Blutsbande - Kapitel 9: Unsichtbare Bande

 

 

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Kapitel 9: Unsichtbare Bande



Für dieses Schuljahr schien sich Hagrid etwas ganz Besonderes ausgedacht zu haben.
"Ihr werdet Augen machen", versprach er, als die Klasse, wieder einmal bestehend aus Slytherins und Gryffindors, bei den Gehegen eintraf.

Alle stöhnten auf und machten sich schon einmal auf das schlimmste gefasst, doch - oh Wunder - es lauerte kein fünfköpfiger Drache oder sonst ein gefährliches oder glibberiges Etwas auf sie.
Das Gehege, vor dem Hagrid sie alle versammelte, war - völlig leer.

"Ähhhh … Hagrid - was soll das?" Harry befürchtete schon, dass sie jetzt alle in den Wald gehen und potentielles Anschauungsmaterial einsammeln sollten, doch Hagrid grinste nur.

"Da staunt ihr, was? Sind erst vorgestern angekommen - bin schon ganz verliebt in die Kleinen."

"Anscheinend sind sie wohl SEHR klein …", ließ sich Hermine vernehmen. "Ich sehe nämlich nichts!"

"Wie denn auch", meinte Hagrid, als hätte Hermine soeben die Tatsache, dass die Erde rund wäre, als neueste Erkenntnis der Wissenschaft präsentiert. "Oder hast du schon einmal einen Archäopteryx invisibilus gesehen?"

"Hä?", machte Ron und der Rest der Klasse schaute genauso ratlos drein. Hermine begann jedoch zu kichern.

"Hagrid… soll das heißen, du hast hier einen von denen? Hier, im Gehege?"

Er warf sich stolz in die Brust. "Was heißt hier, einen? Ganze fünf Stück hab ich gekauft. Haben stolze 57 Galleonen und 81 Sickel gekostet!"

"Aber Hagrid…" Hermine kicherte noch mehr. "Niemand weiß genau, ob Archäopteryx invisibili überhaupt existieren… bist du sicher, dass sich da niemand einen Scherz mit dir erlaubt hat?"

Die Slytherins hatten schon längst begonnen, hämisch zu grinsen - und auch die Gryffindors verdrehten ihre Augen gen Himmel.

"Ganz toll, wir dürfen also die Pflege von etwas übernehmen, von dem wir nicht einmal wissen, ob es überhaupt vorhanden ist", brachte es Draco Malfoy auf den Punkt - und alles prustete los.

"Wenigstens explodieren, beißen und brennen sie nicht", meinte Ron mit zusammengebissenen Zähnen. "Oder, Hagrid?"


Der Wildhüter kratzte sich etwas ratlos am Kopf. "Woher soll ich das denn wissen, ich seh sie ja nich", meinte er. Dann strahlte sein Gesicht auf. "Aber das können wir ja gemeinsam rauskriegen!"

Pansy hatte eine Handvoll Grashalme ausgerissen und hielt diese jetzt demonstrativ über das Gatter. "Putputput… kommt her, ihr Süßen, es gibt Fressi…"

Natürlich passierte überhaupt nichts und einige der Slytherins wälzten sich jetzt vor Lachen am Boden.

"Hagrid, was fressen die Dinger denn nun wirklich?" Auch Seamus hatte Mühe, ernst zu bleiben.

"Frag mich doch nich so komplizierte Sachen", meinte Hagrid und klang etwas beleidigt. "Ich hab da drüben ein paar Sachen vorbereitet," er wies auf diverse verschiedene Futterstapel, "probierts einfach aus, irgendwas wird ihnen schon schmecken."

Und so gingen sie daran, eine reiche Auswahl verschiedensten Futters in das Gehege mit den Archäopteryx invisibili zu befördern.
Nichts passierte.

"Ich komme mir irgendwie verarscht vor", meinte Draco - und stand mit dieser Meinung nicht alleine.

"Vielleicht sind es ja Fleischfresser", vermutete Ron - und alle wichen einen Meter zurück.

