Kinder der Nacht

 

 

Zurück

 

Zurück zur 
Startseite


 

Kapitel 2: Handlanger des Teufels 

 

Als Severus in seiner kleinen Wohnung in Cedric's Creek, einer Zauberersiedlung östlich von London erwachte, war es bereits später Nachmittag. Er hatte furchtbare Kopfschmerzen, wahrscheinlich Nachwirkungen des Alkohols und des Morpheustrankes. So angestrengt er auch überlegte, er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie er nach Hause, geschweige denn in sein Bett gekommen war.
Verdammt, er sollte nicht so viel trinken! So etwas taten nur Muggel! Er versuchte, sich zu erheben, doch ihm schwindelte so stark, dass er den Kopf schließlich resigniert zurück ins Kissen sinken ließ. So lange ihn der Dunkle Lord nicht zu sich rufen ließ, hatte er den ganzen Tag frei. Er konnte also ruhig auch liegen bleiben.
Gerade wollte er die Augen wieder schließen, als er durch ein Geräusch an seinem Fenster aufgeschreckt wurde. 'Oh nein', dachte er, 'nicht schon wieder!' Wahrscheinlich wieder eine Nachricht von seinem Vater, der ihn entweder bat, mal wieder nach Hause zu kommen oder ihm Geld anbot. Es war immer das Gleiche! Seine Eltern konnten einfach nicht akzeptieren, dass er jetzt sein eigenes Leben lebte. Dabei war er bereits über 21 und verdiente sein eigenes Geld - wie, das konnte ihnen ja schließlich egal sein.
Eigentlich hatte er keine Ahnung, wie seine Eltern zu Voldemort standen. Sie hatten nie darüber gesprochen, doch er nahm an, dass der Dunkle Lord ihnen einfach egal war. Kein Wunder, dass sie so weltfremd waren. Wahrscheinlich hätte ihn das gleiche Schicksal erwartet, hätte er sich dazu entschlossen, sein gesamtes Leben in einem Schloss - beinahe schon einer Burg - im Westen Irlands, fernab jeglicher Zivilisation zu verbringen. Wie anders war da doch sein geliebter Großvater gewesen ... Ein Klopfen, energischer diesmal, riss ihn aus seinen Gedanken. 'Bescheuerter Vogel!'
"Ja, ja .Ich komme ja schon!" Mühsam wühlte er sich aus seinem Laken und wankte zum Fenster, vor dem eine Eule saß, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Es war ein ausgesprochen kleines Tier mit tiefschwarzem Gefieder und nur einem Auge, welches ihn allerdings mit einer Intensität ansah, die ihn unwillkürlich daran denken ließ, dass er vollkommen nackt war.
Reflexartig griff er nach dem nächsten Kleidungsstück, das er zu fassen bekam. Unglücklicherweise handelte es sich um einen Schal. "Mach dich nur lustig!", knurrte er die Eule an, während er versuchte, den Brief loszumachen, den jemand an ihr Bein gebunden hatte. Mit einer Hand (die andere hielt weiterhin den Schal) stellte sich dies als ein schwieriges Unterfangen heraus, schließlich schaffte er es aber doch. "So, und jetzt hau ab!" Der Vogel ließ sich das nicht zweimal sagen, gab aber vorher noch ein Geräusch von sich, das verdächtig danach klang, als würde sie ihn auslachen. "Dämliches Biest!" Wütend und neugierig zugleich riss er den Umschlag auf. Der Inhalt erstaunte ihn.

Lieber Severus

Ich habe lange mit mir gekämpft, bevor ich dir diesen Brief schreiben konnte. Zu vieles ist gestern Abend gesagt worden, als das es einfach ignoriert oder ungeschehen gemacht werden könnte. Ob es überspannte Nerven oder meine angeschlagene Gesundheit waren, die mich verleiteten, Worte auszusprechen, die für niemandes Ohr bestimmt waren, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nur, dass ich weder das Recht habe, so zu denken, noch dich mit diesen Gedanken zu belasten. Die Opfer, die der Dunkle Lord von uns fordert sind klein im Vergleich zu dem, was er uns geben wird, wenn wir endlich gesiegt haben. Es beschämt mich, dass ich zu schwach war, mich zu beherrschen und solch dumme und sentimentale Gefühle zu verdrängen. Ich bitte dich, mir meine kindische Dummheit zu vergeben und mich in Zukunft davon abzuhalten, solch ketzerische Gedanken laut auszusprechen. Wie naiv muss ich gestern gewesen sein anzunehmen, meine Ängste wären auch die deinen.

