Fern der Heimat

 

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Kapitel 6: Eskalation

 



Am nächsten Morgen erwachte Harry erst, als bereits die Sonne hell durch das Fenster des Schlafzimmers schien. Verwirrt blickte er sich in dem unbekannten Zimmer um. Er brauchte einen Moment, um sich an alles zu erinnern, was am Vortag geschehen war.
Es kostete ihn einige Überwindung aufzustehen, denn der Gedanke, schon am Morgen, vor dem Frühstück, Snape zu begegnen war nicht gerade erbaulich.
Als Harry sich schließlich doch dazu aufgerafft hatte aufzustehen und sich angezogen hatte, verließ er schlurfend das Schlafzimmer, um sich in die Höhle des Löwen zu begeben.
Vorsichtig blickte er sich in der Muggelwohnung um, aber von Snape war nirgendwo eine Spur zu entdecken.
Als Harry die Küche betrat stockte ihm fast der Atem. Er hätte alles erwartet, aber nicht das: Auf dem Tisch stand ein üppiges Frühstück, das wirklich nichts vermissen ließ.
Harry pfiff beeindruckt durch die Zähne. Er setzte sich, und ließ es sich schmecken. Von Snape war weiterhin weit und breit keine Spur, aber Harry konnte nicht sagen, dass er diesen Umstand irgendwie bedauerte.
Nachdem er endlich satt war stand er auf, um nun endlich nachzusehen, wo Professor Snape wohl war. Er ging zurück in den Flur, und nun fiel sein Blick auf einen Zettel, der an der Tür des Labors hing. Scheinbar hatte Harry ihn vorhin übersehen. Er riss den Zettel ab, und begann zu lesen:


Mr. Potter,

um diesen Vormittag sinnvoll zu nutzen werden Sie eine ausführliche Abhandlung über den Zwergenaufstand von 1723 schreiben. Berücksichtigen Sie hierbei vor allem die Rolle von Heidrun der Hutzligen.
Dieses Ereignis sollten Sie bereits im letzten Schuljahr bei Professor Binns durchgenommen haben.
Um Ihnen einige Mühe zu ersparen: Das Labor ist verschlossen, es hat demzufolge keinen Sinn, zu versuchen, die Informationen aus den dortigen Büchern herauszusuchen. Sie werden den Aufsatz also aus dem Gedächtnis schreiben müssen.

Außerdem werden Sie sich mit den theoretischen Grundlagen des Verkleinerungszaubers ‚parvilus' vertraut machen. Ein Buch zu diesem Thema finden Sie im Wohnzimmer.

Ich werde gegen 15:00 Uhr aus der Muggelschule zurück sein. Ich erwarte, dass Sie diese Aufgaben bis dahin sorgfältig erledigt haben.

Bitte haben Sie die Güte und geben sich etwas mehr Mühe als bei Ihrer überaus unbefriedigenden Arbeit von gestern.
Mit solch einer kläglichen Leistung ist es schwer vorstellbar, dass Sie den Anschluss an Ihre Klassenkameraden in Hogwarts schaffen werden, falls Professor Dumbledore Ihre Rückkehr überhaupt genehmigt.

