Jenseits von Hogwarts

 

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Kapitel 19

Sommerferien


Am Morgen seines sechzehnten Tages am Grimmauldplatz 12 saß Draco an dem alten, verschnörkelten Schreibpult und las ein in altersfleckiges grünes Leder gebundenes Werk über ‚Muggelsagen und ihre magischen Hintergründe'. Das Buch stammte aus der Bibliothek der Blacks und befasste sich dementsprechend vor allem mit schwarzmagischen Phänomenen. Die Tür zu Dannys Raum stand offen und er hörte den jungen Heiler vergnügt summen und räumen. Draco vertiefte sich gerade in die Sage von einem grässlichen, kinderverschlingenden Monster, das vor dreihundert Jahren in den Wäldern Nordschwedens gehaust haben sollte, da klopfte es und er hörte, wie die Tür sich leise knarrend öffnete. Draco ließ das Buch sinken und drehte sich langsam um.
Ein etwas nervös wirkender Harry stand im Zimmer. "Hi, Draco."
"Hi."
Draco sah ihn fragend an. Inzwischen hatte er sich fast schon an Harry gewöhnt. Danny konnte nicht jede Nacht durchwachen und auch sonst brauchte der Heiler manchmal Hilfe. Anfangs war Draco Harrys Gegenwart oft unangenehm gewesen, obwohl er ihm wirklich von ganzem Herzen dankbar dafür war, dass er ihn aus dem Ministerium rausgeholt hatte. Aber eine sechsjährige Feindschaft ließ sich nicht von heute auf morgen begraben... Dennoch näherten sie sich langsam einander an und Draco empfand fast schon Sympathie für Harry, auch, wenn er sich das lieber nicht eingestand. Nun, irgendwie mussten sie miteinander auskommen, schließlich verbrachten sie viel Zeit miteinander. Tagsüber spielten Draco, Danny und Harry Karten, oder führten lange Gespräche, die mitunter auch in heftigen Streitereien endeten, besonders, was Harry und Draco betraf. Doch Draco wollte unter keinen Umständen auch nur eine Minute alleine bleiben, vor allem, seitdem sich Tonks und Lupin im Haus aufhielten. Eine Woche nach Dracos Einzug am Grimmauldplatz hatten endlich alle anderen Mitglieder des Phönixordens das Haus verlassen, und seitdem fühlte er sich schon deutlich besser. Aber er war immer noch sehr nervös und so ängstlich, dass diese seine Schwäche ihn regelmäßig zur Weißglut trieb. Auch jetzt war seine erste Reaktion auf Harrys Erscheinen schlicht Angst. Er hoffte nur, dass das Ministerium nichts von ihm wollte.
"Ich dachte... Nein, wir dachten, du hättest vielleicht gern mal'n bisschen Abwechslung...", sagte Harry nervös.
"Abwechslung?", fragte er unbehaglich. Was kam da jetzt schon wieder auf ihn zu?
"Na, ja", meinte Harry unsicher, "vielleicht möchtest du mal jemand andern sehen als immer bloß Danny und mich?"
"Wen denn?" Seine Gedanken rasten. Wollte Lupin wieder mit ihm sprechen? Oder McGonagall? Wollte das Zaubereiministerium ihn vielleicht verhören?
"Hm, Hermine und Ron dachten..."
" Granger und Weasley ?!" Er musste sich verhört haben.
"Genau die, ja. Sie dachten, sie könnten dich vielleicht mal besuchen - aber wenn du nicht willst..." Harry klang enttäuscht.
Hastig überlegte Draco. Granger und Weasley? Was konnten die von ihm wollen? Sie hatten ihn vor einer Woche mit Harry und Danny bis zum Grimmauldplatz begleitet und damit musste ihr Vorrat an Freundlickeit ihm gegenüber auch reichlich aufgebraucht sein. "Wieso?"
"Wieso was?", fragte Harry irritiert.
"Wieso wollen sie mich besuchen?!" Schließlich gab es dafür keinen vernünftigen Grund, oder?
Harry schwieg einen Augenblick und schien zu überlegen."Nun, ich denke, es tut ihnen irgendwie ein bisschen leid, was in den letzten Jahren in Hogwarts so alles zwischen uns vieren passiert ist und..."
"Es war nicht ihre Schuld", hörte sich Draco zu seiner eigenen Verblüffung sagen. "Sie haben sich nur gewehrt. Meistens jedenfalls."
Harry sah ihn überrascht an. Doch bevor er etwas erwidern konnte, klopfte es energisch. Draco atmete einmal tief durch. Wenn es denn sein musste... "Herein!"