Emily hatte sich mittlerweile ins Gras gesetzt und schaute gelangweilt dem ratlosen Treiben ihrer Mitschüler zu.
"Wenn man keine Probleme hat, macht man sich eben welche", meinte sie verächtlich. "Und wenn absolut keines aufzutreiben ist, muß eben ein unsichtbares herhalten."

"Ach ja, Fräulein Siebengescheit?" Hagrid pflanzte sich drohend vor ihr auf. "Und was sollen wir deiner Meinung nach mit den Viechern machen, wenn du ja anscheinend alles besser weißt?"

Gelangweiltes Schulterzucken. "Ist mir eigentlich ziemlich egal", entgegnete Emily trocken.

"Heute ist sie wieder mal besonders eklig", meinte Neville halblaut zu den anderen. "Und dabei habe ich gerade angefangen, sie zu mögen."

"Dieser wandelnde Müllhaufen McElwood hat ausnahmsweise mal Recht", ließ sich Millicent Bullstrode gnädig zu einem Kommentar herab. "Wen interessiert es, was dieses nicht vorhandene Viehzeugs am liebsten frisst?"
Und mit einer verächtlichen Geste beförderte sie ihren ausgelutschten Kaugummi schwungvoll in das Archäopteryx-Gehege.

Mit überwältigendem Erfolg. Im Gehege entstand plötzlich Bewegung, der Boden schien Wellen zu schlagen. Millicents Kaugummi wurde mehrmals in die Luft geschleudert, bevor er verschwand. Das Ganze wurde von lauten Schnappgeräuschen begleitet - und zum Schluß ertönte ein zufriedener Rülpser.

Hagrid wurde ganz aufgeregt. "Welche Geschmacksrichtung war der Kaugummi?", wollte er wissen, doch Millicent starrte nur fassungslos auf das jetzt wieder still und friedlich daliegende Gehege.

"Wie groß sind die wohl", quiekte Pansy und dachte daran, wie sie ihre Hand mit dem Gras über den Zaun gehalten hatte. "Und wie groß sind ihre Zähne?"

"Mich nervt das Ganze hier!" Emily stand demonstrativ auf. "Ich geh wieder rein, wollte eh noch in der Bibliothek arbeiten. Das hier ist Zeitverschwendung!" Und mit diesen Worten stapfte sie ins Schloß zurück.

Hagrid war sprachlos. Soviel Unverschämtheit hatten noch nicht einmal die Slytherins, die beifällig kicherten, an den Tag zu legen gewagt. "Dann verschwinde, du nervst mich auch", knurrte er.
"Wo habt ihr die bloß aufgelesen?", erkundigte er sich dann bei Harry und seinen Freunden. "Und was will die in Gryffindor? Der Sprechende Hut is wohl besoffen gewesen!"

"Auch die immer so perfekten Gryffindors haben halt ihre Fehler", tönte Draco voller Genugtuung - und die restlichen Gryffindors machten betretene Gesichter.

"Könnt ihr ausrichten, dass sie dafür zwanzig Punkte Abzug kriegt", schnaubte Hagrid. Jetzt schauten alle schon beinahe entsetzt drein, denn es war noch nie dagewesen, dass Hagrid Gryffindor Punkte abgezogen hätte.
"Könnt euch bei ihr bedanken", sagte er noch. Er schien wirklich verärgert zu sein.
"Und die anderen - zurück an die Arbeit! Das ist ein Prüfungsfach, ihr solltet also zusehen, dass ihr bis zum Sommer mit den Archäopteryx-Dingsen umgehen könnt."

Alle stöhnten auf, doch machten sich gehorsam wieder daran, das vermeintlich leere Gehege misstrauisch zu beäugen.

"So langsam ist Emily bei mir unten durch", zischte Lavander. "Ich hab ja irgendwo Verständnis für ihre komischen Probleme, doch sie lässt sich einfach viel zu sehr gehen."
Und auch diese Meinung wurde von den meisten Gryffindors geteilt.