Professor Severus Snape



Wütend zerknüllte Harry den Brief.
"Verdammter Tyrann", zischte er ärgerlich, "darauf kann er lange warten."
Wütend stapfte Harry ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag, wie beschrieben, ein dickes Buch. Es war das ‚Lehrbuch der Zaubersprüche Band 8'. Harry nahm das Buch in die Hand und betrachtete es überrascht. In ‚Zauberkunst' war dies das offizielle Lehrbuch, aber Harry hatte nicht gewusst, dass es auch noch einen achten Band davon gab.
Harry legte das Buch wieder zurück auf den Tisch und setzte sich auf das braune Sofa. Was sollte er jetzt machen, überlegte er nachdenklich.
Was würden seine Freunde wohl in dieser Situation machen? Ron würde sich mit Sicherheit aufregen und herummaulen, und Hermine?
Hermine würde sicherlich sagen: "Nutz diese Chance, da kannst du sicher noch was lernen."
In diesem Moment wurde Harry durch ein Geräusch aus seinen Gedanken gerissen. Mit einem Satz war er auf den Beinen.
Es hatte sich angehört, als klappere jemand mit Geschirr. Harry ging vorsichtig durch den Flur, bis er eine Position erreicht hatte, von welcher er in die Küche blicken konnte.
Harry traute seinen Augen nicht, als er sah, was dort vor sich ging. Ein Hauself war eifrig damit beschäftigt, das dreckige Geschirr vom Frühstück zu säubern und in die Schränke zu räumen.
Als Harry langsam einen Schritt näher ging, erkannte er den Elf: Es war Dobby. Mit aufgerissenem Mund starrte Harry den Hauself an.
"Dobby", rief er fassungslos.
Vor Schreck ließ Dobby fast die Tasse fallen, die er gerade in der Hand hielt. Ruckartig drehte er seinen Kopf in Richtung Küchentür, wobei seine langen Ohren wild um seinen Kopf schlackerten.
"Harry Potter, Sir", rief er begeistert, als er Harry erblickte, "was macht Harry Potter denn hier?"
"Das wüsste ich auch gerne", sagte Harry leise zu sich selbst.
Dobby legte seinen Kopf schief und blickte Harry verständnislos an. "Wie meint Harry Potter das?", fragte er.
"Ach, gar nichts", sagte Harry abwehrend. "Ich meinte nur, dass ich eigentlich nur gezwungener Maßen hier bin."
"Aber warum?", fragte Dobby. "Ist Harry Potter nicht gerne beim Professorchen?"
Harry musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten. Professorchen war wirklich keine alltägliche Bezeichnung für Professor Snape.
"Nicht wirklich", antwortete Harry ausweichend, "aber was machst du eigentlich hier? Arbeitest du nicht mehr in Hogwarts?"
"Oh, doch Sir, aber natürlich arbeitet Dobby noch für großen Professor Dumbledore, aber der Direktor hat Dobby darum gebeten, sich um Professorchen zu kümmern, so lange er bei den Muggeln ist. Also arbeitet Dobby seitdem vormittags hier, und nachmittags ist er in Hogwarts."
"Ach so, ich verstehe", antwortete Harry. "Arbeitest du denn gerne hier?"
"Aber natürlich, Sir", quietschte Dobby fröhlich. "Professorchen ist so gut zu Dobby."
Harry blickte Dobby erneut verständnislos an.
"Professorchen hat Dobby heute morgen erzählt, dass er Besuch hat", fuhr Dobby unbekümmert fort, "aber Dobby hat nicht gewusst, dass Harry Potter der Besuch ist."