Die Tür ging auf und ins Zimmer trat Hermine, den sich sträubenden Ron im Schlepptau.
‚Sie ist fast hübsch geworden', dachte Draco, als er sie in ihrem blauen, ärmellosen Sommerkleid, die wilden braunen Locken über die schmalen Schultern wallend, so plötzlich vor sich stehen sah. Eine leichte Röte war ihr in die Wangen gestiegen, aber kein Vergleich zu Weasley, dessen Gesicht glühte wie eine Verkehrsampel.
"Hallo, Draco", lächelte Hermine nervös.
"Hi." Und seit ihre Schneidezähne kleiner waren als früher...
"Hi, Malfoy", brummte Ron missmutig.
"Hi, Weasley." Unwillkürlich bemühte sich Draco um einen freundlichen Tonfall, der Ron verblüfft blinzeln ließ.
Eine ungewisse Pause entstand.
"Ja, setzt euch doch", deutete Draco schließlich einladend auf sein Bett. "Wir haben hier leider nicht genug Stühle."
Zögernd ließen die beiden sich auf das Bett sinken, Draco blieb am Schreibtisch sitzen und Harry zog sich den einzigen Sessel heran. Es wurde ein langes und schwieriges Gespräch, immer wieder unterbrochen von unbehaglichen Pausen. Doch am Ende hatten sie alle das Gefühl, sich ein kleines Stück näher gekommen zu sein. Schweigend und nachdenklich saßen sie zusammen. Draco knetete nervös seine Finger, Harry hatte ein unsicheres Grinsen aufgesetzt und Ron starrte abwesend aus dem Fenster, als Hermine ihrem Freund plötzlich einen leichten Rippenstoß versetzte. "Aua! Was soll'n das?", brummte er ärgerlich.
"Ron und ich müssen mal kurz was besprechen", verkündete Hermine und zog ihn energisch in die Höhe.
"Ähm, ach ja?" Ron klang ziemlich verblüfft. "Was denn?"
"Nun komm schon!" Hermines Ton duldete eindeutig keinerlei Widerspruch.
Draco sah Harry mit erhobenen Augenbrauen an. Harry lächelte schief und zuckte die Achseln. Hermine zerrte Ron aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
‚Was wird das jetzt?', fragte Draco sich leicht beunruhigt. Auf der anderen Seite der Tür fand offensichtlich ein erregtes Gespräch statt, das aber so leise geführt wurde, dass er nur einzelne Worte verstehen konnte. Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür erneut und Hermine und Ron traten zurück ins Zimmer. Auf Hermines Gesicht lag ein triumphierendes Lächeln, während Ron ein bisschen unglücklich wirkte. Er druckste ein Weilchen herum, das Gesicht rot überhaucht und die Unterlippe schmollend vorgeschoben. "Weißt du was, Mann", sagte er schließlich mit einem unsicheren Grinsen zu Draco, "übermorgen heiraten mein Bruder Bill und Fleur Delacour. Ähm..." Hermine sah ihn strirnrunzelnd an. "Ähm, tja", fuhr Ron hastig fort, "was ich sagen wollte: Bestimmt hätte keiner, tja, keiner was dagegen, wenn du auch zur Hochzeit kommen würdest."

***


Draco hatte lange gezögert, ob er tatsächlich auf der Hochzeit Bill Weasleys aufkreuzen sollte. Schließlich war es auch seine Schuld, dass Fleur einen Werwolf heiraten musste... Und all die hässlichen Sachen, die er und auch sein Vater immer über die Weasleys verbreitet hatten - konnten sie ihm das wirklich verzeihen? Vor vier Jahren wäre Ginny fast gestorben durch die Schuld seines Vaters. Und das Schlimmste: Letztes Schuljahr hätte er Ron fast vergiftet.
Doch die Weasleys waren offenbar energisch auf Versöhnungskurs. Auch wenn es ihnen augenscheinlich nicht ganz leicht fiel und jedes Familienmitglied den Begriff "Versöhnung" unterschiedlich auslegte. Für die Zwillinge hieß er zum Beispiel, Draco an Stelle von Ron zum Opfer ihrer magischen Scherze und zauberhaften Experimente zu machen. "Das ist nun mal unsere Art...", begann Fred mit einem ironischen Lächeln, "...jemandem unsere Zuneigung zu zeigen", vollendete George grinsend.
