Arkana

 

 

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Kapitel 2


Severus Snape hatte die letzten zehn Minuten damit verschwendet den Fischen in dem winzigen Aquarium zuzusehen, das auf dem Fensterbrett von Mitchells Büro stand. Der Seelenheiler selbst saß hinter seinem Schreibtisch und war gerade damit beschäftigt, einige wichtige Informationen niederzuschreiben, wobei er ständig mit seinem Federkiel kratzende Geräusche auf dem Pergament verursachte. In diesem Augenblick hätte Snape gerne mit den Fischen getauscht, auch wenn die Tierchen durch die Sonneneinstrahlung nicht mehr gar so frisch aussahen.
Seit Snape Fortschritte im Sprechen und Laufen machte, waren seine Probleme von Tag zu Tag stetig angewachsen. Die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bertram und Mitchell waren dabei nur sein geringstes Problem. Beide Heiler sahen in ihrem neuen, früher als hoffnungslos abgestempelten Patienten, die Chance zusätzlich etwas Ruhm und Ansehen zu ernten. Sie waren vollkommen besessen davon, hinter Snapes Unfall und der raschen Genesung zu kommen. Dabei legte Bertram mehr Augenmaß auf verschiedene Testverfahren, die er selbst entwickelt hatte, um das Geheimnis zu lüften. Die Untersuchungen des wortkargen Chefheilers waren jedoch nichts im Gegensatz zu den Sitzungen bei Mitchell. Der hatte es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, seinen Patienten von der Selbstmordtheorie zu überzeugen. Dabei verzichtete er mittlerweile aber auf das Wort "Selbstmord" und sprach ständig nur von dem "Unfall", da Snape noch immer alles andere als verständnisvoll auf den vorangegangenen Ausdruck reagierte.
Was Snape zusätzliches Kopfzerbrechen machte, war der Umstand, dass er nichts über die Außenwelt in Erfahrung bringen konnte. Die Patienten hier drinnen wurden stärker abgeschirmt, als die Insassen in Askaban. Daneben schien auch niemand aus dem Orden großes Interesse für sein Schicksal zu zeigen, denn er hatte in all den Wochen keinen einzigen Besuch empfangen. Am meisten vermisste er die weisen und unterstützenden Worte von Albus Dumbledore. Der Direktor von Hogwarts hatte es stets geschafft ihm ein ruhigeres Gewissen zu bescheren. Doch die Tage vergingen und mit ihnen auch die Hoffnung, in naher Zukunft das vertraute Gesicht des alten Mannes zu erblicken. Es war, als hätte alle Welt ihn vergessen und auch wenn er früher die Einsamkeit zu schätzen gewusst hatte, fühlte er sich jetzt nur mehr verloren und alleingelassen.
"Also gut, dann erzählen Sie mir bitte ganz genau, was Sie gemacht haben, bevor Sie das Bewusstsein verloren haben?"
Mitchells Stimme riss Snape aus seinen Selbstmitleidsgedanken.
"Ich muss Ihnen ein Kompliment machen", antwortete dieser nach einer kurzen Pause. "Sie könnten mit Ihrer Begriffsstutzigkeit nicht einmal meinen dümmsten Schüler übertreffen. Ich habe Ihnen die Geschichte bereits acht Mal erzählt und Sie haben es noch immer nicht verstanden."
"Dann erzählen Sie es eben noch ein neuntes Mal", fuhr Mitchell ungerührt fort.
