Engel der Hölle

 

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Kapitel 14


Snape tappte vorsichtig ein paar Schritte tiefer in das düstere Gewölbe hinein. Die ekelerregende Pfütze war hier drinnen noch tiefer als im Durchgang und schmatzte jedes Mal, wenn er einen Fuß hob. Was auch immer dies war, es war kein Wasser, auch kein noch so fauliges. Auch keine Kloake aus menschlichem Urin und Blut, wofür er die Flüssigkeit im Gewölbe der Sklaven hielt. Dafür war die Konsistenz hier zu dickflüssig. Das Zeug klebte unangenehm an seinen nackten Füßen und zog bei jedem Schritt Fäden.
Snape hatte das Gefühl, auf einem Boden aus Quallen zu gehen. Er versuchte, sich von dem Gefühl absoluten Widerwillens, das ihn beschlich, abzulenken, indem er seinen wissenschaftlichen Verstand beschäftigte. Es war ihnen ja noch nicht planmäßig gelungen, den aus seinem Kopf herauszuprügeln, obwohl sie sich wirklich Mühe gegeben hatten. Der Meister der Zaubertränke zwang sich nachzudenken und zu analysieren, zu vergleichen. Kannte er irgendetwas, woran ihn das hier erinnerte? Er hatte doch in seinem Beruf mit genügend ekelerregenden Substanzen zu tun gehabt, und es hatte ihm nie viel ausgemacht. Aber das hier... Es war irgendwie anders, als alles ihm Bekannte. Es verursachte ihm einen Schauder, der aus den tiefsten Tiefen seines kreatürlichen Unterbewusstseins zu kommen schien. Aus dem urältesten Teil des Gehirn, den schon unsere primitivsten Vorfahren besessen haben und den vermutlich auch die entseelten Opfer der Dementoren noch besaßen.
Das hier war krank, unnatürlich, in der Ordnung der Dinge nicht vorgesehen, protestierte ein Instinkt in seinem tiefsten Inneren. Wenn er sich aber partout zwingen wollte, es mit irgendetwas Bekanntem zu vergleichen, so fielen ihm nur die unschönsten Zutaten seiner Tränke ein: Hustenauswurf der Afrikanischen Steppenhyäne, Bubotubler-Eiter, Troll-Rotz, Drachen-Speichel, oder das Sekret der Schleimhaut von Warzenkröten. Ihm fiel auf, dass alle diese Scheußlichkeiten eins gemeinsam hatten: Sie waren biologischen Ursprungs. In ihm wuchs die Überzeugung, die ekelhafte, gallertartige Masse in diesem Raum müsse organisch sein! Aber welches Lebewesen konnte dieses widerwärtige Zeug in solchen Mengen produzieren? Es füllte ja das ganze Gewölbe aus, wie er inzwischen sah! Die Pfütze am Eingang war nur der Anfang. Drinnen türmten sich hohe Berge aus diesem Unrat! Und was genau war es?

Snape fragte sich, ob es helfen würde, eine kleinere Nase zu haben als die, mit dem die Natur ihn überreichlich beschenkt hatte, ohne ihn zu fragen. Ob er dann weniger von dem übelerregenden Gestank der schmierigen Substanz wahrnehmen müsste? Es lag aber wohl weniger an der Größe seiner Nase, als an seinem durch das Tränkebrauen extrem geschulten Geruchssinn. Oder schlicht und einfach an der Intensität dieses infernalischen Gestanks. Es hatte einen Stich von faulen Eiern und einen Hauch von Verwesung, aber die Hauptkomponente war doch... der üble, beißende Geruch von Raubtier-Kot? Snape dachte unwillkürlich an den Kot der Zibethkatze, eine teure Trankzutat, die in winzigen Spuren einem Gebräu einen wunderbaren Wohlgeruch verleihen kann, sich in größeren Mengen jedoch in einen unerträglich bestialischen Gestank verwandelt. Konnte dieses grässliche Zeug hier irgendeine Art von Exkrementen sein? Snape überwand seine Urangst davor und ging noch tiefer in den riesigen Raum hinein, entschlossen, das Objekt zu untersuchen.
Dies stellte sich sehr bald als ein folgenschwerer Fehler heraus: Mit einem abscheulichen, trägen Platschen quoll von irgendwoher eine neue Woge der Substanz und ergoss sich zähflüssig zwischen Snape und den Tunnel. Er war vom Ausgang abgeschnitten, wenn er nicht gerade schwimmen wollte - falls das in dieser klebrigen Masse überhaupt möglich war.