Molly und Arthur gaben sich sichtlich Mühe, Draco zumindest neutral zu begegnen. Das Gleiche galt für Charlie und Bill, obwohl Letzterer wenig Grund dazu hatte. Aber Bill hatte einfach ein sonniges Gemüt und war im Moment viel zu glücklich mit Fleur, um irgendjemandem ernsthaft böse sein zu können. Ginny und Ron besaßen weniger Selbstbeherrschung und Percy, der verlorene und nach dem Sturz des Dunklen Lords eher widerwillig zurückgekehrte Weasley-Sohn, brummelte gelegentlich etwas von "lascher Justiz" und "Notwendigkeit härterer Strafen" in sich hinein.
Draco gab sich alle Mühe, nett, höflich und hilfsbereit zu sein, was ihm nicht leicht fiel, schließlich hatte er wenig Übung darin. Doch man nahm offenbar zur Kenntnis, dass er es ehrlich versuchte, trotz gelegentlicher unerfreulicher Ausrutscher in Ton und Wortwahl. Nachdem er sich bei jedem Familienmitglied ungefähr ein Dutzend mal für sein Verhalten in den letzten sechs Jahren entschuldigt hatte, verbot Molly ihm energisch, je wieder ein Wort darüber zu verlieren und lud ihn, Danny und Harry für die Sommerferien in den Fuchsbau ein.
Nachdem sie eine Woche bei den Weasleys verbracht hatten, bestand Hermine darauf, Ron, Harry, Ginny und eben auch Draco für acht Tage zu ihren Muggeleltern einzuladen. Danny kam mittlerweile nur noch alle zwei Tage zu Besuch. Das Leben unter Muggeln war für Draco eine sehr erhellende Erfahrung und im Stillen leistete er Abbitte für viele seiner Vorurteile.

***


Vollkommen friedlich verliefen die Ferien indes nicht. Besonders bei den Grangers hatte Draco oft hart mit sich zu kämpfen. Von klein auf war ihm eingetrichtert worden, Muggel als eine Art von Untermenschen zu betrachten und er hatte seine Schlammblüter-und-Reinblüter-Theorien so sehr verinnerlicht, dass ihm manches Mal eine hässliche Bemerkung herausrutschte. Hermine und Harry bemühten sich im Allgemeinen, Verständnis für ihn aufzubringen, doch einmal hatte Hermine ihm eine heftige Ohrfeige verpasst, nachdem er ihre Mutter beleidigt hatte. Und Ginny und Ron waren nicht so schnell bereit, die Vergangenheit zu begraben... Ein paar Mal hatten Draco und Ron sich sogar heftig geprügelt.
Wenn Draco bei Diskussionen keine Argumente mehr einfielen, dann neigte er dazu, ausfallend zu werden. Am letzten Abend bei den Grangers, als sie zu fünft im Garten saßen, fragte Hermine vorsichtig: "Sag mal, warum hast du dich eigentlich den Todessern angeschlossen? Wegen deines Vaters oder..."
"Das geht dich nichts an, Schlammblut", fauchte Draco zornig.
Im Bruchteil einer Sekunde war Ron auf den Beinen und richtete seinen Zauberstab auf ihn. Ron zitterte vor Wut.
"Sag das noch ein Mal, und ich schwöre, ich bring dich um , Malfoy!", zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
"Ron, lass den Quatsch! Er ist unbewaffnet!" Hermines Gesicht war weiß und ihre Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn. Draco war es per Ministeriumsbescheid immer noch verboten, Magie auszuüben, glücklicherweise, bei seinem überschäumenden Temperament.
"Okay!" Ron warf Ginny seinen Zauberstab zu, den diese verblüfft auffing. Ihr Bruder hob die Fäuste und ging drohend auf Draco zu. "Na, komm, Malfoy, du kleine Ratte! Ich brauch keinen Zauberstab, um dich fertig zu machen!"
"Ron, nicht!" Harry wollte ihn festhalten, doch sein Freund schüttelte ihn ärgerlich ab.
Draco stand völlig regungslos, die Arme über der Brust verschränkt und blickte Ron eisig entgegen. Seine Augen funkelten gefährlich.
"Ron, Draco, seid vernünftig, okay?", sagte Harry alarmiert. Aber Ron ignorierte ihn.
"Was ist, Angst, Malfoy? Komm schon, du Hurensohn!"
" Ron !", rief Hermine empört.
Draco machte einen Schritt vorwärts. Seine Stimme war gefährlich ruhig. "Wie hast du mich da gerade genannt, Weasley?" Er wirkte gelassen und kalt, aber Harry war sich sicher, ihn noch nie so wütend gesehen zu haben - und das wollte schon was heißen.
" Hurensohn! ", zischte Ron.
