Kinder der Nacht

 

 

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Kapitel 9: Kinder der Nacht 

 

Millionen und Abermillionen von Sternen. Der ganze Himmel übersät mit kleinen, glitzernden Punkten. Für einen Moment wünschte sich Severus Snape, er könnte einer von ihnen sein. Strahlend, unendlich weit entfernt von dieser Erde, ein Teil der großen Leere des Universums.

Natürlich waren das nur Hirngespinste, schließlich waren die Sterne nichts weiter als Gebilde aus Gas und Staub, die irgendwo in den Tiefen des Alls verglühten. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie enttäuscht er gewesen war, als sein Vater ihn in die Grundzüge der Astronomie eingeweiht hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er fest daran geglaubt, dass diejenigen, die starben, ihren Platz am Firmament bekamen, damit sie vom Himmel herab über jene wachen konnten, die sie liebten. Es war eine tröstliche Vorstellung gewesen, dass der Tod nicht das Ende und ein geliebter Mensch niemals ganz verloren war.
Hätte es eine Chance für ihn gegeben, seine kindliche Unschuld zurückzugewinnen, er hätte sie ergriffen. Was hätte er dafür gegeben, wenn er hätte glauben können, dass seine Mutter ein Stern war. Und dass er selbst einer sein würde, wenn es vorbei war.

Nur noch ein paar Tage ...
"Was würdest du tun, wenn du nur noch einen Tag zu leben hättest?"
Es gab eine Zeit, da hätte er die Antwort auf diese Frage gekannt: Ohne zu zögern hätte er geantwortet, dass er James Potter und Sirius Black töten würde. Um seinen so lange aufgestauten Hass endlich auszuleben, um eine Befriedigung zu erfahren, die er nur durch Rache zu finden geglaubt hatte.
Auch jetzt, während er alleine auf der Lichtung stand, auf der nur wenige Minuten vorher der Dunkle Lord sein Todesurteil verkündet hatte, waren seine Gefühle den Rivalen aus Schultagen gegenüber unverändert. Er hasste sie beide, hasste sie mehr als alles andere auf der Welt, für das, was sie ihm genommen hatten und auch für das, was sie ihm nicht gegeben hatten. Er hasste sie für die Tränen, die er ihretwegen vergossen hatte, die geweinten und die ungeweinten, für die zahllosen Nächte, in denen er wachgelegen und gegrübelt hatte, für die Todesangst, in die sie ihn einmal versetzt hatten und die ihn seitdem niemals wieder verlassen hatte.

Und doch galten seine Gedanken nicht ihnen. Etwas war in ihm herangewachsen, das stärker war als der Hass und die Angst, stärker sogar als er selbst es war. Natürlich hatte er versucht es zu verdrängen, sich einzureden, dass es nicht existierte. Nur einmal, ein einziges Mal, hatte er sich selbst erlaubt, so zu empfinden und er hatte verloren.

Nein, er durfte es nicht zulassen. Verdammt, sie war verheiratet - nicht mit irgendjemandem, sondern mit seinem Freund. Und woher sollte er schließlich wissen, dass sie seine Gefühle erwiderte? Wenn sie auch nur den kleinsten Tropfen Vernunft in sich besaß, dann würde sie klüger sein als er und solche Gedanken gar nicht erst aufkommen lassen. Er musste wahnsinnig geworden sein, komplett verrückt, doch er schaffte es nicht, dagegen anzukämpfen. Hätte es sich um ein rein körperliches Verlangen gehandelt, so hätte er diesem vielleicht nachgegeben. Schließlich hatte er nichts mehr zu verlieren. Was wäre schon dabei gewesen? Es wäre ein einmaliges Erlebnis gewesen, reine Lustbefriedigung, ohne dass auch nur der geringste Anflug eines Gefühls im Spiel gewesen wäre. Es hätte nichts bedeutet, zumindest nicht für ihn.

Doch so war es nicht. Warum sollte er sich etwas vormachen, nachdem er sowieso schon zu weit gegangen war? Christine Lestrange war ihm nicht egal. Ganz im Gegenteil. Wenn er noch am Leben war, dann nur für sie. Sie war es gewesen, die ihm die Kraft gegeben hatte, sich gegen diesen Muggel zur Wehr zu setzen, sie war für ihn da gewesen, als er sie am meisten gebraucht hatte, die ganze Zeit über. Auch wenn er sich an beinahe nichts mehr von dem, was am gestrigen Nachmittag geschehen war, erinnern konnte, so erinnerte er sich doch an das Gefühl von Wärme und Sicherheit, das ihn durchströmt hatte, als sie ihn im Arm gehalten hatte.

Sie hätte es nicht tun müssen, bei weitem nicht. Sie war eine Todesserin, niemandem verpflichtet außer dem Dunklen Lord und sich selbst. Er hätte es ihr nicht verdenken können, wenn sie gegangen wäre und ihn allein zurückgelassen hätte.
Jeder musste auf sich selbst aufpassen können. Das Leben war unbarmherzig und jeder musste für sich selbst lernen, sich damit abzufinden. Nur die Starken überlebten, so war es schon immer gewesen und so würde es immer sein.

Es war gefährlich, sehr gefährlich sogar, sich von anderen Menschen abhängig zu machen, indem man begann, etwas außerhalb von Loyalität ihnen gegenüber zu empfinden. Freundschaft war riskant - Liebe war tödlich.

