Des Giftmischers Herz

 

 

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Kapitel 12: Liebe, Haß und Schock

 

London, Bahnhof King’s Cross, 01. September 1973…

"Und bitte übernimm dich nicht, du bist noch nicht wieder vollkommen gesund”, ermahnte Jane ihre Tochter, als sie den Hogwarts Express durch die Barriere erreicht hatten. Lily nickte und versuchte ein Lächeln. Ihre Vater kniete sich zu ihr hinunter.
„Schäm dich bitte nicht, wenn du wieder nach Hause möchtest, Liebes. Jeder wird das verstehen. Dir ist etwas Furchtbares passiert und es ist eigentlich noch viel zu früh...“ Peter Evans hielt erstaunt inne, als Lily ihm um den Hals fiel.
Lily umarmte ihren Vater als wäre es das letzte Mal in ihrem Leben. Sie hatte ihn eigentlich nur zum Schweigen bringen wollen, allerdings war ihr nicht eingefallen, was sie hätte sagen können. Sie wollte, daß ihre Eltern endlich nicht mehr an den Vorfall dachten und vor allem, daß sie nicht länger glaubten, sie hätte das ganze nicht verkraftet.
„Ich bin vorsichtig und gehe es langsam an“, sagte sie schließlich mit einer sehr dünnen Stimme und einem zaghaften Lächeln. Ihre Mutter drückte sich ein Taschentuch unter die Nase, scheinbar war sie den Tränen sehr nahe und auch ihr Vater hatte eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn. Lily nickte, um ihre Worte noch einmal zu bekräftigen und stieg dann in den Zug. Ihr Vater hob ihr ihren Koffer hinein und dann war sie im Inneren des scharlachroten Zuges verschwunden.
„Ich mache mir solche Sorgen, Peter!“ Janes Stimme war schon mehr ein Schluchzen. Peter Evans nickte.
„Nicht nur du, meine Liebe“, antwortete er und seine Sorge war in seiner Stimme nicht zu überhören.
Lily fand einen Platz in dem Abteil, in dem sie mit Severus im Juni bei ihrer Heimreise gesessen hatte. Sie hatte das Gefühl, daß sie seine Präsenz in dem kleinen Raum fast noch fühlen konnte. Sie stellte den schweren Wandkoffer in der Ecke des Abteils ab und kauerte sich auf die Sitzbank.
Sie hatte ihn noch immer nicht gesehen. Wenn nun wirklich etwas passiert war.
Wenige Minuten später fuhr der Zug schnaubend aus dem Bahnhofsgebäude heraus. Lily lehnte mit der Schläfe an der kalten Fensterscheibe und starrte abwesend hinaus. Ihr Magen fühlte sich an, als hätte sie gerade einen ganzen Liter Eiswasser geschluckt, der einfach nicht warm werden wollte. Eine große Träne rollte über ihre Wange, blieb an dem Kratzer auf ihrer Wange hängen, tastete sich langsam an den Rändern der Wunde entlang. Lily wollte sie wegwischen, doch ihre Hand blieb vollkommen trocken. Die Träne war über die Wunde nicht hinweg gekommen.
Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte Lily ein solch tiefes Gefühl der Einsamkeit und Hilflosigkeit empfunden. All ihre Hoffnungen, daß es Severus doch gut ging, zerbröckelten langsam aber sicher zu Staub, mit jeder Minute, die verstrich und die Abteiltür nicht aufgeschoben wurde.
Draußen hatte es inzwischen angefangen zur regnen. Große, dicke Tropfen klatschten aus dem tiefgrauen Himmel auf den Zug, auf die Erde und tauchten alles in einen trüben Schleier. Lily legte die Hand auf die Scheibe. Rund um ihre Hand beschlug das Glas ein wenig. Doch sie spürte die Kälte des Glases nicht.
Alles, was Lily fühlte waren Einsamkeit, Hilflosigkeit und Hass. Er peitschte gleichzeitig heiß und kalt in ihren Adern und sie fühlte, wie sie langsam wieder eine grausame Entschlossenheit durchfuhr. Sie wußte in diesem Moment, wenn Barabas Snape seinem Sohn etwas angetan hatte, dann würde er das bereuen. Er sollte nicht glauben, daß er ihr nehmen konnte, was sie am meisten liebte und sie es einfach hinnehmen würde, nur weil sie nur ein Mädchen war, eine Muggelgeborene...
Ihre grünen Augen, in diesem Moment kalt wie Eis, spiegelten sich im Zugfenster, doch Lily sah sie nicht, wollte sie vielleicht auch nicht sehen. Ihre eigenen Gedanken machten ihr fast noch mehr Angst als Barabas Snape. Aber es waren Gedanken, die sie nicht aufhalten konnte, weil ihr Herz sie dachte, nicht ihr Verstand.
Lily war so in ihre Gedanken vertieft, daß sie gar nicht hörte, wie die Abteiltür aufgeschoben wurde. James steckte vorsichtig seinen Kopf herein und für einen kurzen Moment flackerte sein Blick traurig auf, als er Lily so elendig und traurig sah. „Lily, darf ich einen Moment reinkommen?“
Lily wandte sich langsam von der Fensterscheibe ab und starrte James an. Er hatte das Gefühl, daß sie gerade durch ihn hindurchsah. „Klar, setz dich, wenn du möchtest.“
James setzte sich auf die freie Sitzbank und sah Lily einen Moment schweigend an. „Wie geht es dir?“ fragte er schließlich ein wenig zögernd, als wüßte er in diesem Moment nichts besseres zu sagen.
Lily hob leicht die Schultern. „Gut denke ich.“
James nickte und kam sich dabei furchtbar dämlich vor. Warum saß er hier und wollte unbedingt mit ich reden, wenn er doch nichts zu sagen hatte? Warum versuchte er schon wieder, jemand für Lily zu sein, der er nicht sein konnte?
„Sirius und ich haben jemanden gefunden“, sagte er schließlich nach einer halben Ewigkeit. „Und da er ein wenig planlos aussah, haben wir gedacht, wir zeigen ihm mal, wo es langgeht.“ James versuchte ein Lächeln und zwinkerte ihr zu. Es dauerte fast eine halbe Minute bis Lily irgendeine Reaktion auf seine Worte zeigte. Nicht mehr als ein kurzes Nicken. Scheinbar hatte sie gar nicht zugehört.
James stand auf und nickte jemandem draußen auf dem Flur zu.
„Hallo.“ Die Stimme war nicht mehr als ein leises Krächzen, doch als sie sie hörte, war es, als würde ihr ein schwerer Stein in den Magen fallen. Die Stimme räusperte sich.
„Hallo. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mich zu dir setze? Die anderen Abteile sind schon sehr voll.“ Die gleichen Worte, wie damals... Mit weit aufgerissenen Augen drehte Lily ihren Kopf wieder in Richtung Tür und die beiden sahen sich einfach nur an. Schwarz traf auf Grün und Lily sprang auf.
Severus lächelte. Hinter ihm schob Sirius Severus’ Koffer in das Abteil und schloß leise die Tür, um die beiden allein zu lassen.
Lily stand wie festgenagelt vor ihrem Sitz und konnte sich keinen Millimeter rühren. Sie wollte auf Severus zulaufen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie sah Severus an und ihr Magen zog sich ein wenig zusammen.
Er sah furchtbar aus. Anders konnte man es nicht beschreiben. Offensichtlich hatte sein Vater nicht nur darauf verzichtet, seine Wunden magisch zu versorgen, sondern hatte ihm noch ein paar neue zugefügt. Sein immer noch gebrochener Arm war provisorisch geschient - vermutlich hatte er es zum größten Teil selbst gemacht, und sein sonst so ebenmäßig weißes Gesicht war voller blauer Flecken und Kratzer. Seine Unterlippe war irgendwann einmal aufgeplatzt und immer noch ein wenig geschwollen. Lily wandte ihren Blick ab, sie konnte ihn nicht mehr länger ansehen.
Severus ging auf sie zu und zog sie mit seinem gesunden Arm an sich.
„Ist schon gut, Lily. Sei ganz ruhig.“ Lily verkrallte ihre Hände in seinem schwarzen Hemd. Sie wollte ihn nie wieder loslassen. Nie wieder. Als sie seine Wärme spürte, seinen vertrauten Geruch roch, da wußte sie, er war wieder da und ihre ganze Angst fiel mit einem Mal wie ein schwerer Bleimantel von ihr ab. Sie war in diesem Moment von ihren Empfindungen so überwältigt, daß der einzige klare Gedanke, den sie fassen konnte war, daß sie ihn festhalten mußte, bevor man ihn ihr wieder wegnahm.