Mit einem Satz war Draco bei ihm und hatte die Hände fest um seine Kehle geschlossen. "Woll'n mal seh'n, wer hier wen umbringt," fauchte Draco. Ron zappelte, trat und schlug um sich, doch Draco ließ nicht locker. "Du wärst schließlich nicht der Erste", zischte er.
Endlich erwachte Hermine aus ihrer Erstarrung. "Petrificus totalus!"
Ron und Draco gefroren mitten im Kampf und fielen gemeinsam mit einem dumpfen Schlag ins Gras.
"Hermine, Ginny", rief Harry verzweifelt, "wir müssen seine Hände von Rons Hals runterkriegen! Ron erstickt!" Tatsächlich war Ron bereits blaurot angelaufen, die weit aufgerissenen Augen traten ihm aus den Höhlen. Ginny richtete ihren Zauberstab auf Dracos Hände. "Relashio!"
Die Hände erschlafften und glitten von Rons Hals herab. Sofort deutete Hermine mit ihrem Zauberstab auf Ron. "Finite incantatem!"
Ron keuchte und würgte und Harry half ihm rasch, sich hinzusetzen.
"Das eins klar ist!" Hermine blickte wütend auf Ron. "Ich hab den Zauber nur beendet, damit du nicht erstickst, okay? Am Liebsten würde ich euch beide", sie schoss einen zornigen Blick auf Draco, "über nacht hier im Garten liegen lassen."
Harry sah nachdenklich zu Draco hinunter, der, nach wie vor völlig erstarrt, auf der Seite im Gras lag. Harry ließ sich neben ihm auf ein Knie sinken und sah fragend in die eisgrauen Augen, die ihn halb zornig, halb bittend anblickten. "Was hast du da eben zu Ron gesagt? ‚Du wärst nicht der Erste'? Heißt das..."
"Harry, das meinst du doch nicht im Ernst! Der gibt doch bloß an, der Typ!" Ginnys Augen blitzten. "Ich bin echt dafür, dass wir den einfach hier liegen lassen. Damit er mal Zeit zum nachdenken hat!"
Hermine schüttelte den Kopf. "Das können wir nicht machen, Ginny. Finite incantatem!"
Langsam setzte Draco sich auf. "Ich gebe nicht an", sagte er leise und abweisend.
" Was ?" Ron hörte auf, seinen Hals zu massieren und starrte Draco geschockt an. "Mann, heißt das etwa, du hast schon mal wen abgemurkst?!"
Alle Augen richteten sich auf Draco. Der zuckte die Achseln. "Niemand wird in den Dunklen Orden aufgenommen, ehe er nicht das erste Mal getötet hat. So einfach ist das." Dann stand er auf und verschwand in der Dunkelheit des Gartens.

***


Das Thema "Du wärst schließlich nicht der Erste!" wurde in den folgenden Tagen nicht mehr angesprochen. Draco war wütend auf sich selbst, dass ihm dieser unbedachte Satz herausgerutscht war. Er hatte sich mehr und mehr Mühe gegeben, sich seinen neuen Gefährten anzupassen. Auch wenn er sich oft über die anderen ärgerte, ganz besonders über Ron und Ginny, war er ihnen trotzdem dankbar, dass sie sich überhaupt mit ihm abgaben. Er hatte ja auch niemanden mehr, abgesehen von seiner Mutter, von der er aber schon seit Wochen nichts mehr gehört hatte.
Selbst wenn er am Ende der Ferien nach Hogwarts zurückkehrte, würde er viele seiner früheren Freunde nicht mehr dort antreffen. Draco war nicht der Einzige gewesen, den der Dunkle Lord noch vor seiner Volljährigkeit in den Orden aufgenommen hatte. Und wer von seinen Feunden das Dunkle Mal nicht trug, hatte doch meist Todesser als Eltern. Diese Schüler würden kaum mehr in Hogwarts auftauchen, entweder waren ihre Eltern mit ihnen geflohen, hatten sie irgendwo bei Freunden oder Verwandten versteckt oder waren bereits verhaftet worden - und welcher Slytherin, dessen Eltern in Askaban saßen oder von Auroren ermordet worden waren, würde freiwillig den Spott und die Ablehnung der anderen Schüler auf sich nehmen?
Draco war ganz einfach gezwungen, sich neue Freunde zu suchen, und derzeit waren Harry, Ginny, Hermine und Ron da einfach am Naheliegendsten. Doch nachdem er sich selbst als Mörder entlarvt hatte, betrachteten ihn die vier mit einer Mischung aus Furcht, Abscheu und Misstrauen. Er hätte das gerne geändert, hätte sich gerne erklärt, aber er fand nicht den Mut, das Thema von sich aus anzusprechen. Am Morgen nach dem unglückseligen Streit machten Ron und Hermine sich auf die lange geplante Reise zu Hermines Tante in die Schweiz, nach Muggelart mit Schiff und Zug, "weil man da einfach mehr von der Reise hat", wie Hermine betonte. Zu einer Aussprache kam es nicht mehr und der Abschied zwischen den beiden und Draco fiel sehr kühl aus.
