Engel der Hölle

 

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Kapitel 15


Eine Welle von Todesangst überfiel Severus ohne Vorwarnung. Er hatte das alles hier so lange ertragen, einfach, weil er stark sein musste, um sich am Leben zu erhalten. Aber irgendwann kommt immer der Zusammenbruch, und dieser Zeitpunkt war nun erreicht. Er konnte einfach nicht mehr. Er hatte doch angenommen, was Lys ihm gesagt hatte: dass er es wert sei zu leben und glücklich zu sein. Aber wer fragte danach, hier? Er hatte doch um sein Leben gekämpft. Und wo war er schließlich gelandet? Am trostlosesten, sinnlosesten Ort der Welt.
Zum ersten Mal in seinem Leben - jedenfalls seit seine Kindheit verfrüht und jäh geendet hatte - hatte er wirklich den dringenden Wunsch, zu leben. Und er war unerfüllbar. Severus war der Zelle entkommen, den prügelnden Wächtern, Fudge und seinem Hinrichtungsgerüst, den Dementoren und zuletzt noch den Auroren hier unten. Nur um jetzt in diesem widerlichen Schleim ertränkt zu werden? Wo war denn da die Gerechtigkeit, die Lys ihm gepredigt hatte? Er wollte nicht sterben! Er hatte so vieles in seinem Leben nicht gewollt! Warum hatte ihn keiner gefragt?
"Ich will nicht!" schrie Snape gegen die alles verschluckende Wand aus Schleim an. "Ich wehre mich!" Und in einem Anfall sinnloser Verzweiflung zog er das Spielzeugschwert aus dem Umhang und fuchtelte wild damit vor der glibbernden Masse herum. Er wollte das Gefühl haben, seinen Feinden gegenübertreten zu können, mit einer Waffe in der Hand. Doch sein letzter Feind war eine träge, hirnlose, nicht angreifbare Flüssigkeit. Und seine einzige Waffe war ein lächerliches Spielzeug.

Severus ließ seine ganze Wut und Enttäuschung aus sich heraus. Er bedrohte die Masse mit seinem Schwert und schrie ihr entgegen: "Das ist nicht fair! Dieser Kampf hier ist nicht fair! Das ganze Askaban, unser ganzes System ist nicht fair! Das ganze Leben ist nicht fair! Ich bin ein Verbrecher, sagt ihr? Ich habe einmal auf der falschen Seite gestanden, ja! Aber ich bin zu euch zurückgekommen, das war nicht leicht - und was seid ihr? Auch nur Verbrecher! Aber ich muss mich dafür schämen, mein Leben lang, und ihr werdet dafür geehrt! Und ich bin unfair, ja? Wie oft habe ich das zu hören bekommen, als Lehrer! Mag ja sein. Und wer zeigt mir mal, was fair ist? Woher soll ich das wissen? Hab es nie kennengelernt. 'Fair' ist ein leeres Wort! Es gibt kein 'fair', wenn das hier das Letzte ist! Aber ich habe hier etwas gelernt: 'Unfair' ist, in einem lächerlichen Häuser- und Punktesystem Kindern ein paar Punkte zuviel abzuziehen. 'Fair' ist, in einem noch viel lächerlicheren System sich zum Richter über andere aufzuschwingen, zum Richter über Leben und Tod und noch darüber hinaus! Warum lasst ihr es nicht wenigstens gut sein, mit dem Tod? Warum dürfen eure Feinde nicht wenigstens sterben, wenn sie schon nicht leben dürfen? Gut, ich merke es mir: 'Fair' ist, schwache, wehrlose Menschen an übermächtige Dementoren zu verfüttern. 'Fair' ist, einen willenlosen Körper zu missbrauchen. 'Fair' ist, die Seele, den freiesten Teil des Menschen, nach seinem Tod gefangenzuhalten. Ewig. Was glaubt ihr, was ihr seid? Götter?"

Er hatte die letzten Sätze herausgebrüllt, und die Tränen liefen ihm dabei übers Gesicht. Severus Snape hatte so lange nicht mehr geweint. Zum letzten Mal, als seine Eltern verschwanden. Danach nie mehr, außer einmal, unter dem Einfluss der Dementoren. Nie mehr. Grund hätte es genug gegeben. Aber keinen Sinn. Als seine Eltern ihn zurückließen, hatte er gelernt, dass Weinen keinen Sinn hat. Es kommt keiner, nur weil man weint und fleht. Also kann man es auch lassen. Aber es hatten sich seitdem viele ungeweinte Tränen in ihm angestaut, und jetzt schienen sie alle gesammelt heraus zu wollen. Sein ganzer Körper zitterte, geschüttelt von der Wucht dieser plötzlichen Emotionen, vom Schluchzen und von der Empörung.