„Ich fühle mich nicht wohl bei der Sache“, seufzte James, als er und Sirius ihr eigenes Abteil wieder erreichten, wo Remus und Peter schon auf sie warteten.
Sirius schüttelte den Kopf. „Jetzt hör auf, James. Du hast du doch selbst gesehen, daß es richtig war, ihn hinzubringen. - Keiner von uns kann auch nur annähernd das für sie tun, was Severus tun kann, weil sie für ihn ganz anders empfindet, als für uns. Und weil sie die Sache im Tropfenden Kessel gemeinsam erlebt haben.“ James grummelte irgendwas, was Sirius nicht verstand, aber da er weiter nichts sagte, schien er die Sache geschluckt zu haben.
Der Regen klatschte immer heftiger gegen die Scheibe und draußen war es jetzt schon so dunkel und trüb, als wäre es kurz vor Sonnenuntergang. Sirius starrte zum Fenster hinaus und grübelte. Seine Stimmung entsprach diesem Wetter und er war sich nicht wirklich sicher, ob er glücklich damit war, Severus und Lily weiterhin zusammen sein zu lassen. Nicht, weil er nicht wollte, daß sie zusammen waren. Das ging ihn an sich ja nichts an. Aber er fühlte einen Sturm, der sich über ihnen allen zusammen braute und vielleicht wären sie alle besser dran gewesen, wenn Lily und Severus Barabas Snapes Drohung ernst genommen hätten.
Sirius lächelte und schüttelte den Kopf. Was für einen Unsinn er da doch vor sich hindachte. Die zwei liebten sich. Man konnte sie nicht einfach voneinander trennen und schon gar nicht von ihnen verlangen, daß sie es aus Vernunft taten. Sie würden ihren Weg schon noch finden...
Wenn nur dieses Gefühl des nahenden Sturms nicht gewesen wäre.