Harry, Ginny und Draco dagegen apparierten nach London zum Grimmauldplatz, wo sie die letzten zwei Ferienwochen gemeinsam mit Sirius, Lupin und Tonks verbringen wollten. Na ja, mussten, was Draco betraf. Obwohl auch hier das Thema "ich wohne mit einem Mörder unterm selben Dach" zunächst nicht angesprochen wurde, schien Harry sich um gleichbleibende Freundlichkeit Draco gegenüber zu bemühen. Seltsamerweise begann sich auch das Verhältnis zwischen Ginny und Draco langsam zu bessern, sie gifteten sich zwar immer noch gegenseitig an, aber es trat etwas annährend Ironisches und Humorvolles in ihre Wortgefechte, wofür Harry augenscheinlich sehr dankbar war.
Begegnungen zwischen Draco, Lupin und Tonks ließen sich nun nicht mehr völlig vermeiden. Von einem Verfahren gegen Dracos Peiniger war längst nicht mehr die Rede, ebenso wenig wie von einer Entlassung der Auroren Tonks und Shacklebolt. Draco war sich ziemlich sicher, dass das Zaubereiministerium die Angelegenheit unter den Teppich kehren wollte. Im Gegenzug war er bisher von amtlichen Befragungen verschont geblieben, nicht jedoch von der Konfrontation mit Lupin und Tonks. Der Werwolf war immer sehr vorsichtig im Umgang mit Draco, das Schuldbewusstsein stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Draco verhielt sich ihm gegenüber sehr kühl und redete nur mit Lupin, wenn es unbedingt sein musste. Im Gegensatz dazu trat Tonks trotzig und selbstbewusst auf und geriet mehr als einmal verbal mit Draco aneinander. Diese Auseinandersetzungen drehten sich manchmal auch um die Geschehnisse im Ministerium. Draco war nicht bereit, das Thema totzuschweigen und dadurch die Aurorin in ihrem moralischen Überlegenheitsgefühl noch zu bestärken. Ein ‚beliebter' Zeitpunkt für diese Streitereien war das allmorgendliche gemeinsame Frühstück in der verräucherten, düsteren Küche des Black-Hauses. Die Initiative dazu war drei Tage nach ihrem erneuten Einzug am Grimmauldplatz von Draco selbst ausgegangen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er sich der Konfrontation mit seinen ehemaligen Peinigern nicht für immer entziehen konnte.
‚Ich werde mich ihnen ohnehin irgendwann stellen müssen, also, je eher, desto besser', hatte er grimmig gedacht und war dann hinunter zu Harry, Ginny und Sirius marschiert, um ihnen seinen Vorschlag mitzuteilen. Keiner der anderen war wirklich begeistert gewesen, doch selbst Tonks hatte es nicht gewagt, sich Dracos Entschluss zu entziehen. Und so saßen sie nun jeden Morgen in mehr oder weniger angespannter Atmosphäre um den langen, zerkratzten und fleckigen Küchentisch herum, starrten in die tanzenden Flammen des Kaminfeuers und verzehrten schweigend oder in stockender und unbehaglicher Unterhaltung ihr Frühstück.
Vier Tage vor Ferienende war es dann wieder so weit. Ginny und Lupin, die sich sehr gut miteinander verstanden, hatten gemeinsam das Frühstück vorbereitet. Sirius driftete silbergrau durch die Küche und ließ sich auf einen Stuhl direkt vorm Feuer sinken. Draco und Harry setzten sich ihm gegenüber. Draco sah durch Sirius hindurch auf das flackernde Feuer. Ein Windstoß fuhr in den Kamin und drückte eine Rauchwolke in die Küche, die mit der grauen Geistergestalt zu verschmelzen schien. Wie üblich redeten die beiden nicht miteinander. Sie waren ziemlich rasch übereingekommen, sich gegenseitig zu ignorieren, um überhaupt unter einem Dach miteinander leben zu können. Sirius verabscheute Dracos Vater und alles, was irgendwie mit dem Dunklen Orden zu tun hatte, also auch Draco selbst. Und Draco konnte den aufbrausenden Animagus ebenso wenig leiden.