"Was hat er denn erzählt?", fragte Harry neugierig.
"Oh, Professorchen hat nicht viel erzählt", antwortete Dobby. "Professorchen war heute morgen sehr beschäftigt. Dobby glaubt, dass er einen Aufsatz korrigiert hat. Dann ist er in sein Labor und hat lange in Büchern gelesen."
Harry runzelte die Stirn. Diese Antwort war nun wirklich nicht sehr informativ gewesen.
"Danach hat Professorchen einen Brief geschrieben. Er hat Dobby gebeten diesen Brief an die Tür des Labors zu hängen, wenn Professorchens Besuch gefrühstückt hat", fuhr Dobby fort.
Harry nickte. Dies war natürlich eine Erklärung dafür, dass er den Brief zuvor nicht gesehen hatte.
"Und sonst hat er nichts gesagt?", fragte Harry weiter.
Dobby schüttelte energisch den Kopf. "Nein, Sir", antwortete Dobby, während ihm seine Ohren ins Gesicht klatschten, "Professorchen war sooo beschäftigt. Er hat nur gesagt, dass er das alles für seinen Besuch macht."
"Na das ist ja schmeichelhaft", knurrte Harry.
"Oh ja, Sir", bestätigte Dobby sogleich, "Professorchen macht sich nicht oft so viel Arbeit. Professorchen hat Dobby außerdem gebeten, seinem Gast ein gutes Frühstück zu machen, da schwere Arbeit auf ihn wartet."
Harry stand einen Moment sprachlos da. So etwas war gar nicht typisch für Professor Snape. Hatte Snape vielleicht aus irgend welchen Gründen verdrängt, dass es sich bei dem ‚Gast' um Harry handelte?
"Jetzt sollte Harry Potter sich aber an die Arbeit machen", sagte Dobby streng, ohne auf Harrys Reaktion zu achten.
"Eigentlich hatte ich das nicht vor", knurrte Harry.
"Aber Sir, Professorchen hat sich so viel Mühe gegeben", entrüstete Dobby sich.
Harry überlegte einen Augenblick. Wahrscheinlich wäre Snape sehr ungehalten, wenn Harry die Aufgaben tatsächlich nicht erledigen würde, die er ihm hinterlassen hatte, vor allem wenn es stimmte, was Dobby gesagt hatte, und Snape sich wirklich so viel Mühe damit gemacht hatte.
Aber vielleicht konnte er sich einiges an Arbeit ersparen, wenn er es schaffte an die Bücher im Labor heran zu kommen. So musste er den Aufsatz über den Zwergenaufstand wenigstens nicht aus dem Gedächtnis schreiben.
"Dobby", begann er vorsichtig, "kannst du vielleicht die Tür zum Labor öffnen?"
"Nein, Sir", antwortete Dobby sofort, "die Tür ist magisch verschlossen, und Dobby kennt nicht die Formeln um sie zu öffnen. Was will Harry Potter denn im Labor?"
"Ach, ich dachte nur, dass ich eine bessere Arbeit für Professor Snape schreiben könnte, wenn ich die vielen Bücher dort zur Verfügung hätte", sagte Harry treuherzig.
Dobby legte den Kopf schief und blickte Harry forschend an.
"Nein, Sir, da kann Dobby Ihnen nicht helfen", antwortete er schließlich. "Dobby muss jetzt weiterarbeiten, sonst kommt Dobby zu spät nach Hogwarts."
Harry nickte. Dann verließ er die Küche, ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Einen Moment saß er noch grübelnd da, dann nahm er seufzend die Feder, die auf dem Tisch lag, und begann aufzuschreiben, an was er sich noch von diesem Zwergenaufstand erinnern konnte.