„Ich wollte mich so gerne bei dir melden, weil ich ja nicht wußte, wie es dir geht, aber es ging nicht. Ich stand unter ständiger Bewachung und Vater hat mich auch nur widerwillig wieder in den Zug nach Hogwarts steigen lassen.“
Lily lag in Severus Arm, so klein wie möglich auf der Sitzbank zusammen gekauert und hatte sein Hemd noch immer nicht wieder losgelassen. Severus streichelte ihr über den Rücken und erzählte von seiner letzten Woche zu Hause.
„Ich weiß noch nicht einmal so genau, was er dir alles angetan hat. Als ich das zweite Mal gegen einen dieser Tische geflogen bin... ich glaube, ich war total weg.“ Lily schwieg. Es tat gut, einfach nur seine Stimme zu hören und sie wollte nichts sagen, wollte einfach nur zuhören.
Überhaupt war Reden in der letzten Zeit wohl mehr eine Qual. Warum konnte man sie nicht einfach schweigen lassen? Die Stille in ihrem Kopf war einfach zu schön... wenn ihre Gedanken aufhörten, um die Wette zu schreien und sie wieder zur Ruhe kam... Ruhe und Frieden.
„Lily?! Hey, Lily, träumst du etwa?“ Lily schreckte aus ihren Gedanken hoch und sah Severus ein wenig verwirrt an. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein, ich hab nur einen Moment nicht zugehört... bitte verzeih.“ Ihre Hände klammerten sich noch ein bißchen fester an ihn, Severus runzelte verwirrt die Stirn.
„Möchtest du mir nicht vielleicht erzählen, wie es dir nach der Sache ergangen ist? Ich meine... ich glaube dir nicht, daß du das so einfach weggesteckt hast, weißt du?“ Lily starrte an ihm vorbei aus dem Fenster. Es dauerte eine scheinbare Ewigkeit, doch dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein, ich möchte darüber nicht reden. - Du darfst mich bitte nicht falsch verstehen, aber ich bin damit noch nicht fertig und vorher kann ich nicht darüber reden.“ Severus drückte ihr einen Kuß auf den Kopf und zum ersten Mal seit Tagen hatte Lily nicht das Bedürfnis, sofort loszurennen, wenn sie jemand berührte. Obwohl sie mit eigenen Augen gesehen hatte, daß auch Severus gegen seinen Vater nicht den Hauch einer Chance hatte, fühlte sie sich doch jetzt hier bei ihm so sicher, wie sonst nirgendwo.
„Wenn er dir noch einmal zu nahe kommt, wird er das bereuen.“ Severus’ Stimme hatte eine ungewöhnliche Kälte angenommen und jagte Lily einen Schauer über den Rücken.
„Red keinen Unsinn. Er ist dein Vater.“
Severus’ Griff wurde ein wenig fester. „Das ist doch vollkommen egal. Er ist vielleicht mein Vater, aber du...“, er schien sich nicht sicher zu sein, ob er es wirklich sagen sollte. Einen Moment sahen sie sich einfach nur in die Augen, dann lächelte Severus, „...ja, du bist mein Leben, Lily. Verstehst du denn nicht? Ohne meinen Vater leben, das ist eine der einfachsten Aufgaben, die du mir stellen könntest. Ich hasse ihn so sehr, ich glaube, ich könnte ihn sogar eigenhändig töten!“ Lily zuckte zusammen.
„Aber ohne dich leben... das könnte ich nie. Der Tag, an dem ich erfahre, daß ich endgültig und unwiderruflich ohne dich leben muß, wird der Tag sein, an dem ich sterbe.“ Lily strich sanft über sein zerschundenes Gesicht und Severus wurde bei ihrem Anblick das Herz schwer. So traurig hatte seine Lily noch nie ausgesehen. Sie war immer so voller Optimismus und Fröhlichkeit gewesen, egal was auch passiert war, aber jetzt... Und wenn es sein eigener Zauberstab war, der das Leben seines Vaters beendete, wenn er noch ein einziges Mal Hand an Lily legte, würde er nicht zögern, den unverzeihlichsten und schrecklichsten aller Flüche gegen ihn auszusprechen.
Schließlich war es doch das, was er immer gewollt hatte, die Früchte seiner Arbeit mit Severus eines Tages ernten können. Dieser Gedanke und sein Haß gegen seinen Vater breiteten sich grausam und kalt in ihm aus, aber Severus brauchte diese Kälte zum ersten Mal seit langem wieder, um klar denken zu können.
Vielleicht waren diese Gedanken in den Augen der meisten falsch, aber er wußte, eines Tages würde es zu diesem Showdown zwischen ihm und seinem Vater kommen. Wie dieser nun endete, darauf wollte er sich nicht festlegen, aber daß es ihn geben würde, das stand schon so fest wie der Untergang dieser ganzen verdammten Welt - auch wenn der wohl noch viel weiter in der Zukunft lag, ging es Severus durch den Kopf und er grinste.

