Harry Potter und das Sonnenamulett

 

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Kapitel 2: Rückkehr zum Grimauldplatz 12




Sie fuhren etwa eine halbe Stunde durch die sonnenbeschienene Landschaft. Sowohl Kingsley als auch Professor Fenwick waren sehr wortkarg und wirkten beide angespannt. Diese Anspannung übertrug sich auch auf Harry, der fast vor Neugierde platzte. Wie er diese Geheimniskrämerei der Erwachsenen hasste!

Schließlich bogen sie in einen holprigen Feldweg ein, der von Kornfeldern gesäumt wurde. Nach weiteren fünf Minuten Fahrt parkte Kingsley den Wagen vor einem kleinen, alten Holzhaus, das von einem verwilderten Garten umgeben war.
"Das hätten wir schon mal geschafft", erklärte Professor Fenwick mit einem erleichterten Gesichtsausdruck. Sie murmelte etwas, das wohl den Illusionszauber wieder aufhob. "Gehen wir erstmal rein." Sie stiegen aus und Professor Fenwick zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die Haustür. "Hier in der Gegend wohnen nur Muggel", erklärte sie Harry, der ihr einen verwunderten Blick zuwarf.

Nacheinander betraten sie eine kleine Diele, in der ein altmodischer Garderobenschrank aus Eiche stand. Professor Fenwick ging voraus und führte sie in ein Wohnzimmer, das Harry ein bisschen an das Wohnzimmer von Mrs. Figg erinnerte, nur, dass es hier nicht nach Katzen roch. Die Möbel waren jedoch ebenso altmodisch wie bei Mrs. Figg und es sah so aus, als wäre dieser Raum vielleicht vor zwanzig Jahren eingerichtet worden und seither hätte man nichts mehr daran verändert.
"Bitte nehmen Sie Platz", sagte Professor Fenwick und deutete auf eine Sitzgruppe mit einem durchgesessenen Sofa und zwei Sesseln, die um einen flachen Holztisch gruppiert waren. "Möchten Sie eine Tasse Tee trinken, während ich nach oben gehe und noch ein paar Sachen packe?" Harry und Kingsley nickten zustimmend. Sie zog ihren Zauberstab und schlenkerte ein paar Mal damit durch die Luft. Auf dem Tisch erschien ein Teebrett mit Tassen, einer dampfenden Teekanne und einem Teller mit Keksen. "Greifen Sie zu", forderte Professor Fenwick die beiden auf, dann verließ sie das Zimmer.

"Können Sie mir jetzt bitte einmal erklären, was das ganze hier zu bedeuten hat?", wollte Harry sofort voller Ungeduld wissen, nachdem sich die Tür hinter ihrer Gastgeberin geschlossen hatte, "wo sind wir hier eigentlich?"
"Eins nach dem anderen", antwortete Kingsley bedächtig. "Das Haus hier gehörte wohl den Eltern von Violet Fenwick. In der letzten Zeit hat sie selber hier gewohnt. Wir werden gleich mit einem Portschlüssel ins Hauptquartier reisen", begann Kingsley zu erklären. "Richtig offiziell vom Ministerium genehmigt. Endlich haben die auch kapiert, worum es hier geht. Die haben sich allerdings ganz schön Zeit gelassen mit der Genehmigung."
"Aber dann wissen die doch, wo das Hauptquartier ist", wandte Harry verwundert ein.
"Nein, Harry", entgegnete Kingsley verschmitzt lächelnd, "wie du ja weißt, kann man das Hauptquartier nur finden, wenn einem der Ort von Dumbledore genannt wurde. Violet und ich haben an der Signatur rumgebastelt. Meine Kollegen im Ministerium glauben, wir würden zum Landhaus meines Bruders in Kent reisen."
"Wer ist diese Fenwick eigentlich, ich meine, was macht sie und seit wann ist sie beim Orden?", wollte Harry nun wissen.
"Sie ist Aurorin, hat einige Sonderaufgaben fürs Ministerium erledigt. Sie hat auch eine Zeit lang in der Mysteriumsabteilung gearbeitet. Dann war sie bis Anfang letzten Jahres in Afrika, wo sie sich mit irgendwelchen Kombinationswirkungen von Flüchen und Zaubertränken beschäftigt hat, auch im Auftrag des Ministeriums. Hat auch einige wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Was sie die letzten eineinhalb Jahre gemacht hat, weiß ich nicht. Anfang dieses Monats ist sie dann zum Orden gekommen und gestern ist sie zusammen mit ihrem kleinen Sohn vorläufig im Hauptquartier eingezogen. Wenn sie Aufträge für den Orden erledigt, wäre das Kind ansonsten hier ganz alleine."
"Warum habt ihr euch dieses ganze Theater ausgedacht, um mich abzuholen?"
"Um die größtmögliche Sicherheit für alle Beteiligten zu garantieren. Es ist wichtig, so unauffällig wie möglich vorzugehen. Auch an den Schutz deiner Verwandten mussten wir denken. Und wie es aussieht, ist alles gut gegangen."
"Warum ist Hedwig nicht zurückgekommen?"
"Wir müssen davon ausgehen, dass die Todesser eine Möglichkeit gefunden haben, Eulen abzufangen und zu verfolgen. Es bestand die Gefahr, dass sie in deine Nähe gelangen könnten. Du stehst zwar bei deinen Verwandten unter besonderem Schutz, aber wie schon gesagt, wir müssen auch an die Sicherheit deiner Verwandten denken."
"Wo sind Ron und Hermine?"
"Hermine kommt heute auch zum Hauptquartier, die Weasleys sind schon seit etwa einer Woche dort. Sie mussten den Fuchsbau vorübergehend verlassen, weil es dort nicht mehr sicher war."
"Warum, ist irgendwas passiert?"
"Der Fuchsbau ist angegriffen worden", sagte Kingsley traurig. Harry durchzuckte ein eisiger Schreck.
"Es ist noch glimpflich abgegangen", fügte Kingsley hinzu, "glücklicherweise hatten die Angreifer vorher nicht gründlich die Situation beobachtet. Sie hatten wohl damit gerechnet, dass nur Ginny, Ron und Molly zu Hause wären, aber zum Glück waren Arthur, Bill und Charly auch da."
"Was ist genau passiert?" fragte Harry weiter.

