Engel der Hölle

 

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Kapitel 11


Severus und Lys huschten aus ihrem Versteck und dann zahllose dunkle, verwinkelte Gänge entlang. Es war erstaunlich, wie zielstrebig Lys in diesem Labyrinth ihren Weg fand. Auf eine seltsame Weise war Askaban ihr Reich und sie seine heimliche Königin. Die vergessene Gefangene, frei innerhalb der Mauern, jeden Winkel dieser Welt kennend wie ihre Westentasche. Ruhig und konzentriert ging Lys voran, an jeder Ecke kurz lauernd und witternd wie ein kleines, wildes Tier, und Severus folgte ihr, während sein Herz so laut klopfte, dass er meinte, sie müssten ihn in ganz Askaban hören und jeden Moment auftauchen.
Es kam aber niemand. Ab und zu nahm Lys jemanden wahr und änderte schnell die Richtung, führte Severus immer tiefer und tiefer in das Gewirr der Gänge hinein. Dies waren die Eingeweide von Askaban, verschlungen, dunkel, stinkend. Ab und zu eine Fackel an der Wand, die spärliches Licht gab. Fenster? Schon lange nicht mehr! Nicht einmal mehr Zellen, seit einiger Zeit. Nur Gänge und Treppen, Treppen und Gänge.
Falls Severus bei all den Flucht- und Umwegen noch nicht ganz die Orientierung verloren hatte, dann waren sie immer weiter nach unten vorgedrungen. Lieber Himmel, wie tief konnte es denn noch gehen? Sie mussten doch schon weit unter dem Meeresspiegel sein, oder? Wusste überhaupt irgendein Mensch außer Lys, dass es diese Unterwelt gab? Oder waren diese Gewölbe ebenso vergessen wie ihre kleine Herrscherin?
Severus begann zu glauben, dass er hier tatsächlich nie gefunden würde. Falls er es wirklich aushielt, hier zu bleiben. Der Ort hatte etwas unglaublich Bedrückendes an sich, und je tiefer sie kamen, desto schrecklicher wurden die eisige Kälte und das Gefühl der Beklemmung. Doch wirklich graute ihm erst, als ihm dämmerte, woher er dieses Gefühl kannte... "Dementoren!" stieß er entsetzt hervor. "Ich spüre ihre Nähe!"
Lys sah ihn kurz fragend an, dann sagte sie seelenruhig: "Ah, die Wassermänner? Ja, die leben hier, unter dem Meer. Was dachtest du denn?"

Natürlich. Völlig logisch. Klar. Wassermänner hausen unter dem Wasser. Severus atmete ein paar Mal tief durch und zählte innerlich ganz langsam bis zehn, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Ganz ruhig! Das war alles nur ein böser Traum oder ein schlechter Witz, oder? Hier unten konnte doch nicht wirklich das Zuhause der Dementoren sein! Obwohl, irgendwo mussten die ja "wohnen", aber er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wo sie ihre "Freizeit" verbrachten. "Lys", sagte er mit einer Ruhe und Sanftmut, für die er sich selbst bewunderte, "wir sind auf der Flucht vor den Dementoren. Oder 'Wassermännern', von mir aus. Weißt du, es ist nicht sehr sinnvoll, direkt zu ihnen hinzugehen, oder?"
"Wir gehen nicht zu ihnen hin", entgegnete Lys ebenso ruhig, während sie weiterlief, "zu denen geht es links entlang. Wir gehen nach rechts."
Irgendwie beruhigte ihn das nicht so ungemein, wie es sollte. "Aber sie sind ganz in der Nähe", warf er ein.
"Ich habe dir gesagt, dass du Mut brauchen würdest", antwortete Lys ungerührt. Dagegen war schwer etwas einzuwenden.

Bald darauf kamen sie an eine Weggabelung. Tiefer schien es nun nicht mehr zu gehen. Drei dunkle Tunnel zweigten hier ab, einer nach links, einer geradeaus und einer nach rechts.
"Links sind die Dementoren", rief sich Snape ins Gedächtnis, "rechts gehen wir lang." Er deutete auf den mittleren Gang und fragte: "Und was ist dort?"
Lys, die den ganzen Weg über so erschreckend kaltblütig gewesen war, schien zu erschauern. "Da gehen wir nicht hin", sagte sie nur, "komm!"
Er folgte ihr gehorsam. Was blieb ihm auch übrig? Zu tief steckte er in der ganzen Wahnsinns-Geschichte schon drin, und es gab kein Zurück. Wohin auch zurück? Zu denen, die nichts anderes im Sinn hatten, als ihn auf jede nur erdenkliche Art zu quälen? Die ihm das Leben nicht gönnten und nicht einmal den Tod? Was auch immer hinter diesem Tunnel auf ihn wartete, konnte allenfalls gleich schlimm sein. Wie ungemein beruhigend.