Noch nie war ihre Fahrt nach Hogwarts so traurig gewesen, wie dieses Mal. Severus und Lily hatten die meiste Zeit der Fahrt nicht gesprochen, so wie Lily es wollte und er hatte sie gewähren lassen. Sie wollte sich scheinbar im Moment nur an ihm festhalten und stützen und wenn das ihr Wunsch war, dann sollte sie es tun. Auch dafür war er da.
Hagrid, der wie immer auf die neuen Erstkläßler wartete, um sie mit den Booten über den See nach Hogwarts zu bringen, sah die beiden sofort, als sie aus dem Zug ausstiegen. Severus hob zur Begrüßung kurz die Hand und Hagrid erwiderte den Gruß. Doch Lily schien ihren Freund gar nicht zu sehen. Unter all seinem Haar, das sich rund um sein ganzes Gesicht verteilte, zog Hagrid besorgt die Stirn zusammen. Diese Sorgenfalten vertieften sich noch, als die beiden näher kamen und er Severus genauer sah.
'Also sind die Geschichten wahr!', ging es ihm durch den Kopf. 'Der Junge verletzt, Lily sieht aus, als stünde sie unter Schock...' Zum Glück war sein Gesicht durch das Haar so verdeckt, daß die Erstkläßler den wütenden Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen konnten, sonst wären sie sicherlich freiwillig keinen weiteren Schritt mehr auf Hagrid zugegangen. Er ballte die Hände an den Seiten zur Faust und holte tief Luft. Dann versuchte er, seine Wut so gut wie möglich runter zu schlucken und wieder ein Lächeln aufzusetzen.
„Erstkläßler zu mir! Laßt euer Gepäck hier, es wird für euch ins Schloß gebracht! Nicht so schüchtern!“ Noch immer etwas besorgt sah er Severus und Lily zu, wie sie in eine der Kutschen stiegen, die sich in Richtung Schloß in Bewegung setzten.

Auf dem Weg zur Großen Halle fing Professor McGonagall Lily und Severus ab. Mit nicht gerade wenig Entsetzen betrachtete sie Severus und seine zahlreichen Wunden, die alle noch mehr oder weniger unversorgt waren.
„Mr. Snape, Sie gehen sofort in den Krankenflügel. Madam Pomfrey soll Sie mal etwas genauer unter die Lupe nehmen.“ Ihr Blick glitt hinüber zu Lily und obwohl diese bis auf den Kratzer auf der Wange unverletzt schien, überschattete sofort große Sorge das alternde Gesicht der sonst so streng und unnahbar wirkenden Lehrerin für Verwandlungen.
„Und Miss Evans nehmen Sie am besten gleich mit. Es scheint mir, daß Sie beide ein Bett und Pflege brauchen, statt eine Feier und eine Halle voll starrender Schüler.“ Lily machte nicht den Eindruck, als ob sie wirklich mitbekam, was Professor McGonagall sagte, doch Severus nickte.
„Danke Professor, ich glaube, da haben sie vollkommen recht“, erwiderte er und schenkte der Hauslehrerin von Gryffindor ein kurzes Lächeln, bevor er Lily in Richtung Treppe bugsierte, um sie in den Krankenflügel zu bringen.

