Kinder der Nacht

 

 

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Kapitel 11: Der Fremde im Spiegel 

 

"So... und noch zwei Sprossen von diesem hier... und ein Tropfen von dem..." Wie immer, wenn Severus Snape an einem Trank arbeitete, war er höchst konzentriert. An diesem Abend jedoch fiel es ihm schwerer als sonst. Seine Hände zitterten, er schwitzte stark und sein Mund fühlte sich pelzig und trocken an. Verdammt, warum ging das denn nicht ein wenig schneller? Er brauchte das Zeug, brauchte es jetzt, oder er würde wahnsinnig werden. Dabei hatte er gedacht, er könnte ohne diesen Trank, den "Blauen Traum", wie er ihn selbst getauft hatte, auskommen.

Es war nun beinahe eine volle Woche gutgegangen. Der Tod seiner Mutter, sein Zusammenbruch, Voldemorts Auftrag - das alles hatte ihn viel zu sehr in Anspruch genommen. Genaugenommen hatte er nicht einmal mehr daran gedacht, sich einen neuen Kessel voll zu brauen. Als er heute jedoch nach Hause gekommen war und feststellen musste, dass seine Flasche leer war, war ihm der kalte Schweiß ausgebrochen. Natürlich war er nicht süchtig. Süchtige schafften es nicht, eine Woche ohne auch nur die geringste Dosis auszukommen. Zumindest glaubte er das. Was er suchte war lediglich ein Moment der Entspannung und des Vergessens. Mit Sucht hatte das nicht das Geringste zu tun. So hatte er sich also aufgerafft, die Zutaten zusammengesucht und mit der Zubereitung begonnen.

Als er endlich fertig war, nahm er sich nicht einmal mehr die Zeit, das Gebräu ordentlich in eine Flasche abzufüllen. Stattdessen griff er nach einem Becher, tauchte ihn in den Kessel und leerte schließlich den Inhalt mit einem einzigen, tiefen Zug. Er schmeckte widerlich, da er den Süßstoff vergessen hatte, doch es kümmerte ihn nicht. Hauptsache, es wirkte. Völlig erschöpft ließ er sich auf sein ungemachtes Bett fallen und schloss die Augen. Er spürte, wie der Trank langsam begann, ihn mit sich fortzutragen, ihn mitzunehmen an einen noch unbekannten Ort.

***



Er saß in Florean Fortescue's Eissalon und wartete. Es war Sommer und ungewöhnlich heiß, trotzdem trug er einen dicken, schwarzen Umhang, der ihn beinahe zu ersticken drohte. Die Luft flimmerte und ihm wurde schwindlig. Hoffentlich würde sie bald kommen. Lange würde er es hier nicht mehr aushalten. Die Straßen waren menschenleer, kein Laut drang an sein Ohr, selbst im Café schien er der einzige Gast zu sein. Eine unendliche Leere breitete sich in ihm aus. Warum kam sie nicht? Er fühlte sich einsam, und verlassen. Alle waren weg. Seine Freunde, seine Familie - ja, selbst Florean Fortescue war verschwunden. Aber sie hatte versprochen, dass sie kommen würde. Hatte gesagt, dass sie einander hatten, auch wenn niemand sonst mehr da war. Und nun hatte sie ihn in Stich gelassen, genauso wie die anderen.

Die Hitze wurde immer unerträglicher, doch er legte kein einziges Kleidungsstück ab. Gleich, gleich würde er ersticken, erdrückt werden von den glutartigen Temperaturen. Da kam plötzlich etwas die menschenleere Straße entlanggekrochen. Schnell und immer schneller wand es sich durch den Staub. Es war eine Schlange, eine schwarze Natter. Giftig, stellte Severus analytischer Geist fest. Ein Biss dieses Tieres und das Opfer starb binnen weniger als fünf Minuten - unter furchtbaren Qualen. Die Schlange kam immer näher, kroch direkt auf den Tisch zu, an dem er saß. Er wollte aufstehen und weglaufen, doch er konnte nicht. Es war viel zu heiß, die Hitze lähmte seine Glieder und machte ihn bewegungslos. Als er seinen Mund öffnete, um zu schreien, kam kein Laut hervor. Seine Kehle war vollkommen ausgedörrt, sein Rachen brannte und seine Lippen waren trocken und rissig. Jetzt war die Natter nur noch wenige Meter von ihm entfernt. 'Wenn doch nur Christine endlich kommen würde', dachte er in einem Anflug von Verzweiflung. Es war ihre Schuld. Sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten und nun würde die Schlange kommen und ihn töten.