Der Tunnel war sehr dunkel, aber wenigstens nicht eng. Natürlich, wenn hier die riesigen Dementoren durchpassen sollten... Eine glitschige, stinkende Flüssigkeit bedeckte den Boden, und Severus rutschte mehrmals aus und balancierte mühsam sein Gleichgewicht aus, um nicht mehr als unbedingt nötig mit dieser ekelhaften Kloake in Berührung zu kommen. So kam er nur langsam voran.
Lys hingegen schien keine Probleme zu haben. Sie schritt zügig vorwärts und drehte sich ab und zu ungeduldig nach ihm um. Der Weg erschien Severus endlos. Doch schließlich erreichten sie das Ende des Tunnels und betraten ein riesiges Gewölbe. Zahlreiche Fackeln an den Wänden ließen es im Vergleich zu dem Tunnel geradezu gleißend hell erscheinen, obwohl es in Wahrheit doch ein recht düsterer Raum war. Lys war neben dem Ausgang beiseite getreten und ließ Severus herauskommen und sich umsehen. Er schrak zusammen, als er bemerkte, dass zahlreiche Personen im Raum waren.
"Keine Angst!" sagte Lys, "das sind meine Freunde."

Snape nahm mit dem ihm eigenen Misstrauen die "Freunde" erst einmal in Augenschein. Seltsame Freunde waren das aber auch, in der Tat! Sie guckten so komisch. Irgendwie an ihnen vorbei. Da sie sich nicht rührten, trat Severus näher heran - und erschrak, als er sah, dass sie alle angekettet waren! Mit schweren Eisenketten an die Wand geschmiedet, saßen sie in langen Reihen apathisch da. Askaban hatte auch hier unten noch Gefangene? Und warum um Himmels willen hatte Lys ihn hierher gebracht, wenn das ein Teil des Gefängnisses war?
Einen Moment lang keimte der Verdacht in ihm auf, sie habe ihn in eine Falle gelockt. Vielleicht war sie doch eine Mitarbeiterin von Bait, abgestellt für die Aufgabe, ihn zur Flucht zu verleiten, damit man einen Grund hatte, ihn noch grausamer zu bestrafen. Am Ende hatte sie ihn hierher gebracht, damit auch er an dieser Wand angeschmiedet würde? Und dann? In Stücke geschlagen, wie Bait es angekündigt hatte? Aber diese hier sahen eher aus, als hätte man sie unter Drogen gesetzt. So abwesend. Und ihre Augen!
Der Zaubertränkemeister hatte Menschen gesehen, die unter dem Einfluss verschiedenster Gifte standen. Aber nie so etwas wie das. Diese grauenerregenden Augen! Man konnte sie nicht einmal als "glasig" bezeichnen. Stumpf und völlig glanzlos starrten sie vor sich hin ins Leere. Matte Scheiben, und dahinter nichts. Nichts! "Lys", hauchte Severus mit erstickter Stimme, "was sind das für Kreaturen?"

Lys sah ihn mit einer unheimlichen, eiskalten Ruhe an. "Darauf kommst du selber. Denk nach!"
Er sah sie ratlos an.
"Die Augen sind die Fenster zur Seele, sagt man", half Lys ihm auf die Sprünge, "nun, was siehst du hinter diesen Fenstern?"
"Nichts."

Snape musste sich am Ausgang des Tunnels festhalten, um nicht umzukippen, als er begriff. "Oh mein Gott, Lys", flüsterte er, "die Menschen ohne Seele! Die Opfer der Dementoren! Sind sie das?"
Sie nickte und sagte mit einer ungewohnten Härte und Verbitterung in der Stimme: "Du hast dich auch nie gefragt, wo sie hinkommen, oder? Gib es zu!"
Nein, das hatte er nicht. Anscheinend fragte sich das niemand. Er kannte jedenfalls keinen, der danach gefragt hatte. Die Zaubererwelt lebte behaglich in ihrem Rahmen von Gesetz und Ordnung. Wer aus diesem Rahmen fiel, wurde mit der erwünschten Härte verfolgt, wurde weggesperrt hinter Mauern, hinter denen es keine Menschenrechte mehr gab, und die alles barmherzig vor den Augen der empfindsamen Bürger versteckten. Und wer allzu störend und verstörend gewesen war, erhielt den Kuss und war ganz weg. Ganz weg? Natürlich wurde ein entseelter und doch lebender Körper nicht einfach begraben. Sie mussten irgendwo sein, doch niemand wollte so genau wissen, wo. Hier also waren sie, und er musste hinsehen. Und wenn alles nach Plan und nach Recht und Gesetz ging, dann würde er bald einer von ihnen sein.