Madam Pomfrey schnalzte mißbilligend mit der Zunge, als sie mit Lilys Untersuchung fertig war. Lily sah noch immer recht apathisch aus und reagierte nur selten darauf, wenn man sie ansprach.
„Das gefällt mir überhaupt nicht, Miss Evans“, murmelte Madam Pomfrey und half Lily dabei, sich umzuziehen. Als sie ihr Nachthemd anhatte, gab sie ihr eine kleine blau-violett schimmernde Pille und ein Glas Wasser.
„Nehmen Sie das. Das wird Ihnen sicherlich helfen.“ Wie mechanisch nahm Lily die Pille in den Mund und schluckte sie mit dem gesamten Inhalt des Glases hinunter. Sanft drückte Madam Pomfrey sie zurück in ihr Kissen und deckte sie zu.
„Schlafen Sie, meine Kleine. Dann sieht die Welt morgen schon wieder ganz anders aus.“ Ein Anflug eines Lächelns zog über Lilys Gesicht. Das hatte ihre Großmutter auch immer zu ihr gesagt, wenn sie traurig gewesen war oder sich beim Spielen weh getan hatte und dann abends nicht einschlafen wollte.
Severus saß auf der anderen Seite des Vorhangs, hinter dem Lilys Bett stand, auf einem zweiten Krankenbett und sah auf seine Schuhspitzen. Seinen Umhang hatte er schon abgelegt, aber für alles andere wartete er lieber, bis Madam Pomfrey mit Lily fertig war. Sie konnte das garantiert schmerzfreier als er und das würde nach den letzten Tagen eine echte Erholung sein.
„Wie geht es ihr?“ fragte er leise, als Madam Pomfrey hinter dem Vorhang hervor kam und ihn dann komplett zuzog. Sie sah sehr besorgt aus, als sie sich ihrem zweiten Patienten zuwandte. Am ersten Schultag hatte sie bisher noch nie so viel zu tun gehabt, jedenfalls konnte sie sich an solch einen Tag nicht erinnern.
„Sie steht unter Schock, dagegen hilft nicht mal meine Zauberei“, antwortete sie wenig glücklich. Sie schien geknickt darüber, daß sie so wenig Macht über Lilys Krankheit hatte. „Ich hab ihr ein starkes Schlafmittel gegeben. So wie sie aussieht, hat sie seit Tagen nicht mehr vernünftig geschlafen.“ Severus biß sich auf die Lippen. Natürlich hatte sie das nicht. Wie hatte er auch nur einen Moment glauben können, daß so etwas möglich gewesen wäre...
„Sie sehen aber auch nicht besser aus, Mr. Snape“, fuhr sie mit einer tadelnden Stimme fort. „Wieso ist dieser Arm nicht verarztet worden?!“
Severus senkte den Blick. „Weil der Schmerz eine Strafe sein sollte“, antwortete er leise. „Etwas, daß ich nie vergessen sollte.“ Madam Pomfrey schnaubte verächtlich.
„Na wunderbar. So wie dieser Arm aussieht...mein lieber Junge, es hilft nichts, dieser Knochen ist nicht mehr zu gebrauchen.“ Severus schluckte. Nicht daß es ihn überraschte, aber trotzdem, er hatte sich eigentlich gewünscht, niemals die Bekanntschaft von Skele-Wachs machen zu müssen. Aber andererseits, sein Arm schmerzte jetzt schon den siebten Tag wie die Hölle, eine Nacht würde er es auch noch aushalten.
Madam Pomfrey griff nach dem Zauberstab in ihrer Tasche, tippte auf Severus’ gebrochenen Arm und flüsterte etwas. Sofort hörte der Schmerz auf und wenn Severus nicht genau gewußt hätte, daß sie den Knochen weggezaubert und nicht geheilt hatte, wäre er wohl erleichtert gewesen. Während Severus seinen Arm betrachtete, der jetzt wie ein Gummischlauch an seiner Schulter hing, ging Madam Pomfrey hinüber zu ihrem großen Arzneischrank und kam mit einem Becher und einer großen Flasche, die wie ein Skelett aussah, wieder zu ihm zurück. Sie goß etwas von der Flüssigkeit aus der Flasche in den Becher und gab ihn Severus.
Skele-Wachs. Einen Moment starrte Severus den dampfenden Becher angewidert an. Er wußte zwar nicht genau, wie es schmeckte, aber er wußte doch ziemlich genau, was drin war, darum konnte er es sich lebhaft vorstellen. Dann holte er schließlich tief Luft und schluckte alles auf einmal in einem großen Schluck hinunter.
„Uäh, noch widerlicher, als ich erst gedacht habe!“ fluchte er leise und schüttelte sich. Der Skele-Wachs breitete sich heiß und unangenehm in seinem Inneren aus.
„Kompliment, Mr. Snape, Sie sind einer der Wenigen, die den Skele-Wachs nicht sofort wieder ausgespuckt haben.“ Sie half ihm dabei, sein Hemd und die restlichen Kleider auszuziehen und seinen Pyjama anzuziehen. Das war zwar jetzt nicht mehr schmerzhaft, aber auch nicht weniger kompliziert, weil sein Arm sich wirklich wie ein Gummiband verhielt.
„Wenn Sie ein Schlafmittel haben möchten, dann rufen sie mich. Der Schmerz wird heute Nacht sicherlich sehr stark werden.“ Severus schüttelte den Kopf.
„Danke Madam Pomfrey, aber ich brauche keins. Außerdem wirkt der Skele-Wachs wesentlich besser, wenn man keine zusätzlichen Mittel einnimmt.“
Madam Pomfrey lächelte anerkennend und nickte. „Stimmt haargenau. Was man über Ihr Wissen über Zaubertränke sagt, stimmt also. - So, jetzt schlafen Sie besser schnell ein und wenn noch etwas ist, ich bin in meinem Büro.“ Sie deckte auch ihn zu und ging dann zu ihrem Büro am Ende des Raumes. Das Licht im Krankensaal ging aus und auch das Licht aus Madam Pomfreys Büro erlosch fast vollkommen, als sie die Tür anlehnte. Severus schob seinen gesunden Arm unter seinen Kopf und starrte an die hohe Decke über ihm.
Lily war im Nebenbett schon eingeschlafen. Das Mittel, das Madam Pomfrey ihr gegeben hatte, mußte sehr stark gewesen sein. Er hörte ihre tiefen, ruhigen Atemzüge und er hoffte inständig, daß sie nichts träumte. Das beste für sie war jetzt ein tiefer, traumloser Schlaf, in dem sie sich wieder erholen konnte. Lily war am Ende und schuld daran war nur sein Vater. Niemals hätte Severus es für möglich gehalten, daß er sie jemals so sehen würde, aber er hatte es ja auch nie für möglich gehalten, daß sie und sein Vater so aneinander geraten würden.
Wieder spürte er den kalten Haß in sich hochsteigen und zwei fürchterliche Worte hallten in seinen Gedanken wider. Seine Lippen formten diese Worte nach und hätte er in diesem Moment einen Zauberstab in der Hand gehalten, der Saal wäre mit einem Schlag grell grün erleuchtet gewesen, sogar ohne Vater, auf den der Stab gerichtet war.