***



Emily dachte gerade Ähnliches. Sie ärgerte sich über sich selbst, als sie alleine in der Bibliothek saß. War das wirklich nötig gewesen? Was konnten die anderen schließlich für ihre Schwierigkeiten? Es war unfair, sie das dann ausbaden zu lassen.
‚Ich muß mich einfach besser zusammenreißen', dachte sie. ‚Und mich bei Hagrid entschuldigen. Hoffentlich hat er uns nicht allzu viele Punkte abgezogen.'

Dann zwang sie ihre Gedanken in andere Bahnen und ging daran, die Regalwände abzusuchen. Sie benötigte ein ganz bestimmtes Buch, doch das war einfach nirgends aufzutreiben.
‚Irgendwo muß doch was drüber zu finden sein', dachte sie verzweifelt. ‚Schließlich ist Lennard auch nicht mit diesem Wissen auf die Welt gekommen!'

Sie zog in Erwägung, Professor Flitwick danach zu fragen, doch der war nicht so sonderlich gut auf sie zu sprechen. Außerdem würde er dann eine Menge Fragen stellen, Fragen, die sie unmöglich beantworten konnte.
"Gottverdammte Bindezauber", fluchte sie. "Hätte ich damals doch nur gewusst, auf was ich mich da einlasse…"

Die nächsten Stunden vergingen, ohne dass Emily fand, wonach sie so verzweifelt suchte. Sie wusste, dass ihr irgendwie nicht mehr viel Zeit blieb, wenn sie Glück hatte, noch bis zum Sommer. Und bis dahin hatte sie noch eine Menge zu tun - und wusste noch nicht einmal, wo sie anfangen sollte.

Sie kam sich langsam so vor wie gerade vorhin bei Hagrids Unterricht - Man wusste zwar, das ETWAS da war, hatte jedoch keine Ahnung, wie man damit umgehen musste. Es war ein blindes Herumstochern im Dunklen. Und Emily hatte noch nicht einmal das Äquivalent zu Millicents Kaugummi finden können.

Schließlich gab sie auf und wandte sich ihrem zweiten Anliegen zu. ‚Wollen doch mal sehen, was die hier so alles über die unverzeihlichen Flüche haben', dachte sie grimmig. Wenn sie doch bloß nicht so furchtbar müde wäre…



***



Beim Abendessen wurde Emily von ihren Hausgenossen ziemlich kühl behandelt.
"Es tut mir leid, wirklich", sagte sie leise, als sie sich zwischen Ron und Hermine an den Tisch setzte. "Ich weiß auch nicht, was da immer über mich kommt, dass ich mich so benehme…"

"Nun, entweder, du lässt dir endlich von irgendwem helfen - oder du benimmst dich so, dass du nicht ständig überall aneckst", entgegnete Hermine abweisend. "Dein ‚Ausrutscher' vorhin bei Hagrid hat uns ja nur zwanzig Punkte gekostet. Kann dir ja egal sein. Aber Hagrid hat es nicht verdient, so behandelt zu werden!"

Die anderen nickten zustimmend.

"Ihr habt ja Recht", sagte Emily kleinlaut. "Und ich gehe nachher auch zu Snape, vielleicht hat der ja was gegen meine Albträume. Wenn ich endlich mal wieder durchschlafen kann, geht's mir sicher besser."

"Wollen wir's hoffen", meinte Hermine etwas freundlicher.

Emily warf einen Blick an den Lehrertisch um zu sehen, welche Laune Snape wohl haben mochte.

"Er scheint sich halbwegs wieder eingekriegt zu haben", sagte Ron, der das bemerkt und Snape ebenfalls prüfend taxiert hatte. "Allerdings würde ich ihn an deiner Stelle heute behandeln, wie ein rohes Ei!"

‚Meine Spezialität', dachte Emily voller Galgenhumor. ‚Scheint heute ja wieder mal absolut mein Tag zu sein.'
Widerwillig zwang sie sich, etwas zu essen. Falls so etwas wie der Cruciatus noch einmal passierte (und sie rechnete eigentlich fest damit), durfte sie nicht mehr so schwach sein, dass er sie kalt erwischen konnte.