"Warum halten sie sie hier unten gefangen?" fragte Snape, der fühlte, wie ihm schlecht wurde.
"Irgendwo müssen sie ja sein", erwiderte Lys kühl, "irgendwo, wo sie das Auge nicht stören. Was dachtest du denn?"
"Ich... ich weiß nicht...", stammelte Snape, "ich dachte... in St Mungo´s oder so..."
Lys lachte kalt auf. "Was ist das? Lass mich raten: Ein Heim für Geisteskranke? Das ist für ihre eigenen Leute, nicht für solche. Die hier dürfen nichts kosten. Die müssen etwas einbringen."
"Einbringen?" Snape starrte sie verständnislos an, "wie sollen die noch etwas einbringen? Was machen sie mit ihnen? Lys, was machen sie mit ihnen?"
"Versuche."

"Versuche?" Snapes Gehirn arbeitete erbarmungslos weiter, obwohl er diesen Gedanken nicht weiterverfolgen wollte. Vorstellungen drängten sich ihm auf, die er nicht sehen wollte, und dennoch platzte die Frage aus ihm heraus: "Was für Versuche?"
"Viele Arten Versuche. Mit Zaubertränken zum Beispiel. Sie testen sie an ihnen. Sie flößen sie denen ein und schneiden sie hinterher auf, um zu sehen, was es in ihnen angerichtet hat."
Snape war nun nahe daran, sich zu übergeben. Die misslungenen Kreationen von Oberamtszauberer Root wurden an diesen wehrlosen Halbtoten hier getestet! Vielleicht... Der Würgreiz wurde fast übermächtig. Vielleicht waren auch einige seiner eigenen Tränke hier erprobt worden, bevor das Ministerium sie zur Verwendung freigab. Lys sollte, verdammt noch mal, bitte, bitte sagen, dass sie gelogen hatte! Dass das alles nicht wahr war! Dass es das nicht gab! Doch sie fuhr ungerührt fort: "Aber es gibt noch andere Arten von Versuchen."
Severus schluckte den gewaltigen Knoten in seinem Hals hinunter und fragte tonlos: "Was für welche?"
"Komm mit, dann zeige ich es dir."

Sie führte ihn weiter ins Innere des Gewölbes hinein, vorbei an der trostlos langen Reihe ausdrucksloser Gesichter. "Aber sie fühlen keinen Schmerz mehr, oder?" fragte Severus mit einem bangen Fünkchen Hoffnung.
"Doch", machte Lys auch dies zunichte, "sie haben nur keine Seele mehr, kein Ich-Bewusstsein, keine Erinnerungen, keine Emotionen. Vielleicht keine Angst im eigentlichen Sinne. Aber alles, was rein körperlich ist, besitzen sie noch: Reflexe. Gewisse Urinstinkte. Und Schmerzempfinden. In vollem Umfang. Das ist sogar wichtig für ihre Verwendung."
Verwendung! Was für ein zynisches Wort, und wie gelassen diese kleine Frau es aussprach. "Wie, Verwendung?"
"Das wirst du gleich sehen."

Sie durchschritten eine Art Torbogen und gelangten in die nächste Halle. Hier herrschte eine geradezu erdrückende Hitze. Etwas, das Severus in dem eisigen Askaban nie und nimmer erwartet hätte. Schnell sah er aber auch, wo die Hitze herrührte: Im Hintergrund waren riesige Feuer. Davor eine Art Maschinen. So etwas wie riesige Zahnräder oder Wassermühlen? "Hier machen sie Versuche mit dem, was sie wirklich wollen: Muggel-Magie", sagte Lys, "das einzige, was die Muggel haben und sie nicht. Das können sie nicht ertragen. Sie wollen sie erforschen und erlangen, die Muggel-Magie." Muggel-Magie? Snape fragte sich, was das sein sollte.