Snape seufzte leise und schüttelte dann frustriert den Kopf. Er hatte von Foltermethoden gehört, die in diesem Augenblick anziehender erschienen, als das Gespräch mit seinem Gegenüber.
"Ich war in Hogsmeade und habe einige Einkäufe getätigt", begann er, vermied dabei jedoch zu erzählen, wen er vor der kleinen Shoppingtour noch getroffen hatte. "Ich machte mich wieder auf den Weg zurück zur Schule. Das nächste woran ich mich erinnere ist, dass ich in einem Zimmer aufwachte, in dem ich von Ihrem inkompetenten Krankenhauspersonal versorgt wurde", erwiderte Snape mit einer merklichen Andeutung von Missmut in der Stimme.
"Schön, aber was passierte zwischen dem Rückweg nach Hogwarts und Ihrem Erwachen bei uns? Können Sie sich denn nicht an den Fluch erinnern?"
Mitchell versuchte es jetzt auf die mitfühlende Art und war aufgestanden, um auf dem Stuhl neben Snape Platz zu nehmen. Dadurch glaubte er anscheinend vertrauensvoller zu wirken, als wenn er hinter seinem protzigen Schreibtisch thronte.
"Ich habe keinen Fluch ausgesprochen, aber das würde ich in diesem Moment gerne nachholen", erklärte der Patient geduldig und fuhr dann weiter fort: "Wären Sie präziser in der Aufstellung Ihrer Suizidtheorie, dann müssten Sie bereits festgestellt haben, dass ich Rechtshänder bin."
"Was hat denn das damit zu tun?" fragte der Seelenheiler und seine Mimik zeigte einen Ausdruck der Verwirrung, den Snape ruhig öfter auf Mitchells hochnäsigem Gesicht zu sehen erhoffte.
"Die Kopfwunde war links."
"Das beweist gar nichts."
Aufgebracht erhob sich Mitchell von seinem Platz und fing an, im Raum umherzugehen. Bei genauerer Betrachtung kam es Snape so vor, als könnte er dem jungen Heiler beim Denken zuhören. Als Mitchell seine Aufmerksamkeit wieder auf den Patienten richtete, trug er einen übertrieben mitfühlenden Gesichtsausdruck zur Schau und Snape bekam das ungute Gefühl, als wüsste der Heiler mehr, als er zugeben wollte.
"Vielleicht sollten wir unsere heutige Sitzung an dieser Stelle unterbrechen."
Diese Aussage überraschte Snape. Mitchell hatte bis jetzt immer auf die genaue Einhaltung der Zeiten für ihre Sitzungen geachtet.
"Wieso denn das? Habe ich Sie mit meiner Aussage aus dem Konzept gebracht oder noch besser, zum Logisch-Denken animiert?" fragte Snape und klang plötzlich ziemlich selbstgefällig. Die plötzliche Verunsicherung Mitchells gefiel ihm. Er war sich nur nicht ganz sicher, ob er alleine dafür verantwortlich war.
Mitchell quittierte die Aussage nur mit einem kalten und abschätzenden Blick in Richtung seines Patienten und fügte dann hinzu: "Nein, Mr. Snape, ich habe nur vergessen, dass ich noch einen anderen wichtigen Termin einhalten muss. Aber da Sie plötzlich dermaßen viel Interesse an dem Fortgang unserer Sitzungen zeigen, werde ich die verlorengegangene Zeit von heute selbstverständlich an die morgige Stunde anhängen. Dann werden wir versuchen Ihrem abhanden gekommenen Gedächtnis mit Hilfe von Hypnose auf die Sprünge zu helfen." Während Mitchells Grinsen immer breiter wurde, schwand in Snape jegliche Hoffnung, seinem Peiniger in nächster Zeit zu entrinnen.