Harry war viele Stunden mit den Aufgaben, die Severus Snape ihm hinterlassen hatte, beschäftigt. Alleine der Aufsatz hatte ihn schon lange aufgehalten, aber Harry hatte nicht erwartet, dass dieser Verkleinerungszauber derart kompliziert und zeitaufwendig sein würde.
Er musste das Kapitel im ‚Lehrbuch der Zaubersprüche Band 8' unzählige Male lesen, um überhaupt eine Idee davon zu bekommen, wie dieser Zauber auch nur ansatzweise funktionieren sollte.
Es war bereits Nachmittag, als Harry stöhnend das Buch zur Seite legte. Es war schwierig, einen Zauber zu lernen, wenn man ihn nicht praktisch üben konnte, denn leider war Harry noch lange nicht so weit, um einen solch komplizierten Zauber ohne Zauberstab auszuführen.
Aber wenigstens schaffte er es mittlerweile ohne große Mühe Gegenstände schweben zu lassen.
Harry betrachtete einen Moment das Buch auf dem Tisch, dann konzentrierte er sich und flüsterte ‚Wingardium leviosa'.
Augenblicklich erhob sich das Buch in die Luft, leicht wie eine Feder. Harry lächelte triumphierend.
In diesem Moment wurde er von einer wohlbekannten Stimme aus der Konzentration gerissen.
"Sehr beeindruckend", sagte Severus verächtlich. Harry blickte abrupt auf. Mit einem lauten PENG fiel das Buch auf den Tisch zurück.
Severus stand in der Tür. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und eine Augenbraue kritisch hochgezogen.
"Ich hoffe, Sie haben nicht den ganzen Tag mit diesen Spielereien vergeudet, Potter", fuhr Severus drohend fort.
Wut kochte in Harry hoch.
"Das sind keine Spielereien", antwortete er ärgerlich.
"So?", fragte Severus amüsiert. "Geben Sie mir Ihre Arbeit."
Harry griff nach den Pergament-Seiten auf dem Tisch, stand auf und wollte um den Tisch herum gehen, um sie Severus zu geben, doch dieser hielt ihn abrupt auf.
"NEIN", sagte er scharf.
Harry blieb sofort stehen. "Was? Warum?", fragte er verwirrt.
"Zeigen Sie mir, was Sie können", antwortete er kalt. "Lassen Sie die Seiten zu mir schweben."
"Aber, das .....", begann Harry protestierend.
Severus zog erneut eine Augenbraue hoch. "Ach", begann er ölig, "sind wir dazu etwa nicht in der Lage?"
Harry kochte vor Wut. Diesem arroganten Tyrannen würde er schon zeigen, zu was er in der Lage war.
Ärgerlich knallte er die Blätter auf den Tisch. Dann konzentrierte er sich auf das Papier vor ihm und sagte leise "disaccio Aufsatz".
Lautlos erhoben sich die Pergamentbögen in die Luft und schwebten langsam quer durch den Raum zu Severus.
Als sie direkt vor seiner Nase waren hob er seine Hand und ergriff die Bögen. Harry grinste triumphierend.
Severus blickte Harry einen Moment kalt an, als wolle er etwas sagen, entschied sich dann jedoch anders. Wortlos begann er Harrys Aufsatz zu überfliegen.
Harry setzte sich wieder auf das Sofa, nahm die Feder vom Tisch, und drehte sie angespannt in den Händen.
Nach einigen Minuten blickte Severus von seiner Lektüre auf und starrte Harry kalt an.
"Bitte sagen Sie mir, dass dies hier nicht Ihr Ernst ist", sagte er schließlich.
"Was?", fragte Harry verständnislos.
"Das ist Müll, Potter", zischte Severus kalt. "Dieser Aufsatz hier ist absoluter Schrott. Ein Erstklässler hätte ihn besser schreiben können."