Er kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Waren das Menschen, hinter... nein, auf den Rädern? Tatsächlich, Menschen, mit demselben richtungslosen Blick wie die da draußen an der Wand, und sie rannten. Rannten, rannten, rannten, unablässig, als wollten sie fliehen. Doch sie kamen nicht vom Fleck. Schwere Ketten hielten sie erbarmungslos fest. Hinter ihnen aber waren die Flammen. Diese riesigen Höllenfeuer.
"Sie wollen weg", erklärte Lys, "weg vom Feuer. Es ist ein Urinstinkt von Mensch und Tier: die unbewusste Angst vor dem Feuer, der Fluchtreflex."
Snape sah in ihre Gesichter: Ihre Augen zeigten keine Angst, zeigten absolut nichts, aber ihre Gesichtszüge waren verzerrt wie von einer grenzenlosen Panik. Ja, sie wollten eindeutig weg vom Feuer, aber sie konnten nicht weg. Und so rannten sie, ohne Ende. Immer auf der Stelle. Und das verzweifelte Trappeln ihrer Füße setzte etwas in Bewegung. Die Räder, an denen sie angekettet waren und deren Querbretter sich bei jedem Schritt unter ihnen fortbewegten, Stufe um Stufe. Es waren Laufräder! Laufräder, wie in einem Hamsterkäfig. Riesige Laufräder, für Menschen. Für entseelte, willenlose, versklavte Menschen. Sie konnten nicht denken, konnten nicht beschließen, mit dem Rennen aufzuhören, weil es sinnlos war. Sie hatten nur ihren Instinkt, und der befahl immerfort zu fliehen, vor dem entsetzlichen Feuer. Und vor dem Schmerz, den jedes Lebewesen meidet.

Snape schüttelte fassungslos den Kopf, so als könnte er das abschütteln, was er sah. Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Es musste ein Alptraum sein! Doch es gab kein Erwachen. Sein Blick fiel auf die Seite des Raumes, die den grässlichen Maschinen gegenüber lag. Dort zuckten, hinter einer Scheibe, blaue Blitze. Bei denjenigen Sklaven, die am schnellsten und verzweifeltsten rannten, waren die Blitze am hellsten. "Sie erzeugen sie?" fragte er, und im nächsten Moment wurde ihm klar, was es war. Die Muggel-Magie! Das einzige, was die Muggel besaßen und die Zauberer nicht. Wie nannten sie es? Elektrizität?

Lys nickte hinüber zu den sinnlos Fliehenden: "Sie machen die Muggel-Magie. Es ist nicht viel. Es wird weiter geforscht, um bessere Methoden zu finden. Aber das ist die einzige, die sie bisher haben. Die Zauberer verstehen das Prinzip der Muggel-Magie nicht wirklich. Aber sie wollen sie unbedingt besitzen."
Snape stöhnte: "Als hätten wir ihnen nicht genug voraus. Nun brauchen wir also das auch noch, nur um es zu besitzen. Und dieser sinnlose Zweck heiligt das hier?"

Er beobachtete den Mann, bei dem die Blitze am hellsten aufleuchteten. Ein Hüne von einem Mann, fast an Hagrid erinnernd, strotzend vor körperlicher Kraft, aber mit demselben leeren Blick wie alle anderen. Seine schwarzen Haare, die ihn beim Rennen umflatterten, erinnerten an Severus´ Haare, wenn der kräftige Mann auch sonst keinerlei Ähnlichkeit mit dem von Natur aus dünnen und nun wirklich abgemagerten Snape hatte.
"Seine Augen waren wie deine", sagte Lys, als hätte sie seine Gedanken gelesen, "so schwarz und glitzernd. Aber nun sind sie tot und stumpf. Es lag eine solche Macht in ihnen. Und nun nichts mehr. Nichts."
"Du kanntest ihn? Ich meine, bevor..."
"Ja. Er war da oben eingekerkert, so wie du. Ich habe ihn besucht, so wie dich. Er war so schön, so mächtig..."
Snape schnaubte bitter: "Es hat ihm nicht viel genutzt."