Bevor Kingsley antworten konnte, öffnete sich die Tür und Professor Fenwick betrat wieder das Wohnzimmer. Sie hatte ihre Muggelkleider gegen einen schwarzen Umhang, an dem sie eine silberne Brosche, die mit Smaragden besetzt war, befestigt hatte, vertauscht. Ihr Haar war nach wie vor in einem Knoten aufgesteckt. In der Hand trug sie eine grüne Reisetasche, aus der ein großer Plüschelefant ragte.
"Wir haben James' Lieblingsspielzeug gestern vergessen", wandte sich Professor Fenwick nun erklärend an Kingsley. Dann ließ sie mit einem eleganten Schlenker ihres Zauberstabes das Teegeschirr verschwinden und man hörte klappern aus einem anderen Teil des Hauses. Wahrscheinlich spülte sich das Geschirr gerade selbst.
"Hast du den Portschlüssel?", wandte sie sich dann wieder an Kingsley. Dieser zog ein klobiges Gasfeuerzeug aus seiner Jackentasche.
"Sind Sie schon mit Portschlüssel gereist", Professor Fenwick blickte Harry fragend an. Dieser nickte bestätigend. "Dann los", forderte sie, "jeder legt einen Finger an das Feuerzeug. Denken Sie daran, Ihre Sachen mitzunehmen, Potter." Harry legte seine linke Hand auf Hedwigs Käfig, den er auf seinem Koffer abgestellt hatte.
"Kann's losgehen?", fragte Kingsley. Professor Fenwick und Harry nickten.
"Eins, zwei drei", fuhr Kingsley fort. Als Harry das Feuerzeug berührte, spürte er sofort das ihm bereits vertraute unangenehme Ziehen hinter dem Bauchnabel. Dann verlor er den Boden unter den Füßen und eine Reise durch wild wirbelnde Farben begann.

Wenige Sekunden später landete er unsanft auf festem Boden, neben sich seine beiden Begleiter. Als Harry sich umblickte, stellte er fest, dass sie sich in der Küche von Grimauldplatz Nr.12 befanden. Harry durchzuckte es schmerzhaft. Als er das letzte Mal auf diesem Weg hier angekommen war, hatte ihn Sirius erwartet.
"Harry! Gottseidank!" Mrs. Weasley, Rons Mutter, rannte auf Harry zu und schloss ihn fest in ihre Arme. Harry fiel sofort auf, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte und verhärmt aussah. "Oh Harry!" Sie drückte ihn fest an sich. "Ich bin so froh, dass du jetzt hier bist, dass alles gut gegangen ist! Wie geht es dir?"
"Danke, gut", erwiderte er, "jetzt, wo ich hier bin."
"Bring deine Sachen nach oben", fuhr sie fort, "Ron ist oben in eurem alten Zimmer."

Als Harry sich von Mrs. Weasley abwandte, fiel sein Blick auf einen kleinen, vielleicht einjährigen Jungen mit schwarzen Locken, der vor Freude krähend versuchte, sich auf den Rücken des großen Plüschelefanten zu setzen, den Professor Fenwick mitgebracht hatte. Der Versuch misslang jedoch, weil die Beine des Elefanten einknickten. Der Junge fiel mit einem Plumps auf seinen Hintern und wälzte sich dann vergnügt mit dem Stofftier am Boden. Harrys Blick fiel auf Professor Fenwick, die neben dem Jungen stand. Ein strahlendes Lächeln lag auf ihren Lippen.

"Hey Harry." Ron kam ihm schon auf der Treppe entgegen und half ihm mit seinem Koffer. "Gut, dass du da bist, Hermine soll auch jeden Moment ankommen."
"Wie kommt sie denn hierher und mit wem", wollte Harry wissen.
"Keine Ahnung, wie bist du denn hier angekommen?" Harry berichtete ihm alles, was sich seit dem letzten Brief ereignet hatte.
"Ist ja cool, wie ihr deinen Onkel überlistet habt", sagte Ron anerkennend.
"Das war nicht besonders schwer", erwiderte Harry, "der nutzt doch jede Gelegenheit, um mich wieder los zu werden und auf den Quatsch mit dem Camp ist der natürlich voll abgefahren."
"Was ist bei euch passiert", fragte Harry nun und sah Ron besorgt an. Inzwischen hatten sie ihr Schlafzimmer betreten. Sofort flog Hedwig, die auf dem Käfig von Rons Eule gesessen hatte, auf Harry zu und setzte sich auf dessen Schulter. Sie begann sofort, zärtlich an seinem Ohr zu knabbern.
"Als ich deinen Brief bekommen hatte", begann Ron mit seiner Erzählung, "sagte Dad, ich darf Hedwig nicht mehr zurückschicken, weil das im Moment zu gefährlich wäre. Ich hab ihn gefragt, warum, aber er wollte mir keine genauere Antwort geben. Ginny hat Mum und Dad mal mit den Langziehohren belauscht und etwas über große schwarze Vögel gehört, die die Post abfangen würden, aber was genaueres konnten wir nicht rauskriegen. Dann haben die Todesser den Fuchsbau angegriffen. Es ging alles ganz schnell. Plötzlich apparierten drei von denen mitten in unserer Küche. Zum Glück waren Dad, Bill und Charly zu Hause und sie hatten sie ziemlich schnell überwältigt."
"Wer war es denn?", wollte Harry wissen.
"Keine Ahnung, Ginny und ich waren oben, wir haben von der ganzen Sache gar nichts direkt mitgekriegt, so schnell ging alles. Dad hat die drei dann den Ministeriumsauroren, die dann ankamen, übergeben. Mum ist seither ziemlich durch den Wind. Sie hat 'nen richtigen Schock gekriegt. Am nächsten Tag sind wir dann hier hergekommen", schloss Ron seine Erzählung.
"Was von Percy gehört", fragte Harry vorsichtig.
"Ne, bis jetzt noch nicht. Mum hatte auch gehofft, dass er sich wieder melden würde, nachdem doch nun ganz klar ist, dass Fudge vorher im Unrecht war, aber bis jetzt hat er noch nichts von sich hören lassen."
Plötzlich kam Harry ein ganz anderer Gedanke: "Wer kümmert sich denn jetzt um Seidenschnabel?"
"Hauptsächlich Lupin. Und wenn der unterwegs ist, irgendwer von den anderen."

