter Angst hat sie mir gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft eine Bettpfanne über den Schädel gezogen!" Jetzt war er wirklich ärgerlich. Er hatte selbst schon genug Probleme, was ging ihn da das traumatisierte Seelenleben eines Gespenstes an?
Christine ignorierte ihn und ging auf die schwebende Gestalt zu. "Hey, tut mir leid. Wir wollten dir nichts tun. Außerdem konnten wir ja nicht wissen, dass das hier dein Zimmer ist." Sie streckte versöhnlich die Hand aus.
Langsam kam die junge Frau auf sie zu. Bei näherem Hinsehen konnte man ihre schönen, jedoch fremdartigen Gesichtszüge erkennen. "Schon gut. Ich weiß, dass ihr eure Gründe hattet. Aber er ..." Sie warf Severus einen ängstlichen Blick zu.
"Er wird dir nichts tun. Nicht wahr, Sev?"
Er brummelte etwas Unverständliches vor sich hin, das Christine als eine zustimmende Antwort zu interpretieren beschloss. "Na siehst du. Er heißt übrigens Severus und ich bin Christine. Wer bist du?"
"Machbuba", sagte sie.
"Ein sehr schöner Name. Aber es ist kein englischer Name, oder?"
"Nein. Er stammt aus meiner Heimat. Abessinien."
Abessinien. Schon allein der Name klang exotisch. Allerdings musste Christine zugeben, dass sie ihn noch nie zuvor gehört hatte. Zwar gab Severus vor, nicht zuzuhören, doch sie konnte förmlich sehen, wie er in seinem Kopf riesige Landkarten ausbreitete. "Abessinien ist sehr weit entfernt, nicht wahr?"
"Oh ja." Auf einmal wirkte sie sehr traurig. Ihre ohnehin schon rotgeweinten Augen verschleierten sich erneut mit Tränen.
"Hast du Heimweh?"
"Manchmal. Aber man gewöhnt sich daran."
"Ist dein Herr in diesem Land gewesen?"
"Ja ... Mr. Malfoy kam zu uns, als ich 11 Jahre alt war. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Er war auf der Suche nach meinem Vater, von dem er die hohe Kunst der Telepathie erlernen wollte, die damals wie heute nur sehr wenige Magier beherrschten. Mein Vater war ein guter Mann, unfähig, das Böse in einem Menschen zu sehen. So willigte er auch ein, Malfoy zu unterrichten. Er stellte nur eine einzige Bedingung: Nach Beendigung der Lehrzeit sollte er mich mit nach England nehmen, um mir dort eine Erziehung und Ausbildung zu ermöglichen, wie es in Abessinien nicht denkbar war. Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben und so war ich das ein und alles meines Vaters. Als er mich mit Mr. Malfoy fort nach England schickte, tat er dies in dem festen Glauben, es wäre das Beste für mich. Natürlich sträubte ich mich gegen diese Entscheidung, aber weder ich noch meine Großmutter, die eine sehr weise Hexe war, vermochten ihn umzustimmen. In England angekommen wünschte ich, mein Vater hätte mich ebenfalls Telepathie gelehrt, so dass ich ihm hätte erzählen können, dass Malfoy sein Versprechen, mich auf eine Zauberschule zu schicken gebrochen hatte. Stattdessen sperrte er mich hier, in diesem furchtbaren Haus ein und tat unaussprechliche Dinge mit mir. Drei endlose Jahre ging das so, bis ich schließlich krank wurde. Natürlich wollte Mr. Malfoy sein liebstes Spielzeug nicht verlieren und so versuchte er alles nur erdenkliche, um mich zu heilen. Er zog alle möglichen Ärzte, zuerst Zauberer und schließlich sogar Muggel zur Rate, aber keiner konnte mir helfen. Ich kann mich erinnern, dass einer von ihnen sagte, dass er es zwar nicht beschwören könne, doch er glaube, dass ich entweder an Heimweh oder an einem gebrochenen Herzen leide. Er hatte Recht, beides traf zu. Mich hatte jeglicher Lebenswille verlassen - wofür hätte ich auch kämpfen sollen - und so starb ich nur wenig später. Seitdem bin ich hier oben, in dem Zimmer, in dem ich einst eingesperrt wurde."
"Das ist eine sehr traurige Geschichte", sagte Christine mit brüchiger Stimme. "Wie konntest du all das nur so lange ertragen?"
Sie antwortete nicht, sondern starrte nur stumm auf Severus, der sich inzwischen erhoben hatte und nun intensiv nachzudenken schien. "Dieser Mr. Malfoy, von dem du sprichst ...", begann er schließlich, "ist er der Großvater des jetzigen Hausherren?"
"Ich nehme es an, aber ehrlich gesagt kenne ich den jetzigen Hausherrn nicht. Ich verlasse niemals dieses Stockwerk."
Severus nickte stumm.
Christine hätte gerne gewusst, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging, doch sie wagte nicht zu fragen. Für einen Moment herrschte Stille.
"Wir müssen gehen", bemerkte er schließlich nach einem Blick auf seine Uhr. "Eigentlich sind wir schon viel zu lange weg, aber bei dem Tumult, der heute hier herrscht, wird das wahrscheinlich keinem aufgefallen sein."
"Er hat Recht." Christine sah Machbuba bedauernd an.
"Ich werde jetzt gehen. Du wartest fünf Minuten, dann folgst du mir. Es wäre nicht gut, wenn wir zusammen unten auftauchen würden. Man weiß nie, was die anderen ..." Er sprach nicht weiter, doch Christine nickte stumm zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Severus wollte gerade die Türe hinter sich schließen, als er Machbubas Stimme vernahm. "Gott schütze Sie." Während er die Treppen nach unten ging, dachte er darüber nach, ob Gott auch Mörder beschützte. Wenn es überhaupt einen Gott gab ...