Harry lief vor Wut rot an und ballte die Fäuste. Das konnte Snape unmöglich ernst meinen. Harry hatte den ganzen Vormittag für seinen Aufsatz gebraucht, und dieser Mistkerl entschied innerhalb von nur 2 Minuten, dass Harrys Bemühungen umsonst gewesen waren?
"Das ist nicht wahr, und das wissen Sie", entfuhr es Harry ärgerlich.
"Wie bitte?", fragte Severus gefährlich ruhig. Langsam schritt er auf das Sofa zu, auf welchem Harry noch immer saß. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt, seine Lippen zu schmalen Linien zusammen gepresst.
Erbost stand Harry auf. Er hatte nun ein für alle Mal genug. "Sie haben genau verstanden, was ich gesagt habe!", schrie er wütend.
Severus starrte Harry wortlos an.
"Mir hängen Ihre ständigen Beleidigungen zum Hals raus!", schrie Harry weiter. Er kochte vor Wut. Wie oft hatte er genau das seinem verhassten Lehrer an den Kopf werfen wollen, hatte es jedoch nie gewagt, aus Angst, Snape würde seinem Haus mehr Punkte abziehen, als sie die nächsten 20 Jahre verdienen konnten. Jetzt spielte das jedoch keine Rolle mehr.
Severus bewegte keinen Muskel, sein kalter Blick war starr auf Harry gerichtet. Er war sich nicht sicher, wie er auf den Ausbruch des Jungen reagieren sollte, noch nie hatte ein Schüler ihn auf diese Weise angegriffen.
"Jetzt sind Sie wohl sprachlos?", blaffte Harry weiter.
Severus schwieg beharrlich.
"Sie können mich mal", zischte Harry und verließ wutentbrannt das Wohnzimmer.
Einen Moment später hörte Severus die Eingangstür ins Schloss fallen. Harry hatte augenscheinlich die Wohnung verlassen.
‚Verdammter Gryffindor', dachte Severus ärgerlich. Eigentlich hätte er Harry sofort folgen müssen, alleine war es für den Jungen im Moment einfach zu gefährlich, da die Anhänger Voldemorts ihr Unwesen in Surrey trieben, aber dazu war er nicht in der Lage.
Er kochte vor Wut. Noch nie hatte ein Mensch es gewagt ihn ungestraft auf solch eine Weise zu beleidigen. Schon als Schüler hatte er sich immer gegen solche Angriffe zu wehren gewusst.
Es war Severus ein Rätsel, warum er in dieser Situation unfähig gewesen war zu reagieren. Wurde er nach allem, was in den letzten Monaten geschehen war, langsam weich?
‚Unmöglich', entschied er bestimmt. Dieser Junge hatte ihn einfach unvorbereitet getroffen. Langsam schritt Severus durch das Zimmer zu dem großen Fenster. Er schob den schweren Vorhang zur Seite, öffnete es, schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. Langsam verebbte sein Zorn.
Er würde den Jungen zurückholen müssen, ob er wollte oder nicht. Dumbledore würde es ihm nie verzeihen, wenn Harry irgend etwas zustieß, und er sich selbst wahrscheinlich auch nicht.
Entschlossen öffnete er die Augen wieder. Ja, er würde den Jungen finden, und dann würde dieses respektlose Verhalten Harrys ein Nachspiel haben. So hatte der Junge nicht ungestraft mit ihm gesprochen.
Gerade als Severus das Fenster wieder schließen wollte hörte er einen erstickten Schrei, der von der Straße unter ihm, herauf drang. Es war Harry!
So schnell er konnte verließ Severus die Wohnung und rannte nach unten. Irgend etwas musste passiert sein!