Plötzlich merkte sie, dass sie jemand beobachtete. Sie hob den Kopf - und schaute geradeswegs in Professor Snapes unergründliche Augen. Er schaute sie fragend an und sie nickte ganz leicht. Ja, sie würde nachher in sein Büro gehen. Und wenn es sein musste, ihm auch ein paar Dinge erzählen. Sie kam alleine einfach nicht mehr weiter, wie sie sich zähneknirschend eingestehen musste.

Das Abendessen war vorüber und gutgelaunt brachen alle in Richtung ihrer Gemeinschaftsräume auf.
‚Bringen wir's hinter uns', dachte Emily tapfer und schlug den Weg zu den Verließen ein. Diesmal folgten ihr keine aufmunternden Worte von ihren Hausgenossen.

"Hoffentlich kann wenigstens Snape ihr den Kopf etwas zurechtstutzen", meinte Parvati. "Sie ist so ja eine Schande für unser Haus!"

"Übertreib nicht, Parvati", entgegnete Harry. "Sie hat durchaus ihre Qualitäten, sonst wäre sie nicht bei uns."

"Vielleicht war der Sprechende Hut tatsächlich irgendwie daneben, als er sie uns zugeteilt hat", sagte Seamus. "Sie wäre in Slytherin wirklich besser aufgehoben."

"Nee, sie haßt die Slytherins", hielt Ron dagegen.

"Sie haßt anscheinend alle", sagte Hermine nachdenklich. "Für Emily hätte man ein eigenes Haus gründen müssen, nur für sie alleine."

"Sie könnte sich ja dort mit Snape zusammentun, der scheint sie tatsächlich irgendwie zu mögen", spottete Lavander.

"Ich denke eher, in so einem Fall würde es keine drei Tage dauern, und die beiden würden sich gegenseitig den Schädel einschlagen", vermutete Ron und alles lachte.

"Wenn schon, auf diese Weise würde man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen", versetzte Parvati. "Stellt euch mal vor, Hogwarts ohne Emily - und vor allem ohne Snape, welch paradiesische Zustände!"

"Ich fürchte nur, die beiden werden uns noch ne Weile erhalten bleiben", meinte Harry. "Also sehen wir zu, dass wir das Beste draus machen."



***



Professor Snape hatte sich tatsächlich wieder einigermaßen beruhigt. Er hatte beschlossen, dass die Sache mit Laryssa so schon peinlich genug und es eigentlich nicht Wert war, sich darüber aufzuregen. ‚Ich habe mich von ihr die längste Zeit zum Narren machen lassen', beschloß er.

Dann klopfte es zaghaft an die Tür.
"Herein", sagte Snape, wobei er versuchte, nicht all zu abweisend zu klingen. Schließlich konnte die kleine McElwood nichts für seine eigene Dummheit.

‚Und seit wann ist das ein Kriterium?', spottete die innere Stimme. ‚Sonst waren dir die Schüler doch auch immer gerade Recht, um deine Launen abzureagieren…'

"Schnauze", knurrte Snape. "Nein, nicht Sie, Miss McElwood", beeilte er sich hinzuzusetzen, als Emily vor seinem Schreibtisch erstarrte. "Ich… ich rede manchmal mit mir selbst, müssen Sie wissen."

Emily lächelte scheu. "Mache ich auch gelegentlich", gestand sie.

"Dann wollen wir mal sehen", begann Snape. "Madame Pomfrey hat mir erzählt, Sie hätten Probleme mit Ihren Träumen?"

Emily druckste herum. "Na ja… so schlimm ist es eigentlich gar nicht…"

"Nur, dass Sie Ihre Zimmerkameradinnen um den Schlaf bringen", versetzte er. "Und da wir hier keine Einzelzimmer anbieten, müssen wir dagegen etwas unternehmen." Er schloß einen dicken Wälzer, in dem er gelesen hatte. "Vielleicht beschreiben Sie etwas genauer, was es mit diesen Träumen auf sich hat?"

