Engel der Hölle

 

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Kapitel 12


Zurück durch die Halle des Grauens, vorbei an den teilnahmslosen Gefangenen, zurück durch den Tunnel, wo Snape zum zweiten Mal dankbar war für seine vor Kälte taub gewordenen Füße, weil er die ekelerregenden Pfützen nicht spüren wollte, durch die er waten musste. Den ganzen langen Weg zurück über Treppen und Gänge, und weiter hinauf als zuvor. Vorbei an ihrem Versteck, das nicht mehr sicher war, schnell Essensvorräte holen, schnell weiter. Hundertmal Panik bei dem geringsten Geräusch, weghuschen in irgendeinen Winkel, um nicht den Wachen in die Arme zu laufen.
Askaban schien voller Suchtrupps zu sein: Auroren, Wärter, Dementoren. Letztere waren das Schlimmste. Ihre Nähe ließ alle Lebenskraft erlahmen, nahm jedes Fünkchen Hoffnung oder Mut. Snapes Beine, die vom vielen Treppensteigen schmerzten, knickten unter ihm weg, wenn die Kälte der Kreaturen ihn erreichte. Sein Wille, der ihn eisern vorwärts trieb, erlahmte. Sein Zorn, sein Empfinden für Gerechtigkeit und Stolz, verblassten.
Doch immer war da das Gegengewicht: Lys. Sie hielt seine Hand, wenn sie kamen, gab ihm Kraft, sagte ihm immer wieder geduldig dieselben Worte: "Du bist nicht schuldig. Es ist ein Unrecht. Du kannst etwas tun." Sie schaffte es tatsächlich, ihn jedes Mal wieder aufzurichten. Erstaunlicherweise wurde sie durch die Nähe der Dementoren offenbar nicht im geringsten beeinträchtig. Snape fragte sich, ob man durch jahrelangen Kontakt immun gegen die deprimierende Ausstrahlung dieser Monster werden konnte.

Lys öffnete eine weitere Tür, und Severus schleppte sich hinter ihr her. Er hatte aufgehört zu denken. Nur immer einen Fuß vor den anderen. Weiter, weiter. Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Ein Rascheln, dann ein Heulen. Etwas Weiches streifte seine Wange. Beinahe hätte er geschrieen vor Schreck, doch das durfte er nicht. Sie würden ihn finden. Wenn sie nicht schon... was war das?
Zitternd hob er den Kopf und sah die Eule, die sich ebenso erschreckt hatte, hektisch wegflattern. Hinauf ins Gebälk, zu den anderen Eulen. Eulen?! "Wir sind da", sagte Lys. Die Eulerei! Er hatte nicht mehr wirklich daran geglaubt, dass sie je ankommen würden.

Die Eulerei sah nicht viel anders aus als die von Hogwarts. Es war zwar logisch, aber doch befremdlich, dass irgendetwas hier in Askaban so normal war. Nur die Eulen selbst waren etwas anders. Die zierlicheren Arten, wie Waldkäuze und Schleiereulen, fehlten. Das gesamte fliegende "Personal" bestand aus riesigen, kräftigen Uhus. Dies war leicht einzusehen: Hier konnte man nur Eulen gebrauchen, die den weiten Weg übers Meer mühelos schafften. Und die Tiere mussten schnell sein. Briefe von und nach Askaban konnten eilig sein, konnten über Leben und Tod entscheiden.

Snape entdeckte ein Schreibpult mit einem Vorrat von Pergament, Federkielen und Tinte, und er begann fieberhaft zu schreiben:


Lieber Albus,

du musst hierher nach Askaban kommen, so schnell wie möglich, bitte! Ich kann dir jetzt nicht alles erklären, sie können jederzeit kommen. Ich bin auf der Flucht, aber innerhalb von Askaban. Habe ungeheuerliche Dinge entdeckt! Bitte bring Verstärkung mit, Leute von der Internationalen Zauberervereinigung, und die Presse!

Severus



Er band den Brief einem besonders großen Uhu ans Bein und schickte ihn los mit den Worten: "Zu Albus Dumbledore, Hogwarts! Eileule!" Der Vogel schwang sich unverzüglich aus einem der Turmfenster. "Wenn er nur nicht abgefangen wird", hoffte Severus.
"Niemand fängt ihn ab, über dem Meer", meinte Lys, "und wenn, dann bist du längst wieder unten in den Gewölben. Da finden sie dich nicht."
Doch Severus schüttelte den Kopf: "Wir können nicht zurück in die Gewölbe gehen."
Lys starrte ihn an, als wäre er jetzt der Verrückte von den beiden: "Warum nicht? Es ist der einzige wirklich sichere Ort!"
"Das vielleicht", sagte Snape, "niemand würde uns dort finden. Aber Dumbledore auch nicht! Wir wissen nicht, wann er kommt. Bring mich in die Nähe des Bereichs, wo Besucher empfangen werden!"
Lys schien der Gedanke unangenehm. "Es ist gefährlich!" gab sie zu bedenken. "Dort sind viele Wachen und nur wenige Verstecke."
"Ich weiß. Aber wir müssen es riskieren. Sonst sind wir umsonst überhaupt hier herauf gekommen."
Lys nickte langsam: "Nun gut. Du bist stark, wie ich sehe. Mutig. Gut... Aber es ist ein schrecklicher Ort."
Snape hob schicksalsergeben die Schultern und die Augenbrauen an und seufzte: "Ich fühle mich inzwischen an schrecklichen Orten ja schon fast wie zuhause."