Etwas leuchtete. Irgendetwas leuchtete in der Dunkelheit. Es war ganz dicht bei ihm, und es waren nicht die schwach glimmenden Lichtpunkte der gefangenen Seelen. Es war ein heißes, glühendes Licht, ähnlich einer Flamme. Severus kam wieder zu sich und schaute hin, und er sah, von wo das Licht kam. Es ging von dem Schwert in seiner Hand aus! Severus spürte, wie eine starke magische Kraft aus dem Schwert in seinen Körper floss. Es war also wahr: Es war ein magischer Gegenstand! Lys hatte doch Recht gehabt. Aber wo war die magische Energie vorher gewesen? Warum trat sie jetzt plötzlich zutage? Severus spürte ihr konzentriert nach und stellte etwas sehr Erstaunliches fest: Die magische Kraft floss nicht aus dem Schwert in seinen Körper - sondern aus ihm selbst in das Schwert! Diese Kraft war nichts anderes als das, was da gerade aus ihm hervorbrach! Alles, was er immer tief in sich versteckt hatte, seine Emotionen, seine Trauer, seine Wut. Je glühender seine Empfindungen waren, desto heller leuchtete das Schwert. Severus befühlte die Klinge und zuckte zurück. Sie war nach wie vor stumpf, aber sie brannte wie Feuer.

Nun hatte er also eine Waffe. Aber er war immer noch von der Welt, auch von seinen Feinden, abgeschnitten, hinter einem Vorhang aus Schleim. Frustriert hieb er mit dem Schwert in die dumme, ekelhafte Masse. Die Stelle, die er getroffen hatte, begann sich zu verändern. Die schleimige Substanz zog sich zusammen, schien zu schrumpfen! Severus blickte fasziniert auf diesen Vorgang. Das Zeug knisterte, wie Schaum in der Badewanne, der zu zerfallen beginnt. Es krumpelte sich an der einen Stelle zusammen, wie eine Spinne, die den Tod nahen fühlt. Der Meister der Zaubertränke begriff sehr schnell, was vor sich ging: Die Hitze des Schwertes entzog der Masse die Flüssigkeit. Aus dieser aber bestand sie fast vollständig. Das Zeug verdunstete einfach! Nach dieser überwältigenden Erkenntnis ergriff Snape den Schaft des Schwertes fest mit beiden Händen und schlug wie wild auf das Glibberzeug ein. Er haute seine ganze Wut aus sich heraus. Schlug den elenden Schleimberg, der ihn vom Ausgang trennte, kurz und klein. Und sah mit großer Befriedigung zu, wie immer mehr davon verdampfte. Das Zischen der Masse klang wie ein Protest, aber das nutzte ihr nichts.
Jetzt war endlich Severus einmal am längeren Hebel. Sein Protest hatte auch nie jemanden interessiert. Aber jetzt war Schluss mit dem wehrlosen Ausgeliefertsein! Seine schwarzen Augen, die in Askaban glanzlos vor Resignation geworden waren, glitzerten leidenschaftlich, als er voller Eifer fortfuhr, das widerliche Gelee wegzufegen. Dieser Blick und das leichte Grinsen, das seine Zähne entblößte, sahen gefährlicher aus als jeder Auftritt, den ein wütender Zaubertranklehrer in Hogwarts je hingelegt hatte! Das Zeug spritzte unter der Gewalt des hin und her sausenden Zauberschwertes nach allen Seiten und verdampfte zischend noch in der Luft. Das einzige, was blieb, waren die Lichtpunkte aus seinem Inneren. Die Seelen! Sie schwebten in der Luft, da wo die Masse sie vorher festgehalten hatte, auch noch als diese fort war. Als hätten sie noch nicht begriffen, dass sie frei waren. Frei!
Auf einmal kam Bewegung in die Punkte. Die ersten strebten dem Ausgang zu. Sie schwirrten durch die Luft wie kleine, goldene Glühwürmchen, zogen kurze Leuchtspuren hinter sich her. Immer mehr schlossen sich ihnen an, und immer weitere befreite Severus mit seinem Schwert, sobald er erfasst hatte, was hier geschah. Am Ende strebte ein ganzer Schwarm von ihnen aus dem Gewölbe hinaus.
Severus verschnaufte und sah sich um. Er stand in einer riesigen, leeren Halle. Letzte klägliche Reste der zerfallenen Masse krümmten sich knisternd am Boden, bevor sie ganz vergingen. Ohne das Leuchten seines Schwertes hätte er nun in absoluter Finsternis gestanden, denn alle Lichter hatten den Raum verlassen. Und es war sehr still, denn die flüsternden Stimmen waren verstummt. Das leise Knistern war das einzige Geräusch. Severus streifte verächtlich seine Füße am Rand des Tunnels ab, als wäre er nur eben mal in etwas Unschönes getreten. Dann verließ er diesen Ort, der seinen Schrecken verloren hatte und, so leer, irgendwie lächerlich wirkte. Dies war das Dritte, was ihn hatte kleinkriegen sollen und am Ende leer und machtlos zurückgeblieben war. Das Dritte, nach seiner Zelle und Fudges scheußlichem Gerüst.


Kapitel 14

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