Emily holte tief Luft. ‚Na schön', dachte sie. ‚Aber wehe, wenn ihm dazu nichts einfällt!' "Es sind eigentlich keine Träume", begann sie stockend.

"Sondern?" Sein Interesse war geweckt.

"Sondern mehr so eine Art von… Visionen. Ich erlebe etwas mit, was woanders passiert."

"Das reicht mir nicht", knurrte Snape. "Etwas genauer bitte, und lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen."

Emily hatte sichtlich Mühe, die richtigen Worte zu finden. "Ich erlebe mit, was jemand anderes erlebt…"

"Und wer ist dieser Jemand?"

"Jemand, der mir sehr nahe steht."

Snape seufzte. "Und das, was Sie da mitbekommen, passiert das auch in Wirklichkeit?"

"Ja", flüsterte sie. "Und es sind ganz furchtbare Dinge, es werden Menschen gequält… es ist manchmal kaum auszuhalten."

"Eigenartig", meinte Snape. "Hatten Sie diese Fähigkeit schon immer?"

"Nein, erst seit…" Sie stockte.

"Seit was? Wenn ich Ihnen helfen soll, muß ich einfach etwas mehr darüber wissen."

"Professor Snape." Ihre Stimme war kaum noch zu vernehmen. "Was wissen sie über das Vincireo-Band?"

Snape überlegte. "Nicht viel", musste er dann zugeben. "Eine Art Bindezauber mit immenser Wirkungskraft."

"So könnte man's ausdrücken", sagte Emily bitter.

"Es wird wohl nur äußerst selten angewendet, mehr so eine exotische Spielerei", meinte Snape. "Aber hier, in diesem Buch, meine ich, etwas darüber gesehen zu haben."

Emily horchte auf. Sollte Professor Snape tatsächlich ein Buch besitzen, das ihr weiterhelfen konnte?

"Darf ich mal sehen", bat sie und begann, den Wälzer auf seinem Schreibtisch aufzublättern.
Nicht lange darauf wurde sie fündig.

‚Das Vincireo-Ritual', las sie, und Snape las über ihre Schulter mit.

‚Dient dazu, eine Verbindung zweier Menschen zu festigen. Er funktioniert nur, wenn zwischen beiden Probanden eine starke Liebe vorhanden ist. Das Vincireo-Ritual schafft ein sehr starkes Band zwischen diesen beiden; um es zu vollziehen, ist eine körperliche Vereinigung notwendig…'

Emily nickte in Gedanken versunken. Genau das war es.

"Sie haben mit jemandem dieses Ritual durchgeführt", fragte Snape und Emily nickte wieder. "Das, aber nicht nur das alleine. Da war noch mehr…"
Sie las weiter.

Snape wunderte sich. Daß es tatsächlich jemanden geben soll, der dieses unscheinbare Geschöpf so sehr liebte, dass er ein solches Band zu ihr schaffen wollte? Und dann auch noch auf diese Art?

‚Wahrscheinlich jemand, der sich nicht so sehr von Äußerlichkeiten blenden läßt, wie du es immer wieder tust!' Wieder die innere Stimme, und wieder lag sie völlig richtig.

Emily las indessen weiter. "Oh mein Gott", hauchte sie plötzlich.

"Was denn?" Snape überflog nun seinerseits den Rest der Buchseite.

‚Es ist keine Möglichkeit bekannt, diesen Zauber zu brechen. Zwei Menschen, die sich diesem Ritual unterziehen, bleiben bis an ihr Lebensende auf mentale Weise miteinander verbunden. Das Vincireo-Ritual kann mit anderen Zaubern kombiniert werden, allerdings birgt das große Gefahr…'

Snape schaute verwundert auf. War es das, was sie so aufgewühlt hatte? "Das kriegen wir hin", meinte er dann zu der völlig verstört dreinschauenden Emily. "Hier steht zumindest auch das Rezept für einen Trank, wie sich dieses Band ein wenig lösen lässt. Und ob man diesen Zauber nicht doch endgültig brechen kann - das werden wir schon noch sehen. Ich vermute, das ist es, was Sie wollen?"