Nachdem sie sich alle Neuigkeiten mitgeteilt hatten, spielten sie Zaubererschach. Bei der dritten Partie, als Rons Springer gerade Harrys Turm vom Spielfeld warf, klopfte es an der Tür und Professor Fenwick trat ein. "Das Mittagessen ist fertig", verkündete sie. In diesem Augenblick begann Pigwidgeon, Rons kleine, oft etwas hektische Eule, wie verrückt auf ihrem Käfig hin- und herzuhüpfen. Dann erhob sie sich in die Luft und flog direkt auf die rechte Schulter von Professor Fenwick. Pigwidgeon schmiegte sich zärtlich an ihre Wange. Harry glaubte, für einen Moment ein schmerzliches Zucken im Gesicht der Frau wahrzunehmen, doch vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet, denn einen Augenblick später war ihr Gesicht so undurchdringlich wie zuvor.
"Flieg zurück auf deine Stange", sagte Professor Fenwick leise und gab Pigwidgeon einen leichten Klaps. Die Eule erhob sich und flog auf ihre Stange zurück. Ohne ein weiteres Wort verließ Professor Fenwick das Zimmer.
"Komisch", sagte Harry und kratzte sich nachdenklich am Kinn, "das schien ja gerade so, als hätte Pig sie gekannt."
"Quatsch, das ist doch völlig unmöglich. Sirius hat Pig irgendwo weit im Süden aufgegabelt."
"Naja, ich glaub's ja auch nicht", räumte Harry ein, "aber ich fand schon, dass er sich etwas merkwürdig benommen hat. Obwohl, Kingsley hat mir erzählt, dass sie eine Zeit lang in Afrika war."
"Das müsste aber schon ein Riesenzufall sein", entgegnete Ron kopfschüttelnd, "komm, lass uns runtergehen, ich hab 'nen riesen Kohldampf!"

In der Küche trafen sie außer Mrs. Weasley, Ginny, Professor Fenwick und dem kleinen James noch Tonks und Hermine, die offensichtlich gerade angekommen waren. Nachdem sich alle begrüßt hatten, setzten sie sich zu einer Riesenplatte Sandwichs, die Mrs. Weasley auf dem großen Tisch abgestellt hatte. Sie begannen alle zu essen, doch es lag eine angespannte Atmosphäre über dem Raum.
"Was treibt eigentlich Kreacher jetzt?", fragte Hermine unvermittelt.
"Wir wissen es nicht", antwortete Mrs. Weasley. "Remus, der die meiste Zeit hier war, sagte, dass er ihn seit ... damals nicht mehr gesehen hat."
"Wahrscheinlich hat er sich jetzt bei meiner lieben Tante Narcissa eingerichtet und tröstet sie, wo doch mein feiner Onkel in den Kerkern des Ministeriums sitzt", mutmaßte Tonks, die sich heute für grell neonfarbene, schulterlange Haare entschieden hatte.
"In den Kerkern des Ministeriums?" fragte Harry verblüfft. "Hat man sie denn nicht nach Askaban gebracht?"
"Nein", entgegnete Tonks, "nachdem die Dementoren von Askaban sich du-weisst-schon-wem angeschlossen haben, ist es dort nicht mehr sicher. Deshalb wurden die Todesser vorläufig in die Kerker des Ministeriums gebracht, wo sie die Auroren besser bewachen können."
"Hoffentlich ist Lucius Malfoy noch dort", sagte Professor Fenwick schneidend, "heute Abend werden wir hoffentlich wissen, ob das Ministerium die Wahrheit veröffentlicht."
Harry horchte auf. Also hatte nicht nur er diese Vermutungen.

Nach dem Essen verabschiedete sich Tonks. Sie murmelte irgendetwas von einem Auftrag für den Orden, als Harry sie fragte, wo sie hinginge.
"Ihr vier könnt mir gleich im Keller helfen", wandte sich Mrs. Weasley an Harry, Ron, Ginny und Hermine.
"Oh Mum", beschwerte sich Ginny, "wir tun schon seit Tagen nichts anderes, als dass wir versuchen, diesen blöden Keller aufzuräumen und wenn wir wieder runterkommen, ist alles so unordentlich, wie vor dem letzten Versuch."
"In der Tat", erklärte Mrs. Weasley, "da muss irgendein seltsamer Zauber wirken, der es unmöglich macht, dort wirklich Ordnung zu schaffen, ich kann mir das auch nicht erklären. Würdest du dir die Sache mal ansehen, Violet?"
"Ich lege James schlafen und dann komm ich runter." Damit verließ sie mit dem protestierenden James, der sich nur widerwillig von Mrs. Weasleys Schoss hatte heben lassen, das Zimmer.
"Hermine. Bring deine Sachen nach oben und dann machen wir uns an die Arbeit", kommandierte Mrs. Weasley.
"Oh Mum, ich hab' noch so viel zu tun", maulte Ginny.
"Was soll das denn sein?", fragte ihre Mutter argwöhnisch.
"Was für die Schule", antwortete Ginny ausweichend.
"Unsinn", schimpfte Mrs. Weasley, "das glaubst du doch selbst nicht. Hör endlich mit dem Unsinn auf, den deine nichtsnutzigen Brüder dir in den Kopf setzen!"
"Aber Mum, was du schon wieder denkst. Du hast doch die Dinger konfisziert und seitdem waren George und Fred nicht wieder hier." Ginny lächelte ihre Mutter unschuldig an.
"Man kann nie wissen bei euch", erwiderte diese skeptisch. "Also, zieht euch alle so alte Klamotten wie möglich an. In einer Viertelstunde treffen wir uns hier unten."

Als sie außer Hörweite waren, fragte Harry: "Ginny, was hast du denn vor?"
"Ach, jetzt, wo George und Fred nicht mehr in Hogwarts sind, dachten wir, ich mach' da 'ne Filiale von ihrem Laden auf."
"Find ich gut", sagte Harry anerkennend, "ich bin der Meinung, dass wir für jede Gelegenheit, die uns zum Lachen bringt, dankbar sein sollten."
"Ich finde nicht, dass das so eine gute Idee ist", sagte Hermine mit spitzer Stimme.
"Aber Hermine", widersprach ihr Ron, "es wäre doch nicht auszudenken, wenn wir im nächsten Schuljahr nicht im Notfall auf die altbewährten Nasch-und-Schwänz-Süssigkeiten zurückgreifen könnten."
"Fred und George haben einige Neuerfindungen gemacht", erklärte Ginny geheimnisvoll. "Ihr werdet schon sehen. Beispielsweise haben sie die Langziehohren verbessert. Sie sind jetzt in der Lage, Mums Imperturbatio-Zauber zu umgehen, mit dem sie die Küchentür verhext hat."
"Das ist cool", sagte Harry, "aus den Andeutungen, die die Fenwick vorhin gemacht hat, kann man, glaube ich, schließen, dass der Orden heute Abend mal wieder ein Treffen hat. Da können wir die Langziehohren dann gleich testen, denn freiwillig werden die uns sowieso nichts erzählen."
"Prima Idee", stimmte Ron zu. Hermine rümpfte zwar halbherzig die Nase, doch konnte auch sie nicht verhehlen, dass sie neugierig war, zu erfahren, was bei dem Treffen besprochen wurde.

Den Nachmittag verbrachten sie im Keller, den sie am frühen Abend wieder verließen.
"Geht jetzt nach oben und zieht euch um", sagte Mrs. Weasley, "gleich haben wir noch ein Treffen des Ordens und dann können wir zu Abend essen."