Severus war zu sehr in seine Gedanken versunken, als daß er hätte schlafen können. Und als er doch endlich etwas Müdigkeit fühlte, hielt der Schmerz seiner nachwachsenden Knochen ihn weiter wach. Es half nichts, diese eine Nacht noch würde er kein Auge zutun. Aber es gab Schlimmeres, es war schließlich nicht die erste Nacht.
Noch immer hörte er von Lilys Seite des Vorhanges nichts weiter als ruhige, tiefe Atemzüge. Er schob seinen gesunden Arm hinter seinen Kopf und wandte das Gesicht zum Fenster. Der Mond stand schon fast wieder voll und rund am Himmel, wenige Tage nur noch... Das kalte silberne Licht des Erdtrabanten schien ihm ins Gesicht, das so weiß wirkte wie nie zuvor. Seine Miene verriet nicht einen seiner Gedanken, aber unter seiner ruhigen Oberfläche tobte noch immer ein Sturm. Seine rasenden Gefühle waren kaum unter Kontrolle zu bringen, selbst wenn man ein Meister der Selbstbeherrschung war, so wie er.
Dieses Mädchen dort hinter dem Vorhang war sein Leben. Einmal mehr hatte er das verstanden, als er sie in der Gefahr hatte schweben sehen, die sein Vater für sie darstellte. Wären nicht noch so viele andere Zauberer im Tropfenden Kessel gewesen...Severus hätte schwören können, daß Lily dann nun nicht mehr bei ihm wäre.
Ein kurzer Anflug von erneuter Angst huschte über sein Gesicht, war aber genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Er mußte an seine Worte zurückdenken, dieser schicksalhafte Satz, den er zu Lily im Hogwarts-Express gesagt hatte. Es war die innerste Essenz seines Herzens gewesen, seine einzige Möglichkeit, seine wahren Gefühle für sie auszudrücken.
Er drehte sein Gesicht von Fenster weg und starrte den weißen Vorhang an, der Lilys Bett rund herum abschirmte. Was würde er dafür geben, sie jetzt einfach nur ansehen zu können, wenn sie friedlich schlief und nichts mehr auf den Terror der letzten Woche hindeutete. Sie WAR sein Leben. Egal, was manche Leute immer noch über ihn dachten und immer über ihn denken würden, egal wie jung er noch war, es gab nichts auf dieser Welt, das für ihn mehr bedeutete als Lily. Und darum würde der Tag, an dem sie für immer aus seinem Leben trat, sein Tod sein. Sicherlich nicht körperlich, aber er würde seelisch daran zugrunde gehen. Oft genug schon hatte er sich das Szenario ausgemalt. Oft genug schon hatte er im Kopf durchgespielt, wie sie eines Tages zu ihm kommen und sagen würde, daß sie ihn niemals wiedersehen wollte, daß alles nur ... ja, so etwas wie ein Witz gewesen war oder ein Fehler. Oder daß er eines Tages aufwachen würde und er die Nachricht erhalten würde, Lily sei nicht mehr am Leben.
Severus schüttelte heftig den Kopf und ein heißer Schmerz, ausgehend von seinem Arm, durchfuhr seinen ganzen Körper. Er fluchte leise. Diese düsteren Gedanken brachten nichts als Unglück. Nichts dergleichen würde passieren, gar nichts!
Lily würde sich wieder erholen und es würde nie wieder einen solchen Vorfall geben, dafür wüßte er schon zu sorgen, da war Severus sich sicher. Lily würde glücklich mit ihm werden, koste es, was es wolle.
„Oh Gott, nein!!!“
Severus fuhr zusammen und sprang aus dem Bett, seine Schmerzen vergessend.
„Lily!“ rief er und riß den Vorhang zur Seite. Lily saß aufrecht im Bett und atmete schwer. Sie hatte kalten Schweiß auf der Stirn und Severus erkannte deutlich, daß es nicht das Mondlicht war, daß sie totenbleich erscheinen ließ. Er streckte seine gesunde Hand aus, doch Lily starrte ihn entsetzt an und wich zurück. Er biß sich auf die Lippen und zwang sich, seine Hand zurück zu ziehen.
„Lily“, sagte er sanft und zog sich einen Stuhl an ihr Bett. Vorsichtig setzte er sich und ließ sie dabei nie aus den Augen. Sie wirkte gehetzt und total verängstigt.
„Lily, sei ganz ruhig.“
Sie atmete so schnell, daß er Angst hatte, sie würde im nächsten Moment anfangen zu hyperventilieren. Warum nur hörte Madam Pomfrey nicht, daß sie aufgewacht war?
„Ich bin bei dir, Lily, es ist alles gut. Dir kann nichts passieren, hörst du?“ Lily blickte sich erschrocken um, sah aber nichts weiter als weißen Stoff rund um ihr Bett und Severus, der sie besorgt aus großen schwarzen Augen ansah. Ihr Atem beruhigte sich langsam, aber in ihren Augen stand noch immer die schiere Angst.
„Wo bin ich, Severus?“ Ihre Stimme war nur noch ein gepreßtes, zitterndes Flüstern. Wieder machte er einen Schritt auf sie zu und streckte seinen Arm nach ihr aus. Diesmal wich sie nicht zurück und er zog sie an sich.
„Du bist im Krankenzimmer in Hogwarts, mein Schatz.“ Er drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und wiegte sie sachte hin und her. Lily fühlte, wie langsam wieder ein wenig Sicherheit in sie zurück kehrte. Hogwarts, das war gut. In Hogwarts war Severus sicher, hier konnte ihm nichts passieren. Sie starrte auf seinen linken Arm, der immer noch schlapp an seiner Seite hinunter hing.
„Wie geht es deinem Arm?“ fragte sie und wollte ihn berühren, doch Severus griff sanft nach ihrer Hand und schüttelte den Kopf.
„Den solltest du jetzt besser nicht anfassen. Die Knochen haben angefangen, falsch zusammen zu wachsen, weil der Bruch nicht behandelt worden ist. Und da hat Madam Pomfrey sie einfach weggezaubert. Jetzt wachsen die Knochen nach. Glaub mir, das fühlt sich für dich garantiert genauso unschön an, wie für mich.“
„Du hast Schmerzen?“ Lily sah ihm in die Augen und sah das leichte Flackern darin. Es war nur sehr schwach, aber es war da. Er zögerte, doch dann nickte er.
„Ja, es tut höllisch weh, aber das ist normal.“ Er legte ihr die Hand auf den Hinterkopf und drückte seine Stirn an ihre. „Aber das ist nicht schlimm. Morgen ist das vorbei und es geht mir wieder gut. - Um dich mache ich mir Sorgen. Willst du mir nicht sagen, was du geträumt hast?“ So lange und so tief hatten sich die beiden noch nie in die Augen gesehen wie in diesem Moment. Stirn an Stirn ertrank Severus fast in dem unendlichen Grün ihrer Augen und auch Lily hätte sich wohl noch eine ganze Weile in den schwarzen Tiefen ihr gegenüber aufhalten können, hätte er die Sprache nicht auf ihren Traum gelenkt. Sie schlug die Augen nieder.