Lys, die seit sie hier unten waren, so kalt und ungerührt gewirkt hatte, veränderte sich nun plötzlich. Ihr Blick war wild und leidenschaftlich, als sie sagte: "Ihn haben sie bekommen. Mir weggenommen. Ihn und die anderen. Immer wieder mir weggenommen. Aber dich kriegen sie nicht! Diesmal kriegen sie dich nicht, mon corbeau!"
"Mich werden sie auch kriegen", seufzte Snape, "früher oder später. Ich werde genau so enden: Leergetrunken von den Dementoren und dann... Ich habe nie weiter gedacht als bis zum Tag des Kusses. Als hätte dann alles ein Ende. Aber danach fängt das Leiden erst an. In unaufhörlicher Angst auf einem Laufrad. Oder seziert, um Tränke zu testen. Meine eigenen vielleicht. Bis der Körper irgendwann tot ist. Und dann?"
Lys gab keine Antwort. "Das ist es, was dir bevorsteht", bestätigte sie nur, "und, hast du es verdient?"
"Nein!" antwortete Snape ohne Zögern.
"Gut so! Sehr gut. Was bist du? Schuldig oder unschuldig?"
"Unschuldig", antwortete Snape.
"An dem Mord?"
"Ja."
"Gut. Und an allem anderen?"
"Auch."

Lys lächelte und strich Severus übers Haar. Offenbar war sie froh, dass er seine Lektion gelernt hatte, in jener Nacht in der Zelle. "Du bist nicht schuld", flüsterte sie, "du hast das alles nicht verdient. Alles in deinem Leben nicht. Es war ein Unrecht."
Er nickte langsam. "Ein Unrecht... wie das hier. Ein schreiendes Unrecht. Er da", Snape deutete auf den kräftigen Sklaven, "war er schuldig oder unschuldig?"
"Schuldig", antwortete Lys und sah ihn prüfend an, "und, ist es Recht oder Unrecht?"
"Unrecht", sagte Snape finster, "niemand hat dieses Schicksal verdient. Niemand."
Lys sah sehr zufrieden aus.

Snape fühlte sich alles andere als zufrieden. Er ließ sich auf den Boden sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. "Und dafür habe ich mein Leben riskiert?" fragte er verzweifelt. "Dafür habe ich gegen Voldemort gearbeitet, für die 'gute Seite'? In all der schrecklichen Zeit bei Voldemort habe ich nicht soviel Grausamkeit gesehen wie hier, auf der 'guten' Seite!"
"Wer ist Voldemort?" fragte Lys, "ist er gut?"
Snape sah sie ungläubig an. Wie weltfremd konnte man werden, hier in Askaban, umnachtet vom Wahnsinn? "Nein", sagte er bitter, "er ist nicht gut. Er ist böse und grausam. Aber die, die ihn bekämpfen, sind nicht besser. Und das tut weh. Welchen Sinn hat es denn dann gehabt, dass ich mich von ihm abgewandt habe?"
Lys sah ihn ratlos an. "Vielleicht gibt es auch wirklich Gute?" schlug sie vor. "Irgendjemanden, für den es sich gelohnt hat?"
Snape nahm die Hände von seinem Gesicht und blickte zu ihr auf. "Ja", sagte er dann, "einen. Albus."

Lys Gesicht nahm wieder den kühlen, entschlossenen Ausdruck an. "Du hast jetzt zwei Möglichkeiten", stellte sie fest, "du kannst dich für den Rest deines Lebens hier unten verkriechen, damit sie dich niemals finden und du nicht endest wie diese hier. Die Chancen sind gut, in die hintersten Winkel des Gewölbes kommt nie jemand. Oder du kannst versuchen, etwas gegen das hier zu tun. Die Chancen sind schlecht. Sie könnten dich erwischen."
"Die Chancen sind null", erwiderte Snape verbittert, "welche Möglichkeit soll es geben, etwas dagegen zu tun?"
Lys zog die Schultern hoch: "Ich weiß nicht. Vielleicht dein... Albus?"

Snape dachte kurz nach, dann sprang er auf. Albus! Seine Internationale Zauberervereinigung! Wenn sie von dem hier erfahren würden... das hier war nicht im "gesetzlichen Rahmen"! "Lys! Gibt es in Askaban eine Eulerei?" fragte er aufgeregt.
"Ja", erwiderte Lys, "die gibt es. Oben im höchsten Turm. Ich kenne den Weg. Aber er ist gefährlich. Wir müssen durch die ganze Festung. Von ganz unten bis ganz oben. Sie könnten dich erwischen."
Snapes Blick war entschlossen. "Das Risiko ist es mir wert", sagte er, "ich bin es mir wert. Ich muss nicht vor denen fliehen. Ich bin unschuldig. Auch wenn die es nicht wissen, aber ich weiß es. Ich werde mich nicht für den Rest meines Lebens im untersten, dunkelsten Gewölbe verkriechen, nur um gnädigerweise und möglichst ungesehen leben zu dürfen!" Aber hatte er nicht genau das sein Leben lang getan?

"Gut so", sagte Lys lächelnd, "sehr gut so. Dann komm!"


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