Severus Snape war vor Entsetzen wie betäubt. Er war hier eingeschlossen, ganz allein, würde vermutlich nie gefunden werden. Letzteres war zwar der Sinn der Sache gewesen, aber so hatte er sich das nicht vorgestellt! Was würde nun aus ihm werden? Würde er hier an diesem schrecklichen Ort bleiben müssen, bis er verhungert und verdurstet war? Oder würden weitere stinkende Wellen anrollen und ihn in einem Meer aus Schleim ertränken?
Er sah sich um. Die Ausmaße der glibberigen Ansammlungen waren überwältigend. Winzige Lichtpunkte glühten überall im Innern des milchig-durchsichtigen Gelees, wie Glühwürmchen im Nebel. Sie waren die einzige, schwache Lichtquelle in dem düsteren Saal. Die Masse waberte, schlug zähe Blasen und schmatzte. Widerwärtiger als der misslungenste Zaubertrank, den Neville Longbottom je fabriziert hatte. Welch eine Ironie des Schicksals: ausgerechnet diesem Jungen verdankte er es, dass er nun hier war. Er war immer noch fassungslos, dass ein Schüler auf so unmenschliche Weise an ihm Rache genommen hatte. Ob Neville auch nur annähernd ahnte, was er hier durchmachte? Und ob er es wollen würde, wenn er es wüsste? Vermutlich sogar ja, denn hatte er ihn nicht auch, ohne mit der Wimper zu zucken, in der Schule dem Dementor ausgeliefert, durch seine beharrliche und eiskalte Falschaussage?
Er war vermutlich wirklich der Ansicht, sein Lehrer habe alle Grausamkeiten von Askaban verdient, für die Tatsache, dass er im Unterricht ungerecht gewesen war, unausstehlich, furchteinflößend, was auch immer. Aber wenigstens einer glaubte inzwischen nicht mehr, dass dies alles eine gerechte, verdiente Strafe für Severus Snape sei: Severus Snape selbst.

Er setzte sich erschöpft auf den Boden, auf seiner letzten, kleinen Insel im Meer des Grauens, und schloss die Augen, um seine Umgebung nicht mehr sehen zu müssen. Doch er musste sie riechen und hören. Der Gestank und das widerliche Schmatzen verursachten ihm Übelkeit. Und er hörte Stimmen. Flüsternde, raschelnde Stimmen, die von überall zu kommen schienen. Im ersten Moment erinnerte es ihn an das Zischen des Basilisken in den Rohren, hinter den Wänden von Hogwarts, vor fünf Jahren, als die Kammer des Schreckens geöffnet wurde. Doch dies war kein Parsel. Es klang eher wie Echos, die aus allen Ecken des Raumes zu ihm geworfen wurden. Oder waren die Stimmen doch in seinem Kopf? Wurde er endlich wahnsinnig? Oder lag es an den Dementoren? Waren sie in der Nähe? Waren es dieselben niederschmetternden Stimmen, die sie ihn in seiner Zelle hatten hören lassen? Aber dies waren nicht die kränkenden Szenen aus seiner Vergangenheit. Es war nichts aus seinem eigenen Leben. Er konzentrierte sich auf die leisen, körperlosen Stimmen, die wild durcheinander wisperten, und versuchte, Sätze herauszuhören.

"Du hassst ein Stück Brot? Gib esss mir!" "Nein, esss issst meinsss!" "Gib mir! Ich sterbe!" "Dasss wirssst du nicht, sie lasssssen unsss nicht sterben." "Willssst du dich unsss anschließßßen? Folge ihm! Schwöre ihm ewige Treue!" "Ja, Mutter, dasss habe ich! Schau nicht ssso entsssetzzzt! Esss isst richtig, ja, esss issst richtig!" "Hassst du geglaubt, du würdessst unsss entkommen, Schlammblut?" "Gib miiiiiiiiiiiiir! Ich sterbe!" "Avada Kedavra!" "Ich werde dir folgen, Meissster!" "Vater unssser, der du bissst im Himmel!" "Wie? Du betessst? Du?" "Lasss mich! Hier issst allesss andersss." "Feigling!" "... und in der Stunde unssseresss Todesss..." "Mutter! Hol mich hier raus! Er kommt! Er kommt! Ich will nicht! Wie könnt ihr ssseelenruhig da sitzzzen? Macht mich loooooooosss!" "Rache! Ich schwöre euch Rache!" "Gib miiiiiiiiiiiiiiiiir!" "Da, nimm! Crucio! Issst jetzzzt Ruhe? Lasss mich in Ruhe sterben, Bassstard!" "Ich liebe dich, Mariella! Glaub mir, ich will nicht gehen..." "Tu esss nicht! Niiiiicht!" "Ich kann Ihnen nur dasss sssagen: Ich bin unschuldig! Unschuldig! Ssso glaubt mir doooooch!" "Hörssst du dasss Meer rauschen? Spring! Spring!" "Prossst! Auf den König! Auf unsss, Brüder!" "Shshshsht, schlafe, mein Kind! Die Erlkönige singen im Wald nach dir! Schlaf! Eia, eia..." "Lauf!" "Gib miiiiiiiir!" "Gib!" "Mir!" "Giiiiiiiib miiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiir!"