Kaum waren sie in Ron und Harrys Schlafzimmer, als unten die Türglocke läutete. Irgendjemand musste unachtsam gewesen sein, denn plötzlich hörte man Mrs. Blacks Schreie durch das Haus gellen.
"Haben die das Porträt immer noch nicht von der Wand gekriegt?" Harry seufzte gequält auf. Eigentlich wäre er jetzt gerne alleine gewesen, wie eine gewaltige Woge brandete plötzlich der Schmerz in ihm auf. Gott, wie er Sirius vermisste!!! Und hier in diesem Haus war es noch viel schlimmer. Hermine warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, doch aus irgendeinem Grund ärgerte das Harry. Er atmete ein paar Mal tief durch, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
Unten war es inzwischen wieder ruhig geworden. Von hier oben hatte es sich so angehört, als wären sie alle recht kurz hintereinander angekommen.
"Sie werden gleich anfangen", meldete sich Ginny. "Wer will das Langziehohr? Es ist eine Kostbarkeit, das einzige, das wir im Moment noch haben."
"Nimm es ruhig", sagte Harry, "und halt uns auf dem Laufenden." Ginny steckte sich eine fleischfarbene Schnur ins Ohr, die sich dann zielsicher durch die Zimmertür, die Treppe hinunter schlängelte.
"So, jetzt werden wir sehen, ob Fred und George gute Arbeit geleistet haben", verkündete Ginny. "Es funktioniert!" Ginny hüpfte aufgeregt auf und ab. "Ich kann sie hören!"
"Wow, wir sind eben eine geniale Familie", erklärte Ron stolz.
"Schmücke du dich nicht mit fremden Lorbeeren", tadelte Hermine.
"Dumbledore begrüßt sie jetzt", begann Ginny ihren Bericht. "Sie scheinen sich Sorgen zu machen, dass Dad noch nicht da ist", fügte sie etwas unsicher hinzu. "Außerdem ist irgendwas anders, als sonst, das Ding wird warm. Naja, Hauptsache, es funktioniert." Nach etwa fünf Minuten fuhr sie fort: "Jetzt erzählt Kingsley, wie sie dich hierher... Au!!!" Ginny schrie entsetzt auf und griff sich mit der linken Hand an ihr Ohr, indem das Langziehohr steckte. Als sie es herauszog, sah Harry, dass es merkwürdig gekräuselt war und leicht verkohlt roch.
"Mein Ohr", wimmerte Ginny. Ginnys linkes Ohr war feuerrot geworden und mindestens auf die dreifache Größe angeschwollen.
"Soviel zu Fred und Georges Zauberkünsten", sagte Hermine bissig.
"Aber es hat doch funktioniert", widersprach Ron, "die müssen da unten irgendwas gemerkt haben."
"Was mach ich denn jetzt?" Ginny war verzweifelt. "Das tut so furchtbar weh, ich brauche Hilfe."

In diesem Moment wurde die Zimmertür aufgerissen und Professor Fenwick stürmte herein. Ihr Gesicht war wutverzerrt. "Wer von Ihnen kam auf diese Schnapsidee, zu versuchen, den Imperturbatio-Zauber zu durchbrechen?" Ihre Stimme klang gefährlich ruhig, im ganzen Raum war spürbar, wie wütend sie war. Ihr Blick fiel sofort auf die sich auf dem Bett windende Ginny. "Kommen Sie her", forderte sie Ginny auf. Diese erhob sich und ging zu Professor Fenwick hinüber. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Professor Fenwick zog ihren Zauberstab und richtete ihn auf Ginnys Ohr. "Frigo impedimenta", sagte sie und beschrieb dabei mit dem Zauberstab einen Kreis um Ginnys Ohrmuschel. Das Ohr sah aus, als würde es sich mit einer dünnen Eisschicht überziehen. Sofort fing es an, auf seine normale Größe zusammenzuschrumpfen.
"Gut", murmelte Professor Fenwick, als sie das Ergebnis begutachtete. "Es wird noch eine Zeitlang unangenehm wehtun, aber Merlin sei Dank werden keine bleibenden Schäden zurückbleiben. Das sollte Ihnen eine Lehre sein, mit Zaubern herumzuexperimentieren, von denen Sie nichts verstehen", fügte sie mit kalter, schneidender Stimme hinzu. "In Ihrem Alter müsste man Ihnen allen eigentlich mehr Vernunft zutrauen können. Sie sollten mittlerweile verstanden haben, dass es zu Ihrem eigenen Schutz geschieht, dass Sie nicht alles erfahren, was im Orden besprochen wird. Außerdem..."
Mit jedem Wort, das die Frau sagte, wurde Harry wütender. Was bildete sie sich überhaupt ein? Welches Recht hatte sie, ihn und seine Freunde belehren zu wollen?
"ICH HABE EIN RECHT, ZU ERFAHREN, WAS IM ORDEN BESPROCHEN WIRD!", schrie er sie an. Er war aufgesprungen und stand mit erhobenem Zauberstab vor Professor Fenwick. "ICH HABE GENUG VON DIESER GEHEIMNISTUEREI!" Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter, "HABEN SIE VOLDEMORT SCHON IM KAMPF GEGENÜBERGESTANDEN? WISSEN SIE, WIE SICH DER CRUCIATUS-FLUCH ANFÜHLT?"
"Oh ja, das weiß ich, Mr. Potter", entgegnete sie leise. Ihre Antwort nicht beachtend, fuhr Harry fort: "OHNE MICH WÜRDE DIE ZAUBERERGESELLSCHAFT IMMER NOCH NICHT GLAUBEN, DASS VOLDEMORT ZURÜCKGEKEHRT IST UND MALFOY UND SEINE TODESSERKUMPANE WÜRDEN IMMER NOCH FREI HERUMLAUFEN!
"Ich muss Sie wohl nicht erst daran erinnern, dass Ihr Besuch im Ministerium nicht nur erfolgreich war", sagte Professor Fenwick eisig. "Lernen Sie erst einmal Selbstbeherrschung, Mr. Potter, bevor Sie fordern, wie ein Erwachsener behandelt zu werden! Außerdem bin ich nicht die richtige Person, um dieses Thema mit Ihnen zu diskutieren. Sprechen Sie mit Dumbledore. Auf jeden Fall machen Sie nicht mehr so einen Unsinn, wie vorhin. Wie ich schon gesagt habe, haben Sie sehr viel Glück gehabt, Miss Weasley." Bei diesen Worten wandte sie sich von Harry ab und warf nun Ginny und Ron vorwurfsvolle Blicke zu. "Außerdem sollten Sie Ihrer Mutter nicht noch mehr Sorgen machen, als sie ohnehin schon hat. Sie haben vorhin wahrscheinlich mitgehört, dass Ihr Vater noch nicht zurück ist? Und das bei allem, was in letzter Zeit passiert ist. Von dieser Sache braucht Ihre Mutter nichts zu erfahren. Ich bin vorhin als Letzte in die Küche gekommen und habe deshalb in der Nähe der Tür gesessen. Auf einmal habe ich einen brandigen Geruch wahrgenommenen und dieses Ding (sie zeigte auf das verkohlte Langziehohr) gefunden, da bin ich unauffällig der Sache auf den Grund gegangen." Sie wandte sich zur Tür.
"Was ist denn genau...", setzte Hermine zu einer Frage an, wurde aber sofort durch eine ungeduldige Handbewegung unterbrochen. "Ich habe jetzt keine Zeit, um unnütze Fragen zu beantworten", erklärte Professor Fenwick barsch. Sie rauschte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