Emily nickte nur. Eigentlich wollte sie ganz etwas anderes, doch fürs erste mochte das genügen - und sie wenigstens nachts wieder in Ruhe schlafen lassen.

"Dann wollen wir mal", meinte er und ging daran, seine Regale zu durchforsten. "Wir brauchen Lyssinum, Kreosotium, Krötenhaut, Rosshaar und noch so ein paar Kleinigkeiten. Alles vorhanden. Wollen Sie mir beim Brauen behilflich sein?"

Und während Emily mit zitternden Händen daranging, Zutaten zu zerkleinern, überlegte Snape noch immer, was sie an dem Buchtext so erschüttert haben mochte.

"Was müssen auch Anfänger mit solchen Zaubern herumpfuschen", knurrte er, mehr zu sich selbst. "Auch wenn Ihre Familie ziemlich bekannt ist, Berühmtheit schafft noch kein Wissen - und von so etwas hätten Sie besser die Finger gelassen!"

Er hatte es nicht einmal böse oder spöttisch gemeint, doch anscheinend hatte er damit etwas ziemlich Falsches gesagt.
Emily schmiß ihre Zutaten auf den Tisch und brach in Tränen aus.

"Ich kann es nicht mehr hören!", schrie sie. "Jeder fängt mit meiner ach so tollen Familie an - ich wünschte, ich hätte mit den McElwoods nichts zu tun!"
Damit rannte sie zur Tür.

Snape reagierte mehr aus einem Reflex heraus. Er nahm seinen Zauberstab, rief "Claudatio", und der Türriegel schob sich knirschend ins Schloß.
Emily prallte fast gegen die jetzt verschlossene Tür und rüttelte vergeblich daran.

Snape kam auf sie zu. "Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten…", begann er, als Emily herumfuhr. Tränen strömten ihr über das Gesicht, sie war vollkommen aufgelöst.


"Was wissen Sie denn schon!", schrie sie ihn weiter an. "Was wissen Sie schon von meiner Familie? Die McElwoods sind verflucht… und niemand ahnt es auch nur… und niemand kann es noch aufhalten…"

Snape stand hilflos vor ihr, doch dann tat er das wahrscheinlich einzig richtige. Er breitete seine Arme aus und Emily warf sich an seine Brust, immer noch heftig weinend.
"Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll," schluchzte sie, "und ich halte das nicht mehr lange aus…"

Snape strich ihr beruhigend über den Rücken. "Nana, das wird schon", meinte er etwas lahm, doch sie wurde nach wie vor von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.

Also sagte er erst einmal gar nichts mehr, hielt ihren zitternden Körper fest und wartete, dass es vorübergehen würde.

Lange standen sie so da, bis sich Emily langsam wieder beruhigte.

"Besser?", fragte Snape und hielt sie auf Armeslänge von sich.

"Ja", entgegnete sie, noch immer schniefend. "Ich… es tut mir leid! Ich wollte nicht… ich meine… ich hätte… bitte entschuldigen Sie…"

"Ist schon gut", meinte er sanft. "Anscheinend habe ich eine sehr saugfähige Schulter." Er betrachtete kopfschüttelnd sein von ihren Tränen doch ziemlich durchweichtes Oberhemd.

Emily brachte ein schwaches Lächeln zustande. "Humor hätte ich Ihnen gar keinen zugetraut, Professor."

"Ich werde oft unterschätzt", gab er zurück. "Und jetzt trinken Sie eine Tasse Tee und dann erzählen Sie mir das Ganze noch einmal von vorne."
Er setzte die verheulte Emily auf den Schreibtischstuhl und ließ mit Hilfe seines Zauberstabes eine Kanne Tee nebst zwei Tassen erscheinen.

"Trinken", befahl er, als er eingegossen hatte. "Und jetzt möchte ich genau wissen, wie das mit dem Vincireo-Ritual vor sich gegangen ist."

