Gefangen

 

 

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Kapitel 3: Die vielen Gesichter des Todes

 



Mit einem übelkeitserregenden Geräusch schnitt die Klinge durch Fleisch und Knochen und traf schließlich dumpf auf der Steinplatte auf. Blut spritzte. Wieder Trommelwirbel. Warme, scharlachrote Tropfen regneten auf sein Gesicht nieder. Der Geschmack von Salz, als seine Zunge über trockene Lippen glitt. Merkwürdig. Er konnte noch immer fühlen und schmecken. Wie war das möglich? War er ein Geist? Er fühlte keine Schmerzen mehr, nur eine seltsame Gefühllosigkeit in seinem ganzen Körper. Aber als Geist sollte er nicht den Druck der eisernen Fesseln spüren, oder? Irgendetwas stimmte hier nicht. Nein, ganz bestimmt nicht. Konnte er es wagen seine Augen zu öffnen?

Auf der grauen Steinoberfläche hatte sich eine Lache von Blut angesammelt, sein Blut, und es wurde ständig mehr. Aber sein Hals schien noch immer mit seinem Körper verbunden zu sein ...

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Es ging gar nicht um Tod und Enthauptung. Nein. Sie hatten seinen Unterarm abgehackt, den mit dem Dunklen Mal. Unwiderruflich das Band zertrennt ... Nicht, dass ihm letzteres viel ausmachte. Er hatte sich so oft verzweifelt gewünscht, dass das Mal verschwinden würde. Aber nicht - so.

Mit der Erkenntnis kam der Schmerz. Er schoss wie ein feuriges Schwert seinen Arm hinauf bis in die Schulter, stach, schnitt und brannte, alles auf einmal. Und er verlor noch immer Blut, viel Blut. Die ständig wachsende Lache hatte inzwischen sein Gesicht erreicht, so dass er anfing sich zu fragen, ob er in seinem eigenen Blut ertrinken musste. Er stöhnte. Wenngleich, zu verbluten war vielleicht nicht die schlimmste Art zu sterben. Der Schmerz würde langsam abebben und durch eine bleierne Müdigkeit ersetzt werden, bevor er in tiefe Dunkelheit versank, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Wie eine niederbrennende Kerze. Vielleicht war da sogar ein flüchtiger Moment des Friedens ...

"Seht den Verräter!" Wieder die Stimme des Dunklen Lords, die gnadenlos durch seine stummen Überlegungen schnitt. "Und hier seht Peter Pettigrew, der seinem Herrn und Meister freiwillig seine Hand darbot, ein Opfer für einen höheren, heiligen Zweck. Als Belohnung erhielt er diese großartige und mächtige Hand aus magischem Stahl. Seht sie euch an! Ist sie nicht herrlich? Ein außergewöhnliches Geschenk für den treusten Diener. - Der Verräter aber wird nichts bekommen als den Schmerz!"

Die letzten Worte schallten bedrohlich durch den Raum und hallten in Severus Kopf wieder. Schmerz. Das grausame Spiel war also noch nicht vorbei. Was würde als nächstes kommen?

Mit seinem Zauberstab berührte Voldemort Wurmschwanzs magische Hand. Sofort begann sie mit stetig zunehmender Intensität zu glühen. Knisternde Hitzewellen gingen von ihr aus. Langsam näherte sich die Ratte dem blutbespritzten Steintisch. Schon konnte Severus die Hitze spüren. Es war als stände er direkt vor einem offenen Hochofen. Als der erkahlende Zauberer neben ihm zu stehen kam, sengte die Hitze fast sein Haar an. Jetzt würde etwas wirklich grauenvolle passieren, das wusste er. Als ob er nicht schon genug erlitten hätte. Wie er sich nach einer Pause sehnte, nach Vergessen, sogar nach dem Tod. Aber er würde nicht kommen - noch nicht. Er versuchte sich gegen die Schmerzen zu stählen, die ihm zweifelsohne gleich zugefügt würden, aber er hatte keine Kraft mehr in seinem so übel zugerichteten Körper. Er war sogar zu erschöpft, um seine Augen offen zu halten.