"Wie ist die denn drauf", schimpfte Ron los, "die hat uns doch überhaupt nichts zu sagen, wer ist sie denn eigentlich? Spielt sich auf, als wäre sie unsere Lehrerin und als wären wir mitten in Hogwarts."
"Aber eigentlich hat sie doch Recht", meldete sich Hermine zögernd zu Wort, "wir sollten wirklich..."
"Ach Unsinn", unterbrach Ron sie schroff, "sie hätte einfach das Langziehohr einkassieren und uns meinetwegen hinterher eine Standpauke halten können, aber das mit Ginnys Ohr hätte sie nicht machen müssen, das war unnötig und unfair."
"Hat sie doch gar nicht", widersprach Hermine gereizt.
"Natürlich hat sie", Ron war wütend, "woher soll Ginny sonst so ein Blumenkohlohr bekommen haben!?"
"Oh, du kapierst auch gar nichts", fauchte Hermine. "Ginny, du hast doch gesagt, dass es plötzlich warm wurde, nicht wahr",
"Ja, aber nicht plötzlich, sondern immer ein bisschen mehr", erwiderte Ginny zögernd.
"Das hat irgendetwas mit dem Zauber zu tun", überlegte Hermine und rieb sich die Stirn, "vielleicht entsteht beim Durchbrechen irgendeine Reibung oder ein Druck und je länger das ganze dauert, desto größer ist die Hitze, die frei wird. Naja, ich werde der Sache auf den Grund gehen, spätestens, wenn wir wieder in Hogwarts sind, werde ich in der Bibliothek nachsehen."
"Welch originelle Lösung", murmelte Ron.
"Aber bis jetzt noch immer erfolgreich", konterte Hermine.
"Jetzt hört endlich auf", sagte Harry genervt, "ich hab' keine Lust auf Euer Gekabbel!"
"Fred und George können was erleben", schimpfte Ginny und rieb sich ihr Ohr, das jetzt irgendwie die Konsistenz von Wackelpudding angenommenen hatte, "haben behauptet, das wäre todsicher."
"Habt ihr eure Hausaufgaben schon erledigt", wollte Hermine wissen, nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten.
"Teilweise", erwiderte Harry, "Snapes Kram muss ich noch machen und Binns' Aufsatz über die Revolution der Rotaugentrolle muss ich auch noch schreiben."
"Und wie sieht's bei dir aus, Ron?"
"Ich hatte wirklich andere Sorgen als die blöden Hausaufgaben", schnaubte Ron.
"Dann wird's aber langsam Zeit, dass du dich dranmachst." Hermine warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis sie unten Lärm wahrnahmen. "Wahrscheinlich ist das Treffen jetzt zu Ende", vermutete Ron, "ich hab einen Bärenhunger, hoffentlich gibt's gleich Abendessen." Fünf Minuten später kam Tonks, um sie zum Abendessen abzuholen.
Als sie nach unten gingen, trafen sie Snape, ihren fetthaarigen, hakennasigen Zaubertranklehrer, der gerade auf dem Weg zur Haustür war. Seine schwarzen Augen glühten und er warf Harry einen unergründlichen Blick zu. Harry war froh, als sich die Tür hinter Snape geschlossen hatte. Es reichte völlig aus, wenn er ihn im nächsten Schuljahr wieder im Unterricht ertragen musste.

***


Severus Snape verließ das Hauptquartier des Phönix-Ordens. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass kein Muggel in der Nähe war, disapparierte er nach Hogsmeade. Endlich war das Treffen zu Ende und er konnte wieder zu seinen Studien zurückkehren. Heute Abend wollte er unbedingt seine Abhandlung über die Weiterentwicklung und Verbesserung des Nachtsichttrankes abschließen. Er hatte eine Einladung zum Internationalen Kongress der Zaubertränkemeister in Loussanne bekommen, der in zwei Wochen stattfinden sollte. Dort sollte er u.a. über das Thema referieren. Nicht, dass ihn die gesellschaftlichen Ereignisse, die unweigerlich mit dem Kongress verbunden waren, besonders gereizt hätten, aber die Vorträge würden wohl auch in diesem Jahr wieder sehr interessant werden, wie sich schon dem Programmheft entnehmen ließ. Severus öffnete die Tür zu der kleinen Kellerwohnung, die er sich über die Sommerferien gemietet hatte. Die Wohnung bestand aus einem kleineren Raum, der gleichzeitig als Schlaf-, Ess- und Wohnzimmer diente, und einem größeren, der als Labor eingerichtet war. Severus setzte sich, gleich nachdem er die Wohnung betreten hatte, an seinen Schreibtisch, der sich in dem als Labor eingerichteten Raum befand. In Gedanken ging er noch einmal das gerade beendete Treffen des Ordens durch. Er war unzufrieden mit sich. Seine Ausbeute an verwertbaren Informationen war mehr als dürftig. Seit gut einem Jahr arbeitete er hart daran, wieder seinen früheren Platz im inneren Zirkel der Todesser einzunehmen. Doch alles hatte sich schwieriger gestaltet, als sogar Dumbledore erwartet hatte. Der Dunkle Lord vertraute ihm immer noch nicht völlig. Fast zwei Monate nach jenem denkwürdigen 24. Juni letzten Jahres hatte der Dunkle Lord Snape zum ersten Mal zu sich gerufen. Severus dachte mit Schaudern an diese Nacht zurück. Im Kreise seiner Gefolgsleute hatte der Dunkle Lord ein Exempel an ihm statuiert. Als Bestrafung dafür, dass Severus in jener Nacht nicht auf dem Friedhof erschienen war. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte hatte sich Snape in seine Wohnung zurückschleppen können. Er war sicher, dass Voldemort ihn nur deshalb am Leben gelassen hatte, weil er ihn wegen seiner Fähigkeiten der Zaubertrankherstellung noch brauchte. Seit jener Nacht war Severus noch einige Male zum Dunklen Lord gerufen worden, jedoch immer nur allein, um Aufträge für bestimmte Zaubertränke oder besser gesagt Gifte entgegenzunehmen. Über Voldemorts Pläne hatte er nur sehr unvollständige Informationen sammeln können. Nicht, dass ihm irgendjemand aus dem Orden offene Vorwürfe deswegen gemacht hätte, aber Snape gab sich keinen Illusionen darüber hin, dass die meisten Mitglieder ihm ebenfalls nicht wirklich vertrauten. Vor allem Moody machte daraus keinen Hehl. Tief im Innern verspürte er einen Stich, wenn er an dieses ständige Misstrauen dachte, doch mit einem verächtlichen Hochziehen einer Augenbraue schob Severus diesen Gedanken beiseite. Er würde sich jetzt seiner Abhandlung für den Kongress widmen. Er begann sofort konzentriert, den Kopf tief über das Pergament gebeugt, zu arbeiten.