Emilys Widerstand schien gebrochen. "Es war vor drei Jahren", begann sie zögernd. "Als jemand, den ich sehr liebe, …weggehen musste. Er hat gemeint, mit diesem Ritual würden wir immer zusammen sein, auch auf weite Entfernung. Ich war vierzehn, dumm und unerfahren - und hielt das für eine großartige Idee:"

"Sie waren erst vierzehn?", wunderte sich Snape. "Da stand doch auch etwas von körperlicher Vereinigung - wie ist denn das gegangen?"

Emily errötete etwas. "Na wie denn wohl", entgegnete sie patzig. "Ich brauche Ihnen doch wohl keinen Aufklärungsunterricht zu erteilen?"

Jetzt war es Snape, der rosa anlief. "Und was ist dann passiert", wechselte er rasch das Thema.

"Ich weiß es nicht genau", meinte Emily. "Ich hatte ja kaum Ahnung, welche Zaubersprüche mit dazugehörten - und welche nicht. Es waren jedenfalls eine ganze Menge." Sie stockte. Jetzt begab sie sich auf äußerst gefährliches Terrain.

"Jedenfalls war es wohl irgendwie des Guten zuviel", rettete sie sich dann heraus. "Denn seitdem bekomme ich alles mit… was ihm… passiert." Das war zumindest ansatzweise die Wahrheit.

"Wer ist dieser geheimnisvolle ‚er' denn eigentlich?"

Emily schüttelte den Kopf. "Das ist nicht weiter wichtig."

"Und dieser jemand wird von irgend jemand anderem gefoltert, gequält - und sogar mit dem Cruciatus belegt?", wollte Snape wissen.

"Ja", sagte Emily. Noch eine Halbwahrheit.

"Und wer tut Ihrem Liebsten solch schreckliche Dinge an?"

"Das weiß ich nicht!" Eine glatte Lüge.

"Es ist doch seltsam, dass Sie so stark reagieren", wunderte sich Snape. "Laut meinem Buch dürfte die Affinität bei weitem nicht so stark sein."

"Ich war bei solchen Dingen schon immer extrem empfindlich", sagte Emily schnell. Und das war eine wirklich dicke Lüge.

Snape schien ihr zu glauben. "Aber man muß doch auch ihrem geheimnisvollen Freund irgendwie helfen…"

"Dazu ist es zu spät", meinte Emily. "Ihm kann niemand mehr helfen." Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.

"Dann werden wir wenigstens versuchen, dass Sie sein Leid nicht mehr so unmittelbar miterleben müssen", sagte Snape rasch. Er war zwar überzeugt, dass sie ihm bestenfalls nur die Hälfte erzählt hatte, für's erste hatte er jedoch eine ganze Menge erfahren. Mit raschen Handbewegungen begann er, den Trank zu brauen, während Emily ihm dabei zusah.

"Fertig", meinte er nach einer Weile und reichte ihr einen Becher mit einer Übelkeit erregend riechenden Brühe.

"Es ist noch etwas Tee da, zum Herunterspülen!"

"Danke", flüsterte sie, stürzte den Inhalt des Bechers in einem Zug hinunter - und gleich darauf den Tee.

"Himmel, das schmeckt ja grauenhaft!"

"Gewöhnen Sie sich besser daran, Sie müssen ihn jeden Abend einnehmen."

"Hauptsache, es hilft, ich traue mich nämlich schon gar nicht mehr, einzuschlafen", murmelte Emily. Sie fühlte sich plötzlich sehr müde.

"Das dachte ich mir", entgegnete Snape - doch Emilys Kopf war bereits auf die Tischplatte gesunken. Regelmäßige Atemzüge verrieten, dass sie fest schlief.

‚Und was mache ich jetzt mit ihr', fragte sich Snape etwas ratlos. ‚Ich kann sie doch nicht einfach hier so liegenlassen …'

In diesem Moment klopfte es an die Tür.
"Auch das noch", stöhnte Snape. Er löste den Claudatius und Albus Dumbledore kam herein.

"Kann ich Sie kurz sprechen, Severus?" Dann fiel sein Blick auf die schlafende Emily. "Was ist denn hier passiert?"