Wutentbrannt verließ Harry die Wohnung. Dies war einfach zu viel für ihn gewesen. Was bildete sich dieser Tyrann eigentlich ein?
Er stapfte entschlossen die Treppe nach unten. Er war auf diesen Kerl nicht angewiesen, er kam auch gut alleine klar. Wahrscheinlich würde das Ministerium sowieso niemals zustimmen, dass Harry wieder zurück nach Hogwarts durfte. Was hatte es also für einen Sinn, sich an diesen Strohhalm zu klammern, und dafür bei einem Ekel wie Snape herum zu sitzen und zu warten, bis er die endgültige Absage des Ministeriums erhielt.
Als er das alte Haus verließ, in dem Snape zur Zeit wohnte, musste Harry die Augen zusammen kneifen. In der Wohnung war es so düster gewesen, dass er sich erst allmählich wieder an die Helligkeit draußen gewöhnen musste.
Harry blickte sich neugierig um. Es war ein trüber Tag und es nieselte leicht. Es war also kein Wunder, dass keine Menschenseele auf der Straße zu sehen war. Die Umgebung war wie ausgestorben.
Unschlüssig überlegte Harry, wohin er nun gehen sollte. Darüber hatte er sich noch überhaupt keine Gedanken gemacht, seitdem er so die Beherrschung verloren hatte.
Zu seinem Verwandten wollte er auf keinem Fall zurück, außerdem war das auch zu gefährlich.
Vielleicht konnte er ja zu Remus, überlegte er angestrengt. Nur wie sollte er Remus erreichen? Hedwig war noch immer bei Ron, also hatte er keine Möglichkeit Remus einen Brief zu schreiben.
In diesem Moment hörte Harry hinter sich jemanden flüstern. Er drehte sich abrupt um, aber bevor er jemanden entdecken konnte wurde er mit einer gewaltigen Wucht gegen die nächste Hauswand geschleudert. Harry schrie vor Schmerz und Schreck auf.
Benommen rappelte er sich wieder auf. Im Schatten der nächsten Häuserecke konnte er nun eine Gestalt erkennen. Langsam ging Harry näher.
Die Gestalt löste sich aus dem Schatten und kam nun ihrerseits auf Harry zu. "Wurmschwanz", sagte Harry erschrocken, als er den Mann erkannte.
Wurmschwanz kam grinsend auf Harry zu. Er hielt seinen Zauberstab in der Hand und richtete ihn drohend auf Harry.
"So sieht man sich also wieder, Potter", sagte er mit seiner fiepsigen Stimme.
"Mein Meister schickt mich, um dich zu ihm zu bringen. Oh, der dunkle Lord wird so stolz auf seinen nichtswürdigen Diener sein."
"Ich werde niemals freiwillig mitkommen", sagte Harry entschlossen.
"Das musst du auch gar nicht", antwortete Pettigrew grinsend.
Er hob seinen Zauberstab und sagte: "Petrificus totalus."
Harrys Arme und Beine klappten abrupt an den Körper. Er wollte etwas sagen, doch auch sein Unterkiefer schien wie versteinert. Harry war völlig reglos. Ärgerlich starrte er Wurmschwanz an.
"Mein Meister wird mich reich belohnen", quietschte Pettigrew selbstgefällig. Er schien mit sich und der Welt in diesem Moment sehr zufrieden zu sein.
"Für was?", ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Wurmschwanz riss erschrocken die Augen auf. Er kannte diese Stimme. Schnell drehte er sich um und blickte in das kalte Gesicht von Severus Snape.
"Für was, glaubst du, sollte Voldemort dich belohnen?", wiederholte er. "Für dein neuerliches Versagen?"
"Snape", quietschte Pettigrew erschrocken.
Ein kaltes Lächeln breitete sich auf Severus' Gesicht aus. Harry beobachtete die beiden Männer aufmerksam.
"Voldemort scheint ziemlich verzweifelt zu sein, wenn er keinen anderen hatte, den er nach Surrey schicken konnte", zischte Severus kalt.
Als Severus den Namen seines Meisters aussprach zuckte Wurmschwanz merklich zusammen. "Du wirst für alles bezahlen, was du ihm angetan hast, Giftmischer", quietschte Pettigrew, nachdem er sich wieder gesammelt hatte. "Mein Meister wird stolz auf mich sein, wenn ich ihm nicht nur seinen größten Feind, sondern auch noch seinen größten Verräter bringe."
Severus lachte laut auf. "Du weißt ganz genau, Pettigrew, dass du mir schon immer unterlegen warst", zischte Severus drohend.
"Du hältst mich nicht auf, Verräter", quietschte Wurmschwanz mit dem Mut der Verzweiflung, "ich werde meinen Meister nicht enttäuschen, koste es was es wolle."
Mit diesen Worten richtete er seinen Zauberstab auf Severus. Doch bevor er einen Fluch aussprechen konnte, hatte Severus bereits seinen eigenen Zauberstab aus dem Umhang gezogen, und ihn ebenfalls auf sein Gegenüber gerichtet.
"Expelliarmus", zischte er, bevor Wurmschwanz reagieren konnte.