Jetzt war sie direkt vor ihm, richtete ihren Körper auf und bewegte den Kopf rhythmisch hin und her. Severus folgte ihren Bewegungen, unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Höher und immer höher streckte sich die Schlange, kam seinem Gesicht immer näher. Ihr Blick war starr und hypnotisch, die Augen kalt und leer - zwei endlose schwarze Tunnel. Es konnten nur noch Sekunden sein, bis sie endlich zubeißen würde, ihre spitzen Zähne in seine Haut graben würde.

Er spürte keinen Schmerz, als es geschah, nur eine seltsame Benommenheit. Mit einem Mal war die Hitze verschwunden und es wurde eiskalt. Er sah auf seinen Unterarm, zu der Stelle, an der ihn die Schlange gebissen hatte. Nichts war zu sehen außer zwei dunkelrote Blutstropfen, die auf die weiße Tischplatte tropften. Der Anblick kam ihm seltsam vertraut, ja, beinahe tröstlich vor.

Doch dann wurde das Blut immer mehr, bedeckte zuerst das Weiß und begann schließlich auf den Boden zu tropfen. Immer und immer mehr Blut spritze aus der Wunde, überflutete Florean Fortescue's Eissalon und nach und nach die gesamte Szenerie. Bald gab es keine Farben mehr, nur noch Rot. Überall Rot. Und inmitten all dessen Severus Snape, der einen letzten Blick auf diese Welt warf - durch einen Schleier von Blut.

***



Er öffnete die Augen und blinzelte. Das Licht, das er unglücklicherweise vergessen hatte, zu löschen, bevor er den Trank genommen hatte, blendete ihn. Warum musste das Zeug nur so verdammt lichtempfindlich machen? Überhaupt schien es heute nicht so richtig funktioniert zu haben... Wenn er an sein Traumerlebnis dachte, lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Er verspürte plötzlich das starke Bedürfnis, sich zuzudecken und das Laken bis zum Kinn hinaufzuziehen. Die Hitze, die Schlange, das Blut... Was hatte das alles zu bedeuten?

Er musste irgendeine Zutat vergessen haben, das war offensichtlich. Der "Blaue Traum" hätte ihm ein paar schöne Augenblicke bereiten sollen, stattdessen hatte er ihm eine Stunde voll Schrecken beschert. Eigentlich hatte er vergessen wollen, doch nachdem er diesen seltsamen Traum gehabt hatte, erschien ihm alles noch viel schmerzhafter als zuvor.

Dabei hatte der Tag wirklich gut angefangen, zumindest besser als die meisten anderen in seinem miserablen Leben. Zwar waren seine Probleme nicht weniger geworden, ganz im Gegenteil, aber es war etwas in sein Dasein getreten, auf das er sich freuen konnte: Er würde Christine wiedersehen.

Noch drei Tage - drei Tage, die sie zusammen verbringen konnten. Dann würde es vorbei sein. Natürlich hatte er ihr nichts davon erzählt. Mit keinem Wort hatte er in der vergangenen Nacht seinen Auftrag erwähnt. Es erschien ihm nicht wichtig, was morgen sein würde. Was einzig und allein zählte war das Hier und Jetzt. Die Gegenwart gehörte ihnen, Oliver war fort und es gab nichts auf dieser Welt, was sie noch hätte voneinander trennen können. Das hatte sie selbst gesagt. Und hinzugefügt, dass sie ihn wiedersehen, mit ihm zusammensein wollte, so lange es nur möglich war. Einmal nur wollten sie so tun, als wären sie wie alle anderen: unschuldig und frei.

Deshalb hatten sie beschlossen, sich in Florean Fortecue's Eissalon in der Dragon Alley zu treffen. So wie es die meisten anderen jungen Hexen und Zauberer auch taten. Einfach nur an einem der gemütlichen kleinen Tische sitzen, Tee oder italienischen Kaffee trinken und reden.

Es hätte in der Tat ein ganz außergewöhnlicher Tag werden können - wenn Christine nur gekommen wäre. Alles war im Grunde haargenau so gewesen, wie er es in seinem Traum noch einmal hatte erleben müssen. Mit dem Unterschied, dass es nicht Sommer und sehr heiß sondern Winter und bitterkalt gewesen war. Natürlich war auch die Dragon Alley nicht entvölkert sondern voll von Zauberern gewesen, die bereits die ersten Weihnachtseinkäufe tätigten. Auch eine Schlange war natürlich nicht aufgetaucht, stattdessen jene seltsame, einäugige Eule, die ihm schon einmal eine folgenreiche Botschaft überbracht hatte. Die Wirkung jedoch, das Entsetzen, waren die gleichen gewesen.