Tonks, mit verstrubbelten ultramarinblauen Haaren, in Bluejeans und einem knallgelben T-Shirt, kam gähnend in die Küche gestolpert. "Huahhh... Mensch, das is' ja noch so früh... Neun Uhr erst... Mitten in der Nacht..." Sie ließ sich verschlafen blinzelnd auf einen Stuhl neben Sirius fallen - direkt gegenüber von Draco. "Ach neee...", brummte sie missmutig, als sie ihn bemerkte und machte Anstalten, wieder aufzustehen. Doch da hatte Lupin schon eine große Pfanne mit Rührei auf den Tisch gesetzt und sich neben seiner Verlobten niedergelassen. Grummelnd blieb Tonks sitzen. Ginny stellte eine Kanne dampfend heißen, duftenden Kaffees auf den Tisch und ließ sich neben Draco nieder.
"Bedient euch!", sagte sie gut gelaunt.
Alles setzte sich daraufhin in Bewegung, angelte nach Brötchen, Marmelade, Honig, Butter, Kaffee... und begann, sich den Bauch vollzuschlagen. Draco hörte Harry zufrieden seufzen und wusste genau, was der dachte: Es schien heute ein richtig friedliches Frühstück zu werden...
"Malfoy!", knurrte Tonks missmutig. "Gib mal die Butter!"
Draco blickte sie kühl an. "Die Butter, bitte," sagte er eisig und schob die Butterdose zu ihr hinüber.
Eine steile Falte erschien über Tonks' Nase.
"Du bist nicht meine Mutter, Malfoy, ja? Also versuch nicht, mich hier zu erziehen!"
Draco spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
"Nein, Erziehungsversuche sind dein Spezialgebiet, was?!"
Tonks' Gesichtsfarbe wechselte über aschgrau zu blassrot, als sich ihre Hände um Brötchen und Messer krampften und sie sich drohend über den Tisch beugte. Das leise Knirschen des zerbröselnden Brötchens unterstrich ihre Worte, als sie ungewohnt kalt sagte: "Ich bin Aurorin, Malfoy, hast du das kapiert? Aurorin . Es ist meine Aufgabe , Todesser aufzuspüren und zu verhören!"
Draco spürte, wie er wieder zu zittern begann und brauchte all seine Willensstärke, um diese instinktive Reaktion seines Körpers zu unterdrücken. "Ihr seid nicht besser als wir!" Er hörte Harry heftig husten und ihm wurde klar, dass er noch nie so direkt von sich selbst als Mitglied des Dunklen Ordens gesprochen hatte. Draco warf einen flüchtigen Blick zu Sirius hinüber, der ihn voll eisiger Verachtung anstarrte, die silbrig durchscheinenden Lippen fest aufeinander gepresst, als müsse er sich mit Gewalt zum Schweigen zwingen. Rasch wandte Draco sich wieder Tonks zu. " Du bist nicht besser als ich . Auroren und Phönixkrieger wenden im Endeffekt die gleichen Mittel wie die Todesser an, um ihre Macht zu sichern. Und das eure Ziele besser sind als unsere es waren, dass müsst ihr mir erst noch beweisen!"
Tonks funkelte ihn hasserfüllt an.
"Du glaubst allen Ernstes, es gäbe keinen Unterschied zwischen euch Todesserabschaum und uns?!"
Draco sprang auf: Dafür würde sie bezahlen. Doch sofort fühlte er sich rechts und links gepackt und von Harry und Ginny auf seinen Stuhl zurückgezogen.
"Draco! Setz dich hin!", fauchte Ginny. "Tonks, du bist eindeutig zu weit gegangen! Entschuldige dich bei ihm!" Sie funkelte die Aurorin zornig an.
"Das werde ich sicher nicht tun!", fauchte Tonks zurück. "Warum kapiert das hier keiner: Er ist ein verdammter Todesser, er hat es verdient, zu leiden, so wie er andere hat leiden lassen!"
Draco spürte, wie sich der Griff um seine Arme verstärkte und schüttelte sich ärgerlich. "Lasst mich los! Ich rühr sie nicht an, keine Sorge!" Er ließ sich schwer atmend gegen die Stuhllehne sinken.
Zögernd lockerten seine Gefährten ihren Griff, ließen ihn jedoch nicht ganz los. Aber es war nicht nötig, dass sie ihn festhielten, Draco hatte sich wieder vollkommen unter Kontrolle. Er sah Tonks direkt in die Augen, sie erwiderte seinen Blick wütend. Die Aurorin schien geradezu Funken zu versprühen vor Zorn und moralischer Empörung.