Vage nahm er eine Bewegung wahr, dort wo sein linker Arm - oder eher das, was davon übrig war - an die Steinplatte gekettet war. Dann folgten unerträgliche Schmerzen. Und der Geruch von verbranntem Fleisch. Er schrie laut auf, als Pettigrew seine rotglühende Klaue gegen den blutenden Armstumpf presste, schrie und schrie bis er endlich in gnädigem Vergessen versank.

***



Als Severus aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, war er wieder im Kerker. Derselbe kalte Steinboden, dieselbe moderige Luft. Aber jetzt erreichten einige wenige Strahlen von Herbstsonne den Boden seiner Zelle. Und da war ein unbekannter Geruch ... Er erinnerte ihn an etwas, aber er konnte die Erinnerung nicht greifen. Was war es nur? Es war ... der Geruch von verbranntem Fleisch, seinem Fleisch. Er würgte, als die Bilder der grauenvollen Tortur seine bewusste Erinnerung bestürmten. Sein Arm. Der brennende Schmerz. Die Schreie ...

Erstaunlicherweise war der Schmerz momentan gar nicht so schlimm. So lange er sich nicht bewegte, fühlte er nicht viel mehr als stumpfe, klopfende Stiche in seinem linken Arm. Seine Knie taten auch weh. Aber es war erträglich im Vergleich zu - dem anderen Schmerz. Er wollte jetzt nicht daran denken. Wollte nicht auf seinen verstümmelten Arm sehen. War es wirklich passiert? Oder war es nur die kranke Einbildung eines halluzinierenden Geistes? Vielleicht hatte er nur einen fürchterlichen Alptraum, und er würde bald in seinem weichen und warmen Bett in seinem vertrauten Kerker in Hogwarts aufwachen. Er würde eine Tasse starken schwarzen Tees trinken, während er im Bett den Tagespropheten las, und dann würde er darüber nachdenken, ob er in der Großen Halle oder lieber in seinem Zimmer frühstücken wollte. Vielleicht besser Letzteres. Er fühlte sich heute nicht besonders, war auch nicht wirklich hungrig, und schon gar nicht dazu bereit, all diesen nervtötenden Dummköpfen zu begegnen, bevor er nicht dazu gezwungen war - im Klassenzimmer. Aber eine zweite Tasse Tee wäre nett. Er war fürchterlich durstig. Sein Hals und seine Lippen fühlten sich trocken und wund an. Er musste nur nach der kleinen Glocke greifen, die auf seinem Nachttisch stand, und damit einen Hauselfen herbeirufen ...

Die Bewegung und die daraus resultierenden Schmerzen brachten ihn jäh zurück in die trostlose Realität. Wurde er langsam wahnsinnig? War dies der Anfang des Deliriums? Er fühlte sich heiß an, fiebrig, aber zur gleichen Zeit ließ ihn die Kälte zittern. Vielleicht hatte er nur eine böse Grippe und würde jeden Moment im Krankenflügel erwachen und alles war nur ein schrecklicher Fiebertraum? Er hatte den Krankenflügel immer gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Und glücklicherweise war er fast niemals krank. Wenn er doch einmal krank war, dann hatte er seine eigenen Vorräte an Heiltränken und -salben und wusste, wie er sie anwenden musste. Aber jetzt würde er alles geben für einen einzigen Blick in Poppy Pomfreys haselnussbraune Augen ...