Nachdem Snape das Büro von Mitchell endlich verlassen hatte, ging er den Korridor zu seinem Zimmer entlang. Seine Stimmung befand sich auf einem momentanen Tiefstand. Am liebsten hätte er etwas kaputtgeschlagen, um seinem Ärger Luft zu machen. Doch er befürchtete, dass Mitchell dies wiederum gegen ihn verwenden könnte. Es war sehr dunkel, obwohl alle Kerzen entlang des Flurs brannten, und es herrschte eine merkwürdige Atmosphäre. Nachdem Snape einige Meter weitergegangen war, fiel ihm auf, woran das lag. Er war bereits seit mehreren Tagen auf dieser Station, aber noch nie hatte er die Korridore dermaßen leer vorgefunden. Mit wachsender Beunruhigung beschleunigte er seine Schritte, doch ein leises Kratzen, das in der menschenleeren Umgebung wie ein lautes Hallen klang, ließ ihn in seiner Bewegung inne halten. Er drehte sich um, in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war, doch es war nichts zu sehen. Kurz vor seinem Zimmer angekommen blieb er abermals stehen und spähte den dunklen Gang entlang. Das Geräusch schien nun nicht mehr hinter ihm zu sein, sondern vor ihm. Leise ging er weiter und als er an eine Biegung kam, an der ein weiterer Flur nach links abzweigte, entdeckte er zwei Heiler, die aufgebracht miteinander tuschelten und anscheinend etwas oder jemanden suchten, denn sie leuchteten jeden Zentimeter des Flurs vor ihnen mit ihren Lampen aus. Da in diesen Gemäuern ständig irgendwelche Leute abhanden kamen, um endlich einmal der Kontrolle des Personals zu entgehen, dachte sich Snape nicht viel dabei und machte kehrt. Er ging nur wenige Schritte, als er in einer kleinen Nische vor ihm eine dürre Gestalt entdeckte, die vollkommen starr vor dem steinernen Vorsprung mit den darauf befestigten Kerzen stand. Beim Näherkommen erkannte Snape, dass es eine Frau war, die gerade mit der blanken Hand in die Flamme greifen wollte.
"Noch nie davon gehört, dass Feuer heiß ist?"
Die Frau zuckte zusammen und drehte sich rasch zu ihm um. Im Kerzenlicht erkannte er, dass sie noch ziemlich jung war. Ihr Gesicht und ihre Kleidung waren schmutzig, sie trug weder Schuhe noch Socken und in ihrem wirren Haar hatten sich kleine Zweige und Blätter verfangen. Die Haut zwischen den Schmutzflecken war blass und mit Kratzern übersät.
"Was würdest du sagen, wenn du aus einem Spiel mit achtundsiebzig Karten, einundvierzig Mal denselben Trumpf ziehen würdest?" flüsterte sie ihm aufgebracht zu.
Sie hatte begonnen, nervös an den Wunden auf ihrem Handgelenk herumzukratzen und verwischte dadurch das Blut, das nun austrat, über Hände und Arme.
Snape wollte schon die Heiler rufen, um diese Verrückte einsperren zu lassen, doch irgendetwas ließ ihn zögern. Es war nicht das Mädchen selbst, sondern irgendetwas in ihrem Blick, das ihn veranlasste zu antworten.
"Ich würde annehmen, dass das Prinzip der Wahrscheinlichkeit aufgehoben wurde."
Sie winkte ihn näher zu kommen und holte gleichzeitig einen Stapel Tarotkarten unter ihrem verschmutzen Gewand hervor, die sie ihm entgegenstreckte.
"Ich will Sie ja nicht beleidigen, aber ich muss gestehen Sie riechen nicht besonders gut", sagte Snape und trat trotz ihrer Geste, noch einen Schritt weiter zurück. Der Schlamm, der an ihrer Kleidung und ihrem Gesicht haftete, verströmte einen unbeschreiblich grauenvollen Geruch, der beim Näherkommen an Intensität nur zunahm. Die Frau schloss die entstandene Lücke zwischen ihnen, indem sie einen Schritt auf ihn zumachte und ihm die Karten, die sie wie einen Fächer in ihrer Hand ausgebreitet hatte, vor seine Nase hielt. Um dem ganzen Spektakel ein Ende zu machen, zog Snape eine Karte. Von dem Bild lachte ihm der Narr entgegen, der mit hochaufgerichteten Kopf und Blick in den Himmel auf einen Abgrund zusteuerte. Snapes Gegenüber riss ihm abrupt die Karte aus der Hand, mischte sie sorgfältig unter die anderen und hielt sie ihm abermals entgegen.
"In Ordnung, das reicht jetzt." Er wollte sich gerade wieder zum Gehen aufmachen, als sie ihn unvermittelt anbrüllte:
"ZIEH EINE KARTE!"
Von der Heftigkeit ihres Ausbruchs irritiert, griff er fast automatisch nach den Karten und als er damit in Berührung kam, wurde er augenblicklich von einem grellen Licht geblendet.
Die Frau war fort, auch der Korridor. Vor ihm lag ein dichtbewachsener Wald. Der Wind, der durch die Baumkronen fuhr, hinterließ ächzende und knarrende Laute, die ringsum alles in eine beängstigende Stimmung tauchten. Ein plötzlicher Schmerz ließ Snape zusammenzucken. Doch das Ganze währte nicht lange, dann wurde er wieder von dem Lichtblitz getroffen, der ihn zurück an die Wand taumeln ließ.
Mit pochendem Herz und zutiefst beunruhigt wollte er die Frau zur Rede stellen, doch die beiden Heiler waren schneller gewesen. Durch den vorrangegangenen Schrei der Frau angelockt, kamen die zwei Männer eiligst angelaufen.
"Da bist du ja endlich, Llynya. Wir haben dich schon überall gesucht. Und wie du wieder aussiehst. Wo sind deine Schuhe?"
Seufzend packte der eine die Frau am Arm und zog sie mit sich, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der andere war neben Snape stehen geblieben und beobachtete ihn besorgt.
"Geht es Ihnen gut, Mr. Snape?"
Der Angesprochene nickte nur kurz und stemmte sich von der Wand ab.
"Sind Sie sicher? Sie sehen irgendwie verstört aus."
"Mir geht es gut", versicherte Snape dem Heiler, der sich daraufhin zwar zögernd, aber doch ein für allemal umdrehte und seinem Kollegen folgte.
Eine lange Zeit stand Snape nur so da und blickte vor sich hin. Er war sich nicht sicher, was er da gerade gesehen hatte, doch er war davon überzeugt, dass es besser wäre, auf keinem Fall Mitchell oder irgendjemand anderem hier davon zu erzählen. Erst als er sich zum Gehen wandte, wurde er sich der Karte bewusst, die er noch immer in der Hand hielt. Er hob sie hoch, in den Lichtschein der Kerze. Darauf zu sehen war der Narr, der noch immer seelenruhig auf den Abgrund zuspazierte.


 
 

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