Ich bitte dich noch einmal in Berufung auf unsere lebenslange Freundschaft, mit zu vergeben.

Christine

P.S. : Ich wäre dir dankbar, wenn du nichts von alldem gegenüber Oliver erwähnen würdest. Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht.


Severus starrte einige Sekunden fassungslos auf das Papier in seinen Händen, bevor er es zerknüllte und in eine Ecke warf. Mit einem Schlag war ihm eines klargeworden: Christines Worte von gestern Abend waren weder kindisch noch dumm gewesen. Er selbst hatte sie dazu gebracht, sie auszusprechen. Zum ersten Mal seit er das Dunkle Mal empfangen hatte, waren ihm ernsthafte Zweifel an dem gekommen, was sie da taten, jetzt, da er wusste, dass er nicht allein war. Es war nicht allein sein krankes Hirn, das ihm all diese Gedanken von Menschlichkeit, von Recht und Unrecht, von Gut und Böse vorgaukelte. Christine ging es genauso. Dieser Brief war der eindeutige Beweis. Mit einem Mal war er hellwach. Er musste mit ihr reden, am besten sofort, bevor ihn der Mut verließ.

So kam es, dass nur eine halbe Stunde später ein Rabe durch ein offenes Küchenfenster flog und geradewegs auf der Schulter von Christine Lestrange landete. Verwundert stellte sie fest, dass die Nachricht, die das Tier trug wirklich für sie persönlich und nicht für Oliver bestimmt war.

Liebe Christine

Ich muss mit dir sprechen. Heute Abend im Hyde Park am Tor 4, so gegen Mitternacht. Ich werde warten

Severus


Christine schauderte. Es war keine Frage und auch keine Bitte. Es war ein Befehl. Oh Gott, was war, wenn er vor hatte, sie zu verraten oder sie zu erpressen. Wie hatte sie nur so blauäugig sein können anzunehmen, er würde das Gespräch von gestern Abend einfach auf sich beruhen lassen. Severus, der schon als Kind so grausam und skrupellos gewesen war, dass selbst seine Freunde ihn fürchteten. Wie hatte sie ihm nur trauen können? Würde er zu Oliver gehen oder gleich zu Voldemort? Beides würde sie das Leben kosten, dessen war sie sich sicher. Nur dass Oliver sie wahrscheinlich zu Tode prügeln würde, während sie bei Voldemort auf die Gnade eines einzigen, tödlichen Avada Kedavra Fluches hoffen konnte. Es gab keinen Ausweg, wie sie es auch drehte und wendete. Was machte es da noch aus, wenn sie tatsächlich in den Hyde Park ging, um zu hören, was Severus zu sagen hatte.