Nachdem er etwa eine halbe Rolle mit seiner winzigen und engen Handschrift beschrieben hatte, fuhr Severus plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht von seiner Arbeit auf. Er ließ die Feder fallen und presste seine rechte Hand auf das Dunkle Mal auf seinem linken Unterarm, das sich schwarz verfärbt hatte. 'Nicht heute Abend', dachte Snape gequält und zugleich verärgert. Doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als dem Ruf des Dunklen Lords zu folgen, wollte er nicht seine Arbeit des letzten Jahres zerstören. Snape atmete noch ein paar Mal tief durch und wappnete sich innerlich für die kommende Begegnung.
Nachdem er seine Aufzeichnungen sorgfältig in einer Schreibtischschublade verstaut hatte, erhob er sich und ging zu einem Wandregal, das mit vielen kleinen Fläschchen vollgestellt war. Er griff nach einem der Fläschchen, das mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war und keine Beschriftung trug. Nachdenklich betrachtete Severus die Mixtur. Dann stellte er sie entschieden an ihren Platz zurück. Nein, heute würde er der Versuchung widerstehen, vor dem Treffen einige Tropfen dieses Zaubertrankes zu sich zu nehmen. Es handelte sich hier um eine seiner neuesten Erfindungen. Einen Trank, der den Geist völlig klar machte und zu vollkommener Konzentration führte. Der Trank steigerte die Fähigkeiten eines Legilimentors bzw. schützte den eigenen Geist vor dem Eindringen anderer. Doch Severus war sich auch über die Gefahren dieses Zaubertrankes im Klaren. Er würde sehr schnell zu einer körperlichen Abhängigkeit und bei übermäßigem Gebrauch sogar zur Erblindung führen, ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die er bei zu häufigem Gebrauch auf den Geist hatte. Er wandte sich von dem Regal mit den Zaubertrankfläschchen ab und ließ seinen Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen. Dann verließ er seine Wohnung und versiegelte sie mit einigen komplizierten Schutzzaubern.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, machte Severus eine Bewegung mit seinem Zauberstab, was zur Folge hatte, dass er eine Todessermaske und einen Todesserumhang trug. Dann disapparierte er.

Nur den Bruchteil einer Sekunde später befand sich Severus Snape an einer felsigen Steilküste. 'Der Dunkle Lord hat sein Quartier gewechselt', konstatierte er mechanisch, 'diesmal muss es mir rechtzeitig gelingen, herauszufinden, wo wir hier sind, bevor er wieder umzieht.' Etwa hundert Meter vor ihm erhob sich ein altes Gemäuer, das wohl früher einmal ein Muggelkloster gewesen war. Der Platz vor der Ruine war von alten Bäumen, meist Platanen, Pappeln und Kastanien, gesäumt. In der Mitte dieses Platzes stand eine Art erhöhter Felsensitz, auf dem Lord Voldemort saß. Hinter Voldemort stand ein kleiner Mann mit einem Gesicht, das an eine Ratte erinnerte. Snape zog verärgert eine Augenbraue hoch, als er Wurmschwanz erkannte. Jedes Mal, wenn er ihn sah, fühlte er Wut und Scham darüber, dass er vor gut zwei Jahren bei dem Vorfall in der Heulenden Hütte und dann später im Krankenflügel so die Kontrolle verloren hatte. Das Ganze wurde noch durch den Umstand verschlimmert, dass er sich damals mit seiner Einschätzung der Situation völlig geirrt hatte. Doch wie hätte er auch ahnen sollen, dass Sirius Black nicht der Massenmörder war, für den ihn alle hielten?
Ungeduldig schob Severus den Gedanken beiseite und lenkte seine Konzentration auf die Szenerie, die ihn umgab. Außer dem Dunklen Lord und Wurmschwanz befand sich niemand auf dem Platz, doch Severus hörte aus dem Inneren des Gebäudes Geräusche, die darauf schließen ließen, dass dort drinnen ein wildes Gelage stattfand, wahrscheinlich sogar schlimmeres. Severus verzog angewidert das Gesicht, als er zu ahnen begann, was ihn heute noch erwarten würde. Nachdem er noch einmal seine inneren Schutzschilde verstärkt hatte, ging er mit festen Schritten auf den Dunklen Lord zu. Wie er das, was jetzt zwangsläufig kommen musste, hasste! Aber er hatte keine andere Wahl, als dieses unwürdige Ritual über sich ergehen zu lassen. Als Severus vor dem Dunklen Lord stand, fiel er auf die Knie und küsste den Saum von Voldemorts Gewand, wie es von ihm erwartet wurde, doch seine Augen waren nicht zur Erde gesenkt. Stolz hielt er dem kalten, schlangengleichen Blick des Dunklen Lords stand.
"Severus Snape, mein kostbarer Meister der Zaubertränke", sagte die kalte hohe Stimme. "Du hast in den letzten Monaten gute Arbeit geleistet und dafür sollst du belohnt werden! Da drinnen findet gerade eine interessante Darbietung statt. Geh' hinein und genieße sie!" Ein kaltes, schneidendes Lachen ertönte und ein langer Knochenfinger wies in Richtung der Ruine. "Deine Gifte sind exzellent, wie ich das von dir erwarten darf, Snape. Außerdem wirst du ab jetzt wieder deinen Platz unter meinen loyalsten Dienern einnehmen. Deine Probezeit ist beendet. Und jetzt geh'! Es wäre schade, wenn schon alles vorbei wäre, bevor du da drinnen bist."
"Danke, mein Lord", erwiderte Snape und erhob sich. Am liebsten wäre er sofort verschwunden, aber das war natürlich völlig unmöglich.