„Ich habe von der Angst geträumt“, sagte sie sehr leise. Severus streichelte ihr über das lange rote Haar, das ein wenig wirr war von den Stunden, die sie geschlafen hatte.
„Er wird dir nichts tun, Lily. Hier kann er dir nichts tun und ich werde es darüber hinaus nie wieder zulassen.“ Lily schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie befreite ihren Kopf aus seinem Griff und schlug die Decke weg. Erst wollte Severus sie aufhalten, aber warum sollte sie eigentlich nicht aufstehen? Er war derjenige, der jetzt hätte liegen müssen, weil ihm ein paar Knochen nachwuchsen.
Lily ging barfuß hinüber zum Fenster und starrte hinaus auf die dunklen Ländereien von Hogwarts. Sie umschlag ihren Oberkörper mit ihren Armen. Sie stand eine ganze Weile so da und sagte gar nichts. Bewegte sich nicht einmal einen Millimeter. Doch dann hob sie plötzlich leicht die Schultern. „Es ist mir egal, ob dein Vater mir etwas tun kann oder nicht. Das ist unwichtig.“
Severus stand ebenfalls auf und ging langsam zu ihr hinüber. Er hatte sie schon fast erreicht, als sie weitersprach. „Meine Angst betrifft dich.“
Severus hielt in seinem Schritt überrascht inne.
„Mir hat er relativ wenig getan, aber dich hätte er umbringen können.“ Sie ließ den Kopf hängen und er wußte, daß sie den Tränen sehr nahe war.
„Und ich glaube, daß er auch nicht wirklich darauf geachtet hat, daß er dich nicht umbringt. - Ich, mein Leben, das ist mir doch vollkommen egal, ich würde es jederzeit aufgeben, wenn ich dich dadurch retten könnte.“ Severus’ Augen weiteten sich. Zum ersten Mal konnte man auf seinem Gesicht ein wahres Wechselspiel von Emotionen sehen.
„Aber ich kann es nicht. Ich bin zu klein und zu schwach und ich hab Angst, daß ich dich eines Tages wirklich durch ihn verliere und vielleicht zusehen muß, genauso hilflos wie vergangene Woche.“ Eine kleine silbrig glänzende Träne rann über Severus’ Wange und er rannte die letzten Schritte zu ihr, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und drückte sie an sich, so fest er konnte. Lily ließ einen überraschten Ausruf hören, rührte sich aber nicht.
„Mir ist noch nie in meinem ganzen Leben ein solch wundervoller Mensch begegnet, wie du, Lily.“ Seine Stimme vibrierte angenehm auf ihrem Rücken. „Du bist nicht klein und schwach! Du kannst so viel und wirst viel mehr erreichen als die meisten Hexen und Zauberer auf dieser ganzen verdammten Welt. Du kannst es vielleicht nicht mit meinem Vater aufnehmen, was seine Stärke angeht, aber er hat gegen dich doch gar keine Chance.
Es ist dein wundervolles Herz, daß dich viel stärker macht als ihn!“ Er sog den Duft ihrer Haare ein und fühlte sich in diesem Moment zu Hause. Ein Gefühl, daß er bisher so gut wie noch nie gefühlt hatte.
„Du wirst mich niemals durch meinen Vater verlieren und er wird nie wieder gegen dich oder mich die Hand erheben. Ich werde schneller sein als er, das verspreche ich. Niemand wird uns jemals trennen können, egal was sie alle über unser Alter und die Unterschiede zwischen uns sagen, wir beide gehören zusammen und wir wissen das. Wenn man uns trennt, können wir niemals glücklich werden.“ Seine Worte drangen in einer fast verzweifelten Flutwelle hervor. Ein Schwur und ein Flehen zugleich und Lily erkannte, auch Severus hatte Angst, sie zu verlieren.
„Lily, ich habe das, was ich heute im Zug zu dir gesagt habe, sehr ernst gemeint. Ich werde darum kämpfen, dich niemals zu verlieren. Ich ...“, er hielt inne und schien einen Moment nach den rechten Worten zu suchen, „ich würde absolut alles dafür tun, sogar meinen Vater ... töten.“ Er spürte, wie Lily in seinem Arm zusammenzuckte, doch er verstärkte seinen Griff, als könne er so seine Entschlossenheit und Zuversicht in sie übergehen lassen. Früher oder später hätte sie erkannt, daß er bereit war, zum Äußersten zu gehen, warum sollte er also die Karten nicht gleich offen auf den Tisch legen?
„Machen dir deine Gefühle zu mir auch manchmal Angst?“ fragte Lily, nachdem sie minutenlang geschwiegen hatte. Severus schmiegte seinen Kopf noch fester an ihren Rücken, ihr Haar kitzelte ihn ein wenig in der Nase.
„Meine Gefühle machen mir alle Angst, weil sie mir so unbekannt sind“, antwortete er schlicht. Lily legte ihre Hand auf seine, die auf ihrem Schlüsselbein ruhte und streichelte sanft seine langen, dünnen Finger. Zerbrechlich, aber kräftig, dachte sie mit einem Lächeln.
„Mir machen sie mehr Angst als alles andere. Ich habe immer gedacht, jemanden zu lieben, wie ich dich liebe, wäre schön, euphorisch, aber jetzt merke ich immer mehr, daß es auch dunkle Schatten gibt, die Angst machen.“ Lily konnte Severus’ Gesicht nicht sehen, aber in diesem Moment weiteten sich seine Augen und er hielt einen Moment die Luft an. Ihre Worte gefielen ihm nicht, sie klangen so negativ, so unheilverkündend.
Lily lächelte.
„Was ist, wenn wir dazu bestimmt sind, das zweittragischste Liebespaar der Geschichte zu werden?“
„Wer war das tragischste?“ fragte er, obwohl er gar nicht wußte, warum ihn das interessierte. Er wollte weder das tragischste, noch das zweittragischste werden. Lily lachte leise.
„Ein Paar aus einem Muggelbuch. Sie waren so wie wir, kamen aus verfeindeten Familien, aber liebten sich abgöttisch. - Sie sind für ihre Liebe gestorben.“ Sie streckte die Hand aus und berührte das kühle Glas des deckenhohen Fensters. Am Horizont ging schon langsam die Sonne auf, er war bereits hellblau verfärbt.
„Nur düstern Frieden bringt uns dieser Morgen;
Die Sonne scheint, verhüllt vor Weh, zu weilen.
Kommt, offenbart mir ferner, was verborgen:
Ich will dann strafen oder Gnad erteilen;
Denn niemals gab es ein so herbes Los
Als Juliens und ihres Romeos.
...