"Ich habe ihr ein leichtes Schlafmittel in den Tee getan, damit sie endlich wieder einmal eine Nacht lang durchschläft", erklärte Snape und berichtete dann, was er in den letzten Stunden erfahren hatte.

"Das ist wirklich überaus interessant", meinte Dumbledore. "Gut zu wissen, dass hier niemand ernstlich in Gefahr ist!"

Darüber war sich Snape allerdings nicht so sicher. "Ich habe den Eindruck, sie verschweigt noch etwas", meinte er. "Besser gesagt, sie versucht, jemanden zu schützen. Aber entweder, sie erzählt es freiwillig - oder gar nicht!"

"Ich habe volles Vertrauen in Sie, Severus", sagte der Schulleiter. "Wir müssen herausfinden, wer da so schrecklich herumwütet - und was wir für Emilys geheimnisvollen Freund tun können." Er wirkte jedoch sehr erleichtert. "Und ich denke, in Anbetracht dieser Tatsachen muß das Zaubereiministerium doch nicht informiert werden, jedenfalls nicht sofort."

Snape stimmte ihm zu, dann fiel sein Blick wieder auf Emily. "Was mache ich jetzt mit ihr?"

Dumbledore überlegte. "Es ist weit nach Mitternacht, wir können sie jetzt nicht in den Gryffindor-Turm bringen. Vielleicht auf die Krankenstation…"

"Gute Idee!" Snape wirkte erleichtert. "Obwohl… es wäre nicht schlecht, wenn ich sie die Nacht über unter Beobachtung hätte. Falls der Trank nicht richtig wirkt… ich wusste nicht, wie hoch die Dosis ausfallen sollte, und ich mache mir Sorgen, wenn da etwas nicht richtig funktioniert"

Er bemerkte Dumbledores Blick und lächelte säuerlich. "Keine Sorge, Albus, ich habe nicht die Absicht, ihr zu nahe zu treten!"

"Das hatte ich auch nicht vermutet. Aber eine Schülerin kann unmöglich die Nacht in Ihrem Büro verbringen, das gäbe ein immenses Gerede!"
Er überlegte. "Ich werde mit Madame Pomfrey sprechen, Emily hat dann eben offiziell die Nacht auf der Krankenstation zugebracht", meinte er dann.

Snape seufzte. "Wird wohl das Beste sein. Ich hoffe jedenfalls, dass die Dosierung stimmt und ich mich in Zukunft nicht mehr als Krankenschwester betätigen muß!"

Dumbledore lächelte. "Sie geben eine gar nicht so schlechte Krankenschwester ab, Severus!" Schalk blitzte in seinen Augen. "Ich lasse Sie dann alleine - und ich möchte auf dem Laufenden bleiben."

"Selbstverständlich, Albus."

Dann war Snape mit Emily wieder alleine. Er seufzte noch einmal, dann hob er sie auf, trug sie hinüber in seine Privaträume und legte sie auf das große Bett.
"Anscheinend sollte ich mir doch einmal ein Sofa zulegen", knurrte er, deckte Emily noch zu und ging dann wieder hinüber in sein Arbeitszimmer. Eine Nacht ohne Schlaf machte ihm nicht viel aus.

Irgendetwas an dieser Geschichte ließ ihn nicht los, er hatte das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Emilys extrem starke mentale Abhängigkeit von dieser anderen Person… war die wirklich alleine mit dem Vincireo-Ritual zu erklären? Er nahm das Buch noch einmal zur Hand und blätterte, bis er den richtigen Abschnitt gefunden hatte. Aufmerksam las er alles noch einmal durch - und stutzte plötzlich. Da stand nämlich noch etwas, ein kleiner, unleserlicher Absatz, den er anscheinend vorhin überlesen hatte.

"Oh mein Gott", entfuhr es nun auch Snape. ‚Das erklärte so einiges und wenn es tatsächlich zutreffen sollte, war es kein Wunder, dass Emily so verstört gewesen war!'


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