Severus betrat die Ruine. Nachdem er einige Steinstufen hinabgestiegen war, befand er sich in einem Kellergewölbe, das von einigen Fackeln erhellt wurde und in dem ein ohrenbetäubender Lärm herrschte. Fünf betrunkene Zauberer fielen über eine wehrlose junge Muggelfrau her, die bereits blutüberströmt und schreiend am Boden lag. Plötzlich begann die Frau sich in Krämpfen zu winden. Das Atmen fiel ihr immer schwerer und ihr voller Entsetzen und Todesangst umherirrender Blick traf den von Severus. Dann brach sie zusammen und rührte sich nicht mehr.
"Du has-di-wedde-gewonn-Gip", lallte einer der Betrunkenen, "dache,-ie-machs-nch-n-bisschn-länger."
"Ne, ne, Con", erwiderte ein Anderer, "das Gift wirkt auf die Minute, echt dolles Zeug, nur schade, dass wir jetzt nix mehr von der Puppe ham."
"Mach' dir nis draus, gibt noch genug Anderer, lass uns noch einen trinken", sagte ein Dritter.

Snape drehte sich um, um das Gewölbe zu verlassen, sein Gesicht zur gleichgültigen Maske erstarrt. Hinter ihm erklang das hohe grässliche Lachen Voldemorts. In den schlangengleichen Gesichtszügen spiegelte sich unverhohlenes Vergnügen wieder. Eine knochige, langfingrige Hand legte sich auf Snapes Schulter. "Nun, Severus, hast du diese kleine Vorstellung genossen?"
"Ich habe nichts anderes erwartet, was die Wirkung meines Giftes anbelangt", erwiderte Snape mit öliger, ausdrucksloser Stimme.
"So pflege ich meine Fußsoldaten zu unterhalten", fuhr die hohe, kalte Stimme fort, "man muss ihnen hin und wieder etwas bieten, nicht wahr? Außerdem habe ich den Nebeneffekt, dass ich das Gift vor seiner endgültigen Bestimmung testen kann."
"Wenn ich einen Zaubertrank liefere, ist ein Test überflüssig", erwiderte Snape mit erhobenem Kopf, den Blick des Dunklen Lords mit seinen schwarzen Augen festhaltend.
"Severus, Severus, immer noch der selbe Stolz, wie früher. Einerseits schätze ich das an dir. Andererseits..." Ein verschlagenes Grinsen zeigte sich auf Voldemorts Gesicht, als er plötzlich den Zauberstab hob und ihn auf Snapes Brust richtete, "brauchst du noch eine Lektion in wahrer Dankbarkeit und Unterwerfung. Crucio!"
Snape hatte sich innerlich auf den Fluch eingestellt, als er das Grinsen auf dem Gesicht des Dunklen Lords gesehen hatte, doch gegen den Cruciatus-Fluch konnte man sich nicht wirklich wappnen. Mittlerweile hatte er jedoch eine Technik entwickelt, mit der er wenigstens einen Teil der Wirkung abblocken konnte, ohne, dass Voldemort es merkte. Trotzdem waren die Wellen des Schmerzes, die durch seinen Körper wogten, kaum zu ertragen. Severus presste seine Zähne fest zusammen, um nicht zu schreien. Diese Genugtuung würde er dem Dunklen Lord nicht geben. Snape ließ sich auf die Knie fallen, den Blick jedoch immer noch fest auf das Reptiliengesicht Voldemorts gerichtet. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Wurmschwanz, der wieder hinter Voldemort stand, hämisch grinste. In diesem Augenblick hob der Dunkle Lord seinen Zauberstab und die Wirkung des Fluches war aufgehoben.
"Und jetzt geh'!", sagte die kalte Stimme. "Du wirst weitere Aufträge erhalten. Und noch etwas", fügte er hinzu, als Snape sich schon abgewandt hatte, "dein Freund Lucius Malfoy wird schon bald wieder unter uns sein. Von euch Beiden zusammen erwarte ich große Dinge, vor allem werdet ihr Beide dafür sorgen, dass ich endlich Potter in die Hände bekomme."
"Danke, mein Lord", sagte Snape und verließ gemessenen Schrittes das Gewölbe.

Als er im Freien war, disapparierte er. Nachdem er seine Schutzzauber entfernt hatte, betrat er die Wohnung. Erschöpft ließ er sich in einen Sessel fallen. Trotz der lauen Augustnacht schauderte er. Immer wieder sah er die entsetzten Augen der jungen Frau vor sich und er wusste, dass sie ihn noch lange verfolgen würden. Er begann, am ganzen Körper zu zittern. Sein Magen zog sich krampfartig zusammen und immer wieder musste er denken: 'Sie ist durch dein Gift gestorben, du hast sie umgebracht!' Auch die Nachwirkungen des Cruciatus-Fluches spürte er an jeder Körperstelle, aber das war das geringere Problem, der Dunkle Lord hatte den Fluch nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder aufgehoben. Plötzlich hörte Severus ein leises Klopfen an der Fensterscheibe. Das konnte nur Gawyn, sein schwarzer Kolkrabe, sein. Severus erhob sich mit zitternden Knien und öffnete das Fenster. Der Rabe erhob sich von der Fensterbank und ließ sich auf Severus' linker Schulter nieder. Er schmiegte sich fest an die Wange des Mannes und knabberte spielerisch an seiner Nase. Voller Dankbarkeit strich Severus dem Vogel zärtlich über das zerzauste Gefieder. "Mein Freund", flüsterte er fast unhörbar. Der Rabe war nun schon fast fünfzehn Jahre bei ihm. Severus hatte ihn eines Tages mit gebrochenem Flügel im Verbotenen Wald von Hogwarts gefunden. Nachdem Severus ihn gesund gepflegt hatte, war der Vogel bei ihm geblieben.
Nach einer Weile erhob sich Severus und ging zu dem Regal mit den Zaubertrankfläschchen. Er nahm eine Phiole mit der Aufschrift "Zaubertrank für einen traumlosen Schlaf". Nachdem er sie entkorkt hatte, trank er den ganzen Inhalt in einem Zug aus. Er hoffte, wenigstens für einige Stunden vergessen zu können.