Severus spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Konnte eine Woche ohne dieses verdammte Zeug wirklich solche Nebenwirkungen hervorrufen? Er versuchte seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, doch es gelang ihm nicht. Der leicht säuerliche Geschmack in seinem Mund wurde immer stärker, bis er schließlich aufsprang und ins Bad rannte, um sich zu übergeben. Er wusste nicht, wie lange er über der Toilette hing und würgte, doch es fühlte sich an wie mehrere Stunden. Dabei hatte er seit mindestens vier Tagen keinen Bissen mehr zu sich genommen. Vielleicht, überlegte er, war das auch der Grund für seine ungewöhnlich heftige Reaktion auf den "Blauen Traum". Als es endlich vorbei war, ließ er sich zitternd gegen die Wand sinken und schloss für einen Moment die Augen.

Christine... warum hatte sie ihm das nur angetan? Obwohl er ihren Brief nur ein einziges Mal gelesen hatte, kannte er dessen Wortlaut auswendig :

***



Lieber Sev

Dieser Brief ist ein Abschiedsbrief. Was wir gestern getan haben, war falsch, das weiß ich jetzt. Ich hätte niemals auf die Lichtung zurückkehren, hätte dich niemals küssen dürfen. Es war ein Fehler und ich bereue ihn aus tiefstem Herzen.

Wie du nur zu gut weißt, bin ich eine verheiratete Frau. Ich liebe Oliver, habe ihn immer geliebt und werde ihn immer lieben. Welcher Art die Gefühle auch immer sein mögen, die du mir entgegenbringst, ich kann dir gegenüber nicht mehr empfinden als die Freundschaft, die uns schon seit unserer Schulzeit verbindet.

Ich bin mir sicher, du wirst mir zustimmen, wenn ich dir sage, dass die unglücklichen Ereignisse der letzten Nacht nichts als ein Produkt plötzlich aufflammender, kopfloser Leidenschaft waren. Die vorangegangene Aufregung muss unsere Nerven überstrapaziert und unseren Verstand ausgeschalten haben, anders kann ich mir unser Verhalten nicht erklären.

Während Olivers Abwesenheit werde ich nicht zuhause sein und es hat auch keinen Sinn, nach mir zu suchen.

Wir sehen uns,

Christine Lestrange


***



Es war ein kalter, unpersönlicher Brief, gerade so, als ob es alles, was vorher gewesen war, nie gegeben hätte. Was war nur geschehen? Warum tat sie ihm das an? Er ließ seinen Kopf auf die Knie sinken. Jetzt hatte ihn auch der letzte Mensch verlassen, der ihm jemals etwas bedeutet hatte - vielleicht sogar am meisten von allen. War es seine Schuld? Hatte er irgendetwas gesagt oder getan, um sie gegen sich aufzubringen? Oder war es wirklich so, wie sie in dem Brief schrieb: Sah sie das Ganze als einen einzigen großen Fehler an?

Fragen über Fragen und keine Antwort. Seufzend stand er etwas mühsam auf und ging zum Waschbecken, um sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Am Besten war es wohl, wenn er jetzt ins Bett ginge. Auch, wenn er ohnehin nicht würde schlafen können. Sicher, er hätte nur eine Dosis von seinem Schlaftrank einnehmen müssen, doch nach dem eher unerfreulichen Erlebnis mit dem "Blauen Traum" war es wohl besser, er verzichtete für eine Weile auf alle Mittel dieser Art. Zumindest bis zum nächsten Morgen.

Gerade wollte er zurück in sein Wohn- und Schlafzimmer gehen, als sein Blick geradezu zwanghaft auf den Spiegel gelenkt wurde, der über dem Waschbecken hing. Er konnte nicht anders, er musste hineinsehen. Als er das Gesicht erblickte, das durch das Glas auf ihn zurückstarrte, wäre er beinahe zurückgeschreckt. Der, der ihn da ansah, war ein völlig Fremder, ein Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er war dünn, sehr dünn, wodurch sein Gesicht spitz und kantig wirkte. Seine Haut war nicht nur blass, nein, sie war bleich wie die einer Leiche und hatte eine ungesunde, pergamentartige Färbung. Dieser Eindruck wurde durch seine langen, ungewaschenen Haare noch verstärkt, die ihm in strähnigen Fransen in die Stirn fielen. Das Schlimmste jedoch waren die Augen: Sie lagen in tiefen, dunklen Höhlen und erinnerten an zwei endlose schwarze Tunnel. Die Schlange, dachte er plötzlich, er hat die Augen der Schlange!

Angeekelt wollte er sich abwenden, doch er konnte nicht. Er musste hinsehen, immer und immer wieder. Bis er begriff:

Der Fremde im Spiegel war niemand anderes als er selbst.

 

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