Snape konnte das Durcheinander nicht länger ertragen. Er bemühte sich, wegzuhören, nur noch ein Zischen zu vernehmen, statt einzelner Sätze. Er öffnete die Augen. Selbst das Unerfreuliche, was er sah, war ihm lieber als die Konzentration auf das, was er hörte. Er wollte nicht wahnsinnig werden. Wenn das Schicksal beschlossen hatte, dass er in Askaban sterben musste, auf die eine oder andere Art, egal, wie er sich abstrampelte und wehrte, dann wollte er aufrecht und mit klarem Verstand dem Tod entgegengehen. Und wo auch immer er danach hinkommen würde, er wollte seine Seele mitnehmen. Die Seele, die, wenn Lys recht hatte, dasjenige war, das nicht vergehen konnte, was auch geschah. Das weiter existierte, wie und wo auch immer.

Eine neue Welle stinkender Flüssigkeit ergoss sich gurgelnd vor seine Füße. Diesmal sah er, wo sie herkam. Links von ihm war ein Tunnel. Nicht der, durch den er gekommen war, sondern viel enger. Eher ein Rohr. Ein Abflussrohr, aus dem die Wellen in den Raum hinein schwappten. Woher mochte es kommen? Links von ihm... links... "Links wohnen die Dementoren." Der Zufluss kam aus der Höhle dieser Monster! Das Zeug kam von da! Ein ungeheuerlicher Gedanke reifte in Snapes Hirn heran...
Selbst ihm, der für seine Bewacher kein Mensch mehr war, hatten sie in seiner Zelle eine Art von Toilette zugestanden. Jedes Wesen brauchte etwas in der Art, auch die abnormsten, unnatürlichsten Lebensformen hatten einen Stoffwechsel, Ausscheidungen, Exkremente... Er bückte sich, zwang sich, die Flüssigkeit mit den Fingerspitzen zu berühren. Sie fühlte sich genauso an wie der Schleim auf den Händen des Dementoren, die ihn gepackt hatten. Zäh und klebrig, mit demselben stechenden Fäulnisgeruch. Auf dem Boden hockend, verfiel Snape in ein wahnsinniges, verzweifeltes Gelächter. Er war vor seinen Verfolgern bis ans hinterste Ende der Welt geflüchtet, bis in die tiefste Tiefe, hatte das letzte aller Geheimnisse entdeckt - und was war es? Ein Klo! Ein verdammtes, dreckiges, stinkendes Dementoren-Klo! Es war ein letzter Hohn vor seinem Ende. So banal und profan war die Welt, dass selbst die grauenvollsten aller Monster so etwas wie ein Klo besaßen! Vermutlich gab es keinen Gott und keinen Teufel, keinen Tod, und die, die schlimmer waren als der Tod, waren nichts als erbärmliche Kreaturen, die fraßen und verdauten und Ausscheidungen hinterließen. Bis hierher war er gegangen, und das sollte alles sein? Das war der ganze Sinn der Welt? Das letzte Geheimnis...

Severus erschrak vor seinem eigenen, unheimlichen Lachen. Es klang wahnsinnig. Seine Gedanken waren die eines Irrsinnigen. Nein, er würde es nicht zulassen! Das hatte er sich geschworen. Er wollte mit Würde in den Tod gehen, und wenn es am würdelosesten Ort der Welt war. Er musste gegensteuern. Mit Verstand und Logik. Irgendwelche Schlüsse ziehen, egal woraus und mit welchem Ergebnis. Ein Dementoren-Klo also. Na und? Sollten sie eins haben! Jedes Wesen musste fressen und verdauen und ausscheiden. Nahrung wird aufgenommen, zersetzt, verwertet, der Rest wieder ausgeschieden. Stoffwechsel. Nichts als der Kreislauf der Natur. Nichts normaler als das.
Wovon ernähren sich Dementoren? Seelen. Seelen fressen, Seelen verdauen, Seelen verwerten, Seelen ausscheiden. Das ist die Natur der Dementoren. Aber die Natur der Seelen? Unzerstörbarkeit? Was passiert, wenn man etwas Unverdauliches isst? Es wird vollständig wieder ausgeschieden. Snape sprang auf, wie von der Tarantel gestochen. Die Lichter! Die Stimmen! Die Frage, die Lys ihm nicht beantwortet hatte - hier lag die Antwort vor ihm: Wo sind die Seelen der Entseelten? Hier, Lys, hier sind sie! Gefangen, für immer festgehalten von diesem klebrigen, widerlichen Schleim! Das "Heiligste" der Menschen, in diesem... diesem... Klo. Du hast es gewusst, Lys, nicht wahr? Hier hast du deine Marmeladengläser.



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