***


Als Harry, Ron, Hermine und Ginny die düstere rauchgeschwärzte Küche betraten, räumte Bill Weasley gerade alle möglichen Dokumente vom Tisch. Mrs. Weasley war am Herd beschäftigt und einige Leute, die Harry zunächst nicht erkennen konnte, unterhielten sich.
"Hallo Harry!" Professor Dumbledore war auf ihn zugetreten und schüttelte ihm die Hand. "Ich hoffe, du hattest erträgliche Ferien, bis jetzt."
"Danke, schon in Ordnung, Professor", entgegnete Harry, "ich möchte mit Ihnen sprechen."
"Ja, Harry, was kann ich für dich tun?"
"Ich habe ein Recht darauf, an den Besprechungen des Ordens teil zu nehmen, Professor! Denken Sie an die Prophezeiung. Sirius könnte noch leben, wenn ich von Anfang an über die Pläne Voldemorts Bescheid gewusst hätte!"
Dumbledore nickte traurig. "Grundsätzlich gebe ich dir Recht, Harry, aber denk an die Verbindung, die zwischen dir und Voldemort besteht. Solange du nicht Okklumentik sicher beherrschst, ist es zu gefährlich, dich alles wissen zu lassen, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass dann Voldemort auch über all unsere Pläne Bescheid wüsste."
Widerwillig musste Harry sich eingestehen, dass dieses Argument nicht von der Hand zu weisen war.
"Ich werde darüber nachdenken, wer dich weiter unterrichten könnte. Morgen sprechen wir darüber."
"Bitte, erzählen Sie mir, was in den letzten vier Wochen wirklich passiert ist, Professor!"
"Von dem Angriff auf den Fuchsbau hast du sicher schon gehört", begann Dumbledore. Harry nickte traurig. "Außerdem hat es einige grausame Morde an Muggeln gegeben, die mit Sicherheit auf das Konto der Todesser gehen. Und es gab schon mehrere Zwischenfälle mit Dementoren. Insgesamt sind ihnen schon drei Zauberer, vier Hexen, fünf Kinder und mehrere erwachsene Muggel zum Opfer gefallen."
Harry schauderte bei dieser Vorstellung.
"Voldemort versucht jetzt, die Kobolde auf seine Seite zu ziehen", fuhr Dumbledore fort. "Glücklicherweise hat er damit noch nicht viel Erfolg, aber wir müssen sehr wachsam sein. Malfoy und seine Kumpane sind bis jetzt noch im Gewahrsam der Auroren, aber es ist eine Frage der Zeit, bis sie wieder frei sind. Es hat sich bis jetzt sehr schwierig gestaltet, näheres über Voldemorts Pläne in Erfahrung zu bringen. Das wäre alles, was ich dir sagen kann, kurz zusammengefasst."
Dumbledore machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: "Und da ist noch das Erbe, über das ich mit dir sprechen muss.!
"Über welches Erbe", fragte Harry verständnislos.
"Dein Pate hat mich zu seinem Testamentsvollstrecker bestimmt."
Harry verzog schmerzlich das Gesicht. Er war nicht sicher, ob er das, was jetzt kam, überhaupt hören wollte.
"Sirius hat dich zu seinem einzigen Erben bestimmt", fuhr Dumbledore fort.
"Was bedeutet das?" Harrys Stimme zitterte leicht.
"Natürlich der Inhalt des Gringotts-Verlieses siebenhundertelf, einige weitere Ländereien und natürlich dieses Haus hier. Bis zu deiner Volljährigkeit werde ich dein Erbe verwalten. Für dich wird sich erst einmal nichts ändern, ich finde aber trotzdem, dass du Bescheid wissen solltest. Zurzeit gibt es auch noch einige Probleme. Narcissa Malfoy versucht, das Erbe für sich zu beanspruchen. Es wird noch einen Prozess vor dem Zauberergerichtshof für Zivilangelegenheiten geben. Ein Termin ist aber noch nicht festgelegt."
Harry sah Dumbledore mit einem gequälten Blick an. Er hatte keine Lust mehr, weiter darüber zu sprechen. Warum hatte der Schulleiter nur dieses schmerzhafte Thema angeschnitten? Aber hatte Harry nicht selbst danach verlangt, informiert zu werden?
"Mehr gibt es jetzt nicht dazu zu sagen", fuhr Dumbledore fort, "ich muss jetzt gehen, Harry." Er schüttelte Harry die Hand und verließ die Küche.

In diesem Moment gab es einen lauten Knall und aus dem Topf, in dem Mrs. Weasley gerade gerührt hatte, stieg eine gelbe Stichflamme auf, Mrs. Weasley konnte gerade noch zurückspringen. Moody, der im Hintergrund gestanden hatte, sprang vor und löschte die Flamme mit seinem Zauberstab. Mrs. Weasley, die nun völlig die Nerven verlor, begann haltlos zu schluchzen. Professor Fenwick, die, wie Bill, damit beschäftigt gewesen war, irgendwelche Unterlagen zu sortieren, ging langsam zu ihr und nahm sie zärtlich in die Arme. "Molly", flüsterte sie sanft, "beruhige dich! Arthur wird bestimmt gleich kommen. Wahrscheinlich ist er einfach nur im Ministerium aufgehalten worden. Setz dich." Nachdem sie Mrs. Weasley noch eine Weile im Arm gehalten und ihr beruhigend über den Rücken gestrichen hatte, führte sie die ältere Frau zu einem Stuhl und drückte sie sanft hinein. "Ich werd' mich selbst um das Abendessen kümmern", fügte sie hinzu. Mrs. Weasley warf ihr einen dankbaren Blick zu, als Professor Fenwick sich dem Herd zuwandte.
"Hat jemand etwas gegen Pizza?", fragte sie munter in die Runde. "Meine Mutter war Italienerin. Ich bin zwar keine gute Köchin, aber das habe ich doch von ihr gelernt." Ein paar Schlenker mit dem Zauberstab und zwei große belegte Bleche kamen aus dem Backofen.

Eine halbe Stunde später, sie waren mit dem Essen schon fast fertig, ging die Hausglocke und Arthur Weasley kam endlich herein.
"Arthur, wo hast du nur so lange gesteckt?" Mrs. Weasley war aufgesprungen und ihrem Mann entgegengelaufen.
"Ich wurde im Ministerium aufgehalten", erklärte er, "in letzter Zeit ist alles etwas konfus dort, ständig andere Anweisungen, ständig Neubesetzungen der Abteilungen. Nur bei den Auroren scheinen sie eine Ausnahme zu machen, die werden nicht so rumgewirbelt. So, jetzt hab' ich aber einen Bärenhunger", verkündete er und setzte sich Harry gegenüber an den großen Tisch.

Der Abend verlief ohne weitere Ereignisse und, nachdem Harry, Ron, Ginny und Hermine sich noch lange unterhalten hatten, legten sie sich schließlich schlafen. Harry hatte sich noch immer nicht dazu überwinden können, seinen Freunden vom Inhalt der Prophezeiung zu erzählen.

 Kapitel 1

 Kapitel 3

 

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