Seufzend wandte Severus sich ab. Die Sterne würden ihm auch nicht helfen können. Mit einem Mal fühlte er sich unglaublich alt und schwach, so, als läge bereits ein sehr langes Leben hinter ihm. Er hatte Dinge gesehen, von denen andere noch nicht einmal ahnen konnten, dass sie existierten - ganz zu schweigen von den Dingen, die er getan hatte. Alles zusammen genommen hatte er genug erlebt, um zwei Menschenleben damit auszufüllen.

Nur eines fehlte: Das Glück. War er jemals wirklich glücklich gewesen? Vielleicht als kleines Kind, vielleicht damals, in den wenigen Momenten, die er mit Lily gehabt hatte, bevor sie sich für James entschieden hatte ... Das war alles. Ansonsten waren da nur Hass, Gewalt und Tod gewesen.
Plötzlich überkam in der völlig irrsinnige Wunsch, noch einmal wahrhaft glücklich zu sein, bevor er starb. Ein winziges Licht in der Dunkelheit, das war alles, was er sich noch wünschte.

Plötzlich knackte es im Geäst. Ruckartig drehte Severus sich um und starrte in das undurchdringliche Dickicht des Waldes. Vergeblich versuchte er zu erkennen, was sich ihm von dort näherte. Ein Tier? Oder etwas anderes ... Auroren! Was, wenn sie von dem Treffen erfahren hatten? Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können, einfach alleine hier zu bleiben? Er hätte sofort nach Hause apparieren sollen, so wie alle anderen auch. Da trat ein Schatten aus dem Dunkel der Bäume. Severus griff unwillkürlich nach seinem Zauberstab. Zur Flucht war es jetzt ohnehin zu spät, er würde also notfalls kämpfen müssen.

Die Gestalt betrat die Lichtung und blieb nur wenige Meter von ihm entfernt stehen. Langsam hob sie die Arme und Severus tat es ihr gleich, überzeugt, dass es sich um einen Angreifer handelte, der jeden Moment seinen Zauberstab auf ihn richten würde.
Doch er hatte sich getäuscht. "Er" streifte lediglich die Kapuze ab und enthüllte ein feingeschnittenes Gesicht, dass im fahlen Mondlicht noch bleicher und zarter wirkte als es ohnehin schon war.

"Christine ..."

"Ich hatte gehofft, dass du ..." Weiter kam sie nicht. Mit einer einzigen, schnellen Bewegung hatte er sie an sich gezogen und seine Lippen auf die ihren gepresst. Hätte man ihn gefragt, warum er es getan hatte, er hätte keine Antwort gefunden. Alle Emotionen, die sich in den vergangenen Minuten, Stunden, Tagen, vielleicht sogar Wochen in ihm angesammelt hatten brachen mit einem Mal los. Er hatte jegliche Kontrolle über sich selbst verloren, wusste nicht mehr, warum er tat was er tat, nur eben, dass er es tun musste.

Christine hingegen war sich völlig dessen bewusst, dass das, was sie tat falsch war, als sie ihre Arme um seinen Hals schlang und den Kuss erwiderte. Doch welche Bedeutung hatten richtig und falsch überhaupt noch in dem Leben, das sie lebten?
Es lag keine Zärtlichkeit in der Weise, wie sie sich aneinander drängten, jeder auf der Suche nach etwas, das ihm nur der jeweils andere geben zu können schien. Sie küssten sich mit dem Hunger und der Verzweiflung zweier Liebender, die wussten, dass dieser Kuss vielleicht der einzige war, der ihnen jemals vergönnt sein würde.

Plötzlich riss sich Severus los und wandte schweratmend den Kopf ab. "Oh Gott, Christine, es …es tut mir leid. Ich hätte nicht ..."

Da tat sie etwas vollkommen Unerwartetes. Sie lächelte traurig und er hätte schwören können, dass Tränen in ihren Augen glitzerten, als sie einen Finger auf seine Lippen legte und ihm mit der anderen Hand eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn strich. Dann küsste sie ihn wieder, diesmal langsamer und vorsichtiger. Er öffnete leicht die Lippen, beinahe schüchtern diesmal, wie ein Junge, der zum ersten Mal geküsst wurde und fürchtete, etwas falsch zu machen.
Sie erforschten einander ohne jede Eile, zärtlich und liebevoll, im völligen Gegensatz zu dem hastigen, rohen Kuss nur wenige Minuten zuvor. Severus ließ seine Hände über ihr weiches Haar gleiten, das ihm Mondlicht wie schwarze Seide glänzte.

Es war eine unirdische, unheimliche und doch verzauberte Szenerie, die sich dort auf der fahl erleuchteten Lichtung ausbreitete. Zwei Menschen, deren schwarze Gewänder sie wie zwei Zeitreisende aus einer weit zurückliegenden, düsteren Epoche erscheinen ließen, standen eng umschlungen auf dem hart gefrorenen Waldboden. Die alten Bäume, die den Platz umstanden, streckten ihre knorrigen Äste nach ihnen aus, als wollten sie sie in die ewige Dunkelheit des Waldes zerren und zu einem Teil der Schattenwelt werden lassen.
Hin und wieder schrie eine Eule, ein klagendes, durchdringendes Geräusch, das einem einen Schauer über den Rücken jagen konnte.

Severus Snape und Christine Lestrange jedoch blieben unbeeindruckt von all dem, was um sie herum vorging. Dies war ihre Welt, die Dunkelheit, die sich wie ein schützender Schleier über das blendende, alles enthüllende Tageslicht legte.

Die Nacht würde über ihre Kinder wachen.

 

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