"Tonks", hob Draco an, "ich habe nie freiwillig und ohne Befehl jemanden gefoltert."
Sie blitzte ihn an. "Ach nein, und was ist mit deinem Vater? Harry hat uns gesagt -"
"Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich das freiwillig gemacht habe, oder?", entgegenete er kalt. "Der Dunkle Lord hätte meinen Vater getötet, wenn ich mich geweigert hätte, seinen Befehl auszuführen!"
"Schwachsinn! Dir ging's doch nur um dein eigenes, armseliges kleines Leben!"
"Vielleicht ging es mir auch darum, ja. Aber nicht nur! Und wenn du jemals vorm Dunklen Lord gestanden hättest, wüsstest du"
"Immer noch dein Lord, ja?!"
Draco biss sich auf die Zunge. ‚Immer noch mein Lord? Ja, vielleicht. Er hat mir Angst gemacht, aber nicht nur, in gewisser Weise habe ich ihn auch verehrt', dachte er. "Ja, immer noch mein Lord", sagte er leise.
Alle starrten ihn verblüfft an. Alle, außer Tonks.
"Ha! Ich wusste es!", rief sie triumphierend. "Ich wusste es die ganze Zeit! Er hat sich nie von Du-weißt-schon-wem abgewandt!"
"So einfach ist das nicht", zischte Draco ärgerlich. Eine Sekunde lang zögerte er, dann riss er den Ärmel seines Pullovers hoch und zeigte ihr seinen linken Unterarm. Da war es: Das Dunkle Mal, verblasst, hellrot statt blutig schwarz, aber immer noch deutlich sichtbar in seine Haut eingebrannt. "Wir sind ihm geweiht worden, jeder von uns. Er hat einen Teil von sich selbst in uns eingebrannt. Du solltest das Gefühl eigentlich kennen", sagte er zu Harry gewandt. "Und du auch, Ginny." Ginny schauderte leicht. Voldemort hatte nicht nur einen Teil von sich in sie eingebrannt, er hatte vor vier Jahren vollkommen von ihr Besitz ergriffen.
Draco sah Tonks eindringlich an. "Das ist eine Bindung, die man nicht einfach zerschneiden kann. Eine Bindung, die selbst über den Tod unseres Herrn hinausreicht. Am Anfang habe ich gedacht, ich könnte vor ihr fliehen. Aber jetzt weiß ich, wir werden immer Todesser bleiben, egal, ob wir es wollen oder nicht. Wir können vielleicht versuchen, ein normales Leben unter den anderen Zauberern und Hexen zu führen, falls sie es zulassen. Aber ein Teil von uns wird immer mit jener Dunkelheit verbunden bleiben."
Harry machte eine unruhige Bewegung und Draco drehte sich zu ihm um.
Harry war blass und seine Stimme zitterte leicht, als er leise sagte: "Du hast getötet."
Draco wich seinem Blick nicht aus. Da war nichts, was er bereute. Nichts, wofür er sich schämte.
"Ja, ich habe getötet."
"Wen?", fragte Lupin heiser.
"Einen anderen Todesser. Niemanden also, der euch interessieren oder euer Mitleid... verdienen würde."
Doch Lupin fragte weiter: "Wie war sein Name?"
"Marcus. Er hieß Marcus. Ich weiß nicht, ob das sein Vor- oder Nachname war."
"Wie sah er aus?", drängte der Werwolf atemlos.
"Weißt du", Draco spürte einen gewissen Zynismus in sich aufsteigen und entsprechend klang auch seine Stimme, "er war nicht mehr besonders gut zu erkennen. Rodolphus Lestrange hatte sich mit ihm beschäftigt. Unter anderem."
Verwundert registrierte Draco, dass Lupin blass geworden war. Zorn stieg in ihm auf.
"Ich hätte wahrscheinlich auch nicht wesentlich besser ausgesehen, wenn du mit mir fertig gewesen wärst!", zischte Draco.
Lupin schluckte mühsam und schloss gequält die Augen.
"Ich glaube nicht, dass du ihn gekannt hast", fuhr Draco, jetzt ruhiger, fort. "Er war noch ziemlich jung, Mitte zwanzig, schätze ich, dunkle Locken, sehr grüne Augen..." Draco verstummte abrupt, als er die grünen Augen wieder vor sich sah, den gequälten, flehenden Ausdruck darin...
"Nein." Lupin schüttelte erleichtert den Kopf. "Den kenne ich nicht."