Ob sie in der Schule inzwischen bemerkt hatten, dass er fort war? Vielleicht nicht. Es war Freitag Abend gewesen, als er dem falschen Potter in den Verbotenen Wald gefolgt war. Und da er nie ein übertrieben sozialer Mensch gewesen war und es schon immer vorgezogen hatte, seine Wochenenden alleine in seinem Studierzimmer zu verbringen, würde ihn wahrscheinlich noch niemand vermissen. Die Schüler würden sicherlich in Freudentaumel verfallen, sobald sie nach dem Wochenende vom mysteriösen Verschwinden ihres meistgehassten Lehrers hörten. Welcher Tag war überhaupt? Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war. War es noch Samstag, oder bereits Sonntag? Seine erste Stunde am Montag Morgen war eine Doppelstunde Zaubertränke mit den Sechstklässlern, alle Häuser zusammen. Seine unfallträchtigste Klasse, nachdem die Weasley-Zwillinge letzten Sommer so spektakulär abgegangen waren. Kein großer Verlust, wenn man ihn fragte. Nicht dumm, aber hoffnungslose Unruhestifter. Wenn er nicht unablässig so aufmerksam gewesen wäre, hätten sie bestimmt regelmäßig seine Kerker in die Luft gejagt, wenn nicht sogar die ganze Schule. Blieb noch Neville Longbottom, der Fluch seines Lebens. Warum der Direktor ihn buchstäblich dazu gezwungen hatte, diese hirnlose Entschuldigung für einen Zauberer trotz seiner grottenschlechten Zensuren zu seinem Fortgeschrittenenunterricht zuzulassen, war ihm ein Rätsel. Vielleicht steckte die Großmutter des Jungen, eine alte Bekannte Dumbledores, dahinter.

Longbottom war wirklich ausgezeichnet mit Pflanzen, hatte die buchstäblich grünen Hände, und wenn Kräuter beim Brauen der Zaubertränke eine Rolle spielten, wusste er eine Menge über ihre Eigenschaften und wie sie verwendet wurden. Aber ließ man ihn auch nur in die Nähe eines Kessels kommen, geschahen die unangenehmsten Dinge. Wie durch ein Wunder hatte sich bisher noch kein fataler Unfall ereignet - noch nicht jedenfalls. Der ständige Krieg zwischen den Slytherins und Gryffindors half auch nicht viel. Harry Potter und Draco Malfoy in ein und derselben Klasse war schlimm genug. Fügte man noch Hermine Granger, diese unerträgliche Frau Neunmalklug, zu dieser explosiven Mischung hinzu, dann war das Ergebnis zweifellos tödlich für den Geisteszustand eines jeden Lehrers. Zumindest in einem Zaubertränke-Klassenraum. Nein. Die Schüler würden ihn bestimmt nicht vermissen.

Würde ihn überhaupt jemand vermissen? Möglicherweise nicht. Sie würden Snape, den Spion, vermissen, aber nicht den Menschen. Und er konnte es ihnen nicht mal verübeln. Er war ein unausstehlicher Bastard. Wenn es nur nicht so kalt hier wäre. Er konnte fast fühlen, wie seine Haut blau anlief. Und nichts zu trinken. Vielleicht hatten sie ihn vergessen? Wie lange würde es dauern, bis er verdurstete? Drei Tage? Nein, sicher weniger, wo er so viel Blut verloren hatte. Aber was, wenn er wahnsinnig vor Durst anfing, die Feuchtigkeit von den Kerkerwänden zu lecken? Er hatte von Menschen gehört, die bei einem Erdbeben verschüttet worden waren und so viele Tage lang überlebt hatten. Die Kälte würde ihn wohl zuerst umbringen. Es konnten hier drinnen kaum mehr als 8°C sein. Wenn überhaupt. Wie lange konnte man ohne Mantel oder Decke solche Temperaturen überstehen? Und er hatte ja nicht einmal ein Hemd. Ein paar Tage vielleicht?

Sein Kopf schmerzte von all diesen ‚Vielleichts' und dem schnell ansteigenden Fieber. Am besten an gar nichts denken, den Kopf von allen Gedanken und Emotionen befreien. Er konnte das. Als Spion hatte er es unzählige Male gemacht. Als Spion für Dumbledore. Dumbledore mit den blitzenden blauen Augen. Vielleicht würde der ihn vermissen. Der alte Zauberer hatte ein Herz für fast jede Kreatur, sogar für einen verbitterten und verkorksten Ex-Todesser. Ja, der Direktor würde ihn vermissen. Und mit dem Bildnis Albus Dumbledores vor seinem inneren Auge fiel Severus in einen fiebrigen Schlaf.

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Fortsetzung folgt ...



 

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