Severus bezweifelte, dass sie noch auftauchen würde. Es waren bereits elf Minuten nach Mitternacht und immer noch keine Spur von ihr. Er hätte es sich ja denken können! Welchen Grund hatte sie auch, ihm zu vertrauen? Todesser vertrautem niemandem, nicht einmal ihresgleichen und nicht einmal dann, wenn es sich um enge Freunde handelte. Das war ihre einzige Überlebenschance. Ein falsches Wort am falschen Ort konnte direkt nach Askaban oder, noch schlimmer, zum Kuss eines Demetors führen.
Er schauderte bei dem Gedanken. An ihm gingen zwei Teenager, augenscheinlich Punks vorbei. Das war der Grund, warum er sich für den Hyde Park als Treffpunkt entschieden hatte: Nachts waren hier so viele Freaks unterwegs, dass sie nicht einmal Muggelkleidung zu tragen brauchten. Ein schwarzer Umhang fiel hier keinem auf. Er seufzte. Am Besten, er apparierte zurück nach Hause und vergaß das Ganze so schnell wie möglich.
Da tauchte plötzlich Christine Lestrange wie aus dem Nichts vor ihm auf. Sie schien ganz außer Atem zu sein.
"Wo bist du so lange gewesen?" Seine Stimme war schärfer als er beabsichtigt hatte.
"Tut mir leid ... Oliver - ich musste warten, bis er eingeschlafen war."
Oliver! Natürlich, er hätte selbst daran denken müssen. Ein Wunder, dass sie es überhaupt geschafft hatte, unbemerkt hierher zu kommen. "Ich danke dir, dass du gekommen bist." Er legte den Kopf schief und lächelte. Ein ehrliches, offenes Lächeln.
Eigenartig, dachte Christine, eigentlich sah er gar nicht so aus, als wolle er sie erpressen. Aber was wollte er dann?
"Du wirst dich sicher gefragt haben, warum ich dich um dieses Treffen gebeten habe."
"Allerdings."
"Es geht um - unser kleines Gespräch in der Küche. Ich wollte ... ich muss ..." Verdammt, warum war das nur alles so furchtbar kompliziert?
"Ja?" Christine bemerkte, dass er sich nach allen Seiten umsah, als fürchte er, jemand könnte ihn hören.
"Christy, ich kann nicht mehr. Das alles - die Treffen, die Aufträge ..." Er schüttelte den Kopf.
Sie sah ihn mit großen Augen an. Konnte das wahr sein? Der große Severus Snape, der Mutigste und Gerissenste von ihnen, der, der als erster das Dunkle Mal empfangen hatte, der schon als Erstklässler mehr Flüche als irgendwer sonst gekannt hatte - dieser Severus Snape hatte gerade vor ihren Augen zugegeben, dass er keine Kraft mehr hatte. Sie musste sich verhört haben! "Sev, du ...du meinst das ..."
Er hob die Hand und gebot ihr zu schweigen. "Ich weiß, was du jetzt denkst. Du glaubst, du kennst mich. Ihr alle. Aber was ist, wenn ich mich selbst nicht mehr kenne? Wenn ich plötzlich begonnen hätte, alles - mein ganzes Leben, meine Entscheidungen - in Frage zu stellen?" Er verstummte.
"Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe ..."
"Ich denke, das tust du. Gestern in der Küche ... als du gesagt hast, dass du es nicht ertragen könntest, zu töten ... da wurde mir klar, dass wir etwas gemeinsam haben. Dein Brief heute hat mir Gewissheit gegeben. Ganz egal, wie sehr wir uns auch einreden, Voldemorts Ziele seien die unseren oder wie sehr wir auch nach Macht, Anerkennung und Wissen streben - wir werden nie ankommen, weil wir eins nicht ausschalten können: Unser Gewissen." Er schien selbst erstaunt über seine ungewöhnlich lange Rede zu sein.
Christine sah ihm in die Augen, erkannte in ihnen all die Angst und den Schmerz, die sie selbst nur zu gut kannte. "Sev ... es ist zu spät." Ihre Stimme klang erstickt. "Wohin wir auch gingen, sie würden uns finden. Entweder der Dunkle Lord oder das Ministerium. Das Urteil würde immer gleich lauten: Tod. Wir haben uns für dieses Leben entschieden. Es mag die falsche Entscheidung gewesen ..."
"Christine, ist dir überhaupt klar, was wir getan haben? Wir haben unsere Seele verkauft!" Eine Wildheit, die an ein gehetztes Tier erinnerte, trat in seine Augen.
Sie schwieg. Eine unendliche Leere umgab sie, in der eines immer wieder in ihr Bewusstsein drang: Er hatte Recht. Sie waren Handlanger des Teufels - schlimmer als jeder Mörder, der in Askaban saß, unfähig, ihrem Schicksal zu entrinnen. "Ich ... ich muss gehen. Oliver ..."
Sie ließ den Satz unvollendet, doch Severus verstand. Oliver war weit davon entfernt, so etwas wie Reue oder Bedauern zu empfinden. Er war ein Todesser durch und durch, ohne die Belastung durch ein funktionierendes Gewissen. Keiner von beiden sprach ein Wort. Es gab auch nichts mehr zu sagen. Mit einem Mal waren sie sich der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage bewusst geworden. Severus konnte nicht anders, er musste ihre Wange berühren, brauchte ein Zeichen von Leben, von Wärme durch all die Kälte und die Verzweiflung hindurch.
Zu seiner Verwunderung wehrte sie sich nicht sondern legte ihre Hand auf seine. Für einen Moment verharrten sie bewegungslos, dann drehte Christine den Kopf zur Seite und apparierte. Severus ließ sich gegen einen Baum sinken und verbarg sein Gesicht in den Händen. Die Tränen kamen ihm nicht leicht, doch in dieser Nacht weinte er.

 

  Kapitel 1

  Kapitel 3

 

Zurück