***



"Da wären wir." Sie standen am Rand einer großen, für Askaban-Verhältnisse ungewöhnlich hellen Halle. Hier gab es Fenster, Tageslicht! Der Raum wirkte geradezu freundlich, im Vergleich. "Der Besucher-Bereich", erklärte Lys, "bis hierher kommen sie. Weiter nicht."
Das war es also! Askabans Vorzeigebereich, seine "gute Stube". Nichts an diesem Ort erweckte den Verdacht, es könnte den Insassen dieses Gefängnisses wirklich schlecht gehen. Alles hier war sauber, hell, korrekt. Eine Anzahl Sitzbänke waren da. 'Es erinnert an einen Klassensaal', dachte Snape wehmütig. Oder an eine Kirche. Ja, tatsächlich, es standen sogar ein paar Blumen herum! Und Kerzen. Wie feierlich! Und was sollte das ganze?

"Dieser Ort ist nicht so schrecklich, oder?" Snape sah Lys fragend an.
"Nein? Dann sieh da hinüber!" Severus´ Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger zu einem Gerüst, das den Bänken gegenüberlag. Eine Art Wand und daran, etwas oberhalb seiner Kopfhöhe, zwei Eisenringe, offen, bereit zuzuschnappen. Gerade breit genug für zwei schmale Handgelenke. Snape wollte nicht verstehen, was er sah.
Lys beantwortete dennoch seine ungestellte Frage: "Das Hinrichtungs-Gerüst. Hier wird man festgemacht, bevor der Dementor kommt."
In Snapes Kopf begann sich alles zu drehen. Die Vorstellung war zu irrsinnig! Diese Feiglinge hatten es wirklich nötig, ihre wehrlosen, geschwächten Gefangenen anzuketten, damit sie einem vier Meter großen, jeden Widerstand zersetzenden Dementor nicht entkommen konnten? Wie musste es sein, hilflos hier zu stehen und auf das Erscheinen des Monsters zu warten, während einem gegenüber, brav und gesittet wie auf Kirchenbänken, die liebe Trauergemeinde saß und zusah? Wer mochte dort üblicherweise sitzen? Weinende Angehörige, sofern man welche hatte? Oder lachende Schaulustige? Wer auch immer, Hauptsache alles hatte seine Ordnung. Alles lief nach Recht und Gesetz und geordneten Ritualen. Mit Blumen und Kerzen. Und danach geht man heim, und das Leben geht weiter. Ja ja, es war ein trauriger Anblick, aber man hat dem Toten seine Referenz erwiesen, und nun ist es vorbei. Kein Gedanke daran, dass niemand tot und nichts vorbei ist. Dass hinter diesem Saal die Hölle liegt.

Snape stützte den Kopf in beide Hände, um das Schwindelgefühl zu stoppen. Nach einer Weile wagte er einen weiteren Blick auf das Gerüst und flüsterte: "Es ist für mich, nicht wahr?"
Lys nickte: "Ja, es ist für dich. Aber: Es ist leer!"
Severus atmete einmal tief durch und sagte dann leise, aber bestimmt: "Und das soll es bleiben. Lass uns gehen."

Die nächste Zeit hielten sie sich immer mehr oder weniger in der Nähe des Saales auf, um nur nicht Dumbledores eventuelle Ankunft zu verpassen. Sie hatten nichts, woran sie Zeit messen konnten, aber es mochten einige Tage sein. Tage in ständiger Angst und Fluchtbereitschaft. Immer wieder mussten sie ihre Verstecke wechseln, und entgingen ein paar mal nur ganz knapp den Suchtrupps. Wann würde Albus kommen? Würde er überhaupt kommen? Und wann war der 15. Tag?

***



"Minerva!"
"Ja, Albus, ja! Ich habe den Brief gelesen! Schon mindestens zehnmal."
"Ja... gut... ja... Wie kann das nur sein, auf der Flucht, innerhalb von Askaban? Und was meint er mit 'ungeheuerliche Dinge'?"
"Wir werden es bald herausfinden, Albus."
"Ja. Ich muss alles organisieren, schnell! Die Leute von der Internationalen Zauberervereinigung! Und Rita Kimmkorn! Sie müssen alle sofort her! Wenn wir heute noch aufbrechen, kommen wir gerade richtig zum 15. Tag. Ich wäre sowieso heute abgereist. Aber das nun alles noch zu organisieren, in der Eile! Ah, Minerva..."
"Ja?"
"Würdest du mich begleiten?"
"Das hatte ich ohnehin vor. Dachtest du wirklich, ich würde nicht Abschied nehmen wollen, von Severus?"
"Danke, Minerva."


Kapitel 11

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