Ich werde dir das Buch mal leihen.“ Severus’ Herz schlug bis zum Hals und er hielt seine Lily mit einer Verzweiflung fest, als erwartete er, daß man sie im nächsten Moment von ihm fortriß. Diese Traurigkeit in ihr, in ihrer Stimme, in ihren Gedanken, sie war grausam und er wollte nichts lieber, als sie zu vertreiben. Er wollte nicht, daß Lily solch trübsinnigen Gedanken nachhing. Sie sollte wieder fröhlich sein und lachen und sich über ihre Liebe freuen können.
Er wünschte seinen Vater zum Teufel, und wäre ihm nur ein passender Fluch eingefallen, sein Vater hätte die Reise wirklich angetreten.
Lily löste sich aus seinem Griff und sah ihn an.
„Mach dir keine Sorgen, es geht mir wieder gut. Hier in Hogwarts wird immer alles wieder gut.“ Er glaubte ihr nicht. Und er wußte nicht, warum sie glaubte, ihm etwas vormachen zu müssen. Es ging ihr noch ebenso schlecht wie zuvor und das würde sich auch so bald nicht ändern, da war er sich sicher. Sie hatte Angst vor Verlust und Severus wußte nur zu gut, wie sich diese Angst festsetzen und verbeißen konnte.
Aber Angst paßte nicht zu Lily. Sie sollte sich nicht aus Angst ständig Sorgen machen...
Er nickte traurig.
„Sicher, in Hogwarts wendet sich immer alles wieder zum Guten.“ Er klang für sie ebenso wenig überzeugend wie sie für ihn und das wußte Lily.
„Leg dich wieder hin. Es ist bestimmt nicht gut für deinen Arm, wenn du ihn so viel bewegst.“ Lily bugsierte ihn zu seinem Bett und blieb auf einem Stuhl neben ihm sitzen. Eigentlich wollte sie warten, bis er eingeschlafen war, doch es dauerte nicht lang, bis sie mit dem Kopf auf ihren Armen friedlich schlief.
Severus streichelte ihr gedankenverloren über den Kopf. Sie durfte sich nicht von ihm abwenden, bitte nicht!

 

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