Wurmschwanz wurde durch die Wucht des Entwaffnungszaubers einige Meter nach hinten geschleudert. Er hatte Mühe sein Gleichgewicht zu halten. Sein Zauberstab wurde ihm wie von Geisterhand aus den Händen gerissen und flog auf Severus zu.
Dieser streckte seine freie Hand aus und fing Pettigrews Zauberstab auf. Mit einem kurzen Druck seines Daumens auf das dünne Holz brach der Zauberstab mit einem leisen Knack entzwei. Achtlos ließ Severus die beiden Hälften auf den Boden fallen.
"Das wirst du mir büßen", quietschte Wurmschwanz erbost. So schnell er konnte rappelte er sich auf und rannte stolpernd um die nächste Hausecke.
Severus blickte ihm nach, machte aber keine Anstalten ihm zu folgen. Stattdessen ging er zu Harry, der noch immer bewegungsunfähig auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand.
Severus richtete seinen Zauberstab auf den Jungen und murmelte: "Finite incantatem."
Harry seufzte leise, als der Klammerfluch von ihm genommen wurde. Mit weichen Knien sackte er in sich zusammen.
Gemessenen Schrittes überquerte Severus die Straße, baute sich vor Harry auf und blickte kalt auf ihn hinab. Er machte keine Anstalten dem Jungen wieder auf die Füße zu helfen.
Harry hob den Kopf und blickte vorsichtig in Snapes ausdrucksloses Gesicht. Er wusste, dass der Lehrer eine riesige Wut auf ihn haben musste, nach allem, was Harry erst vor wenigen Minuten gesagt hatte.
"Danke, Sir", murmelte Harry leise.
Severus fixierte Harry einen Moment wortlos, dann sagte er emotionslos: "Kommen Sie mit, Potter."
Mit diesen Worten drehte Severus sich um und entfernte sich. Harry saß noch immer reglos auf dem Boden, unfähig, sich zu bewegen und blickte seinem Lehrer unsicher nach.
"Professor", sagte er schließlich noch leiser.
Severus, der mittlerweile schon einige Meter von Harry entfernt war, drehte sich abrupt um und starrte den Jungen eisig an.
"Es tut mir leid, Sir", flüsterte Harry fast unhörbar.
Severus Augen verengten sich einen Moment, dann sagte er noch kälter: "Kommen Sie schon, Potter, oder wollen Sie hier Wurzeln schlagen?"
Er drehte Harry wieder den Rücken zu und ging erneut in Richtung Haus davon. Harry rappelte sich auf und folgte ihm kleinlaut.
Wortlos folgte Harry Severus nach oben. Harry hatte einen riesigen Kloß im Magen. Hätte Severus ihn wenigstens beschimpft oder beleidigt, hätte er gewusst, was in dem Lehrer vor sich ging, aber dieses Schweigen ließ leise Panik in ihm aufsteigen.
Als Harry die düstere Wohnung betreten hatte schloss er leise die Tür hinter sich, dann blickte er sich suchend um.
Severus war bereits wieder in seinem Labor verschwunden, doch die Tür stand offen, sodass Harry sehen konnte, wie er gerade die unzähligen Flaschen von seinem Arbeitstisch in den gegenüberliegenden Schrank räumte.
Einen Moment stand Harry unschlüssig in der Tür. Er war sich nicht sicher, ob es Sinn hatte noch einmal mit Snape zu reden.
"Packen Sie Ihre Sachen, Potter", knurrte Severus in diesem Moment.
Harry zögerte einen Moment, dann fragte er vorsichtig: "Werfen Sie mich nun raus, Sir?"
Severus drehte sich um, starrte Harry mit zusammengekniffenen Augen an und lachte kurz auf.
"Oh, ja, das würde ich wirklich gerne. Aber leider werde ich Sie nach Hogwarts bringen müssen."
Harrys Herz machte einen kleinen Sprung. Endlich würde er nach Hogwarts zurückkehren dürfen. Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Bei diesen Aussichten konnte es ihm auch egal sein, ob Snape ihn nun noch mehr hasste oder nicht.
Er drehte sich blitzartig um, rannte durch die Wohnung und sammelte seine wenigen Habseligkeiten zusammen. Schon nach 5 Minuten hatte er seinen Rucksack gepackt.
Harry setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und wartete auf Professor Snape. Ungeduldig wippte er auf den durchgesessenen Polstern auf und ab. Er konnte es kaum erwarten zu seinen Freunden zurückzukehren.
Nach wenigen Minuten betrat Severus den düsteren Raum. Wortlos ging er zu dem Kamin und entfachte mit einem kurzen Wink seines Zauberstabs ein Feuer.
Dann nahm er das Kästchen mit dem Flohpulver und reichte es Harry.
"Wir werden direkt in das Büro von Professor Dumbledore reisen", erklärte Severus knapp.
Harry nahm eine Prise des Pulvers und warf es ins Feuer. Augenblicklich verfärbten sich die Flammen grün. Harry trat in den Kamin und sagte laut: "Hogwarts, Büro von Professor Dumbledore."


 

 Kapitel 5

 Kapitel 7

 

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