Als Severus nach Hause kam, wurde er bereits seit längerer Zeit erwartet. Der Falke, der auf seinem Fensterbrett saß, hatte seinen Unmut am Fensterglas ausgelassen, das nun einige deutlich sichtbare Kratzer aufwies. Leise fluchend öffnete er das Fenster und ließ den Vogel herein, der sich sofort auf seiner Schulter niederließ und ihm liebevoll ins Ohr zwickte. "Lass das, Calvin!"
Doch Calvins Wiedersehensfreude kannte keine Grenzen und schließlich musste auch Severus lächelnd nachgeben und das Tier unter den Flügeln kraulen. "Bist du der Meinung, dass sich so ein gesetzter, älterer Herr benehmen sollte, hm?" Eigentlich wunderte sich Severus, dass der Falke den langen Flug von Irland bis London überhaupt geschafft hatte. Zwar konnte er nicht genau sagen, wie alt Calvin wirklich war, allerdings war er mit ziemlicher Sicherheit wesentlich älter als Greifvögel dieser Art normalerweise wurden. Solange sich Severus erinnern konnte hatte er stets schnell und zuverlässig alle Nachrichten der Familie Snape zugestellt, so auch heute. Er seufzte. Nach diesem mehr oder weniger ereignisreichen Abend bei den Malfoys hätte er dringen ein paar ruhige Minuten zum Nachdenken nötig gehabt. Sein innerlicher Aufruhr hatte sich noch immer nicht gelegt und ein Brief seiner Eltern, was immer er auch enthalten mochte, würde nicht unbedingt dazu beitragen. Um Zeit zu schinden, ging er zunächst in die Küche, um eine kleine Schale mit Wasser für Calvin zu füllen. Im Grunde, so redete er sich ein, wollte er gar nicht wissen, was sie ihm zu sagen hatten. Aber warum hatten sie den alten Falken so mir nichts dir nichts auf den weiten Weg hierher geschickt? Schließlich hielt er es nicht mehr aus und öffnete den Umschlag, begleitet vom einem zufriedenen Glucksen Calvins, der sich gierig über das Wasser hermachte. Der Brief enthielt nur zwei kurze Sätze.

Severus, bei allem was dir heilig ist, komm nach Hause. Deine Mutter stirbt.

Die Handschrift seines Vaters war zittrig und uneben, so als habe er geweint während er diese Worte geschrieben hatte. Er ließ das Blatt langsam sinken und starrte ins Leere. Vor seinem inneren Auge erschien das Gesicht einer lächelnden, jungen Frau. Sie lächelte ihn an. Dann apparierte er.

 

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