"Siehst du, sag ich doch: Niemand, um den ihr euch Sorgen machen müsstet. Niemand, den ihr bedauern würdet." ‚Aber mir hat er leid getan', dachte Draco plötzlich. "Er wäre ohnehin gestorben. Nur weitaus... qualvoller." Draco sah durch den eisern schweigenden Sirius hindurch in die knisternden Flammen. "Ich hatte keine Wahl", setzte er schließlich leise hinzu.
"Wir auch nicht", ertönte die raue Stimme Lupins.
Draco starrte weiter ins knackende Feuer.
"Wirklich nicht?", fragte er leise. "Wer hat euch denn gezwungen und womit? War euer Leben in Gefahr? Oder hat man euch mit Folter gedroht?"
"Nein, nicht unser Leben", sagte Lupin sanft und traurig. "Aber so viele andere Leben. Denk doch nur an Bellatrix und Rodolphus Lestrange - was glaubst du, hätten die wohl gemacht, um sich für den Tod ihres Herrn zu rächen? Sie hätten ein Massaker angerichtet, wenn wir sie nicht rechtzeitig hätten stoppen können..."
"Vielleicht", sagte Draco leise. ‚Vielleicht, ja'. "Aber sie wären sicher die Ausnahme gewesen. Die meisten hätten versucht, abzutauchen oder sich irgendwie rauszuwinden, wie nach dem ersten Fall des dunklen Lords."
"Wir hatten Angst, Draco. Wir hatten einfach Angst. Woher sollten wir wissen, wen es treffen würde und wer von den Todessern Amok laufen würde - und wer nicht? Unsere einzige Chance war es, euch so schnell wie möglich auszuschalten und zwar alle."
Und zwar alle. Und zwar egal mit welchen Mitteln.
"Vielleicht. Aber das macht es nicht besser. Nicht besser für mich und nicht besser für die anderen von uns."
"Ich weiß. Und es tut mir leid. Aber manchmal gibt es keine gute Lösung für ein Problem. Manchmal sind alle Lösungen gleich schlecht. Alle richten Schaden an. Und trotzdem muss man eine wählen. Es tut mir leid, Draco, dass meine Wahl für dich so schreckliche Folgen hatte. Aber ich bin mittlerweile sicher, dass ich die richtige Wahl getroffen habe."
Draco nickte langsam, die Augen nach wie vor aufs Feuer geheftet.
‚Wie schön für Lupin. Dann sind wir ja schon drei hier im Raum. Drei, die nicht bereuen, dass sie gefoltert oder getötet haben.'
Er sah auf und zu Lupin hinüber. Der Werwolf streckte ihm über den Tisch hinweg die Hand entgegen. "Vergeben?", fragte er gedämpft und mit einem schiefen Lächeln im Gesicht.
Dracos erste, automatische Reaktion war es, ein Stück vor Lupins Hand zurückzuweichen. Dann ergriff er sie zögernd.
"Vergeben, nicht vergessen", sagte er leise.
Tonks schnaubte abfällig.
"Zu rührselig, für meinen Geschmack", knurrte sie unwirsch. Dann streckte sie brüsk ihre Hand aus. Draco ergriff sie ebenso brüsk und ließ dann rasch wieder los.
"Das hier keine Missverständnisse aufkommen", knurrte Tonks ihn an, "ich trau dir immer noch nicht, Malfoy."
Draco grinste grimmig und nickte.
"Die Freude ist ganz meinerseits, Nymphadora."

***


Vier Tage später saßen Harry, Ginny, Ron, Hermine und Draco wieder im Hogwarts-Express, diesmal im selben Abteil. Neville hatte seinen Augen kaum trauen wollen und Harry und Hermine hatten ihre ganze Überredungskunst aufwenden müssen, damit er es wagte, den am weitesten von Draco entfernten Platz einzunehmen. Harry hatte ursprünglich nicht vorgehabt, nach Dumbledores Tod wieder zur Schule zurückzukehren, er war jetzt siebzehn und damit volljährig, zumindest in der magischen Welt. Das Berufsziel Auror hatte er nach den eindrucksvollen Arbeitsproben, die er in den Ferien von ihrer Arbeit zu Gesicht bekommen hatte, endgültig aufgegeben. Und das war auch der Grund, warum er nach Hogwarts zurückkehrte: Ihm fiel einfach nichts Besseres ein. Außerdem waren da natürlich noch Ginny und auch Ron und Hermine. Widerwillig musste Harry sich eingestehen, dass er mittlerweile sogar Draco vermissen würde. Hogwarts würde für sie nie wieder so sein wie vor Dumbledores Tod, aber es war sechs Jahre lang Harrys Zuhause gewesen und so hatte er sich letztlich entschlossen, auch noch das siebte Jahr durchzustehen.




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