Engel der Hölle

 

Zurück

Zurück zur
Startseite


Kapitel 16


Severus steckte vorsichtig den Kopf aus dem Tunnel und wurde augenblicklich in eine völlig andere Welt hineingerissen. Die Zeit in der unheimlichen Stille hinter dem alles erstickenden Vorhang aus Schleim, abgeschnitten von der Welt, war ihm wie eine Ewigkeit erschienen, und nun trat er plötzlich hinaus in eine Welt voller Aufregung, Hektik und Lärm.
Stimmen schrieen durcheinander. Menschen rannten vorbei, ohne ihn zu beachten. Ihre Gesichter verrieten Panik. Auroren waren ebenso dabei wie, erstaunlicherweise, Zivilisten. Und dann eine Katze! Sie war anscheinend die einzige, die ihn wahrnahm. Sie huschte in den Tunnel hinein, und auch Severus zog sich wieder ein paar Schritte ins Dunkel zurück. Drinnen streckte sich die Katze und verwandelte sich zurück in Professor McGonagall.
Die ältere Dame blieb einen Moment lang schwer atmend stehen, dann versuchte sie, zu erklären, was geschehen war: "Wir waren in dem Gewölbe, bei den seelenlosen Gefangenen. Ich habe Albus und seine Freunde hingeführt. Er hat sich von Fudge und seinen Leuten nicht mehr aufhalten lassen, als er davon erfahren hatte. Albus war so entsetzt, ich kann es Ihnen kaum beschreiben! Er hat erst fassungslos geschwiegen und dann einen Wutanfall bekommen und den Minister so außer sich angebrüllt, dass es in dem Gewölbe schaurig gehallt hat. Aber dann plötzlich ist etwas Seltsames passiert: In der Luft waren kurz lauter kleine, helle Funken, und dann waren sie wieder weg, und danach waren die Gefangenen plötzlich ganz verändert. Ihre Augen! Diese erschreckenden Augen... sie begannen plötzlich zu leuchten. Und diese Menschen fingen an, sich umzusehen und schienen ihre Lage zu begreifen! Einige begannen zu jammern, andere wütend an ihren Ketten zu zerren.
Fudge und die Auroren waren starr vor Schreck, einige liefen gleich weg. Eine große Hilfe waren sie jedenfalls nicht. Aber das Erstaunlichste war einer der Gefangenen auf den Laufrädern, ein sehr kräftiger Mann. Seine Augen begannen im gleichen Augenblick zu leben, wie die der anderen, aber was für ein Feuer in ihnen lag! Schwarze, glühende Augen, ich sage Ihnen, so etwas haben Sie noch nicht gesehen! Dieser Mann muss nicht nur körperliche, sondern auch immense magische Kräfte besitzen! Und er hat das Unfassbare geschafft: Er hat sich von seinen Ketten losgerissen! Das war der Moment, wo auch noch die letzten Beamten und Auroren die Flucht ergriffen haben. Dieser Mann ist einfach durch ihre Mitte gestürmt, getrieben von einer unbändigen Wut. Ganz Askaban ist im Aufruhr, weil sie nicht wissen, wo er sich jetzt aufhält. Ich habe Fudge noch schreien hören: 'Er ist gefährlich wie ein tollwütiges Tier!' Kommen Sie, Severus, nutzen wir die Aufregung, bevor sie sich legt und versuchen wir, uns nach oben durchzuschlagen! Wir müssen Albus finden. Er und seine Leute waren dabei, die angeketteten Gefangenen loszumachen und aus dem Gewölbe hinauszubringen."

Severus begriff recht gut, was mit den Sklaven im anderen Gewölbe geschehen war, aber er hatte weder Zeit noch Lust, lange Erklärungen abzugeben. Gemeinsam mit seiner Kollegin trat er aus dem Tunnel, nach allen Seiten sichernd. Immer noch rannten Leute kreuz und quer durcheinander. Sie reihten sich einfach mit ein und fielen gar nicht auf. Nachdem sie ein Stück im Strom mitgeschwommen waren, hörten sie einen lauten Aufschrei, dann verstummte plötzlich das ganze aufgeregte Stimmengewirr. Und dann sahen sie ihn: Wie ein Berg ragte er mitten im Gang auf und hatte die Fäuste drohend erhoben. Seine schwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und seine Augen funkelten wild und unheilverkündend.
Severus erkannte den stärksten der Sklaven sofort wieder. "Sind alle Gefangenen losgemacht?" fragte der riesige Mann mit donnernder Stimme. Sie war rau, wohl weil sie so lange nicht benutzt worden war, und das ließ sie noch gefährlicher klingen. Niemand wagte zu antworten. Niemand, außer einem. Eine feste, ruhige Stimme meldete sich aus dem Hintergrund: "Ja, wir haben alle herausgeführt."
Severus´ Herz machte einen Sprung, und er stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf Albus Dumbledore zu erhaschen. Doch seine Aufmerksamkeit wurde schnell wieder auf den 'Riesen' gezogen, als dieser mit dröhnender, grimmiger Stimme rief: "Gut! Dann geschehe Gerechtigkeit!" Und der Mann konzentrierte sich, bis sein kräftiger Körper zitterte, und praktizierte Magie! Ohne Zauberstab, nur mit seiner scheinbar unermesslichen Willenskraft brachte er Magie hervor! Starke, mächtige Magie! Severus hatte so etwas bisher nur bei Voldemort gesehen. Das Zittern seines Körpers schien sich auf die Mauern Askabans zu übertragen, und sie schwangen mit. Das ganze Mauerwerk bebte! Die Menschen waren starr vor Entsetzen und hörten das grässliche Knirschen des Gesteins. Dann plötzlich ein gewaltiges Getöse aus dem Gewölbe der Dementoren. Ein lautes Krachen und Rumpeln, dann ein mächtiges Rauschen.
Einer der Wärter begriff als erster, was passiert war und schrie es entsetzt heraus: "Die Mauer im Dementorentrakt ist gebrochen! Askaban wird geflutet!"
Dieser Satz riss die anderen aus ihrer Erstarrung, und es begann eine kopflose Flucht die Treppen hinauf. Sie trampelten sich gegenseitig fast tot. Die Herren und Wächter von Askaban waren die ersten, die sich in Sicherheit brachten. Nur Albus Dumbledore und seine Freunde von der Zauberervereinigung stellten sicher, dass auch die Geschwächtesten unter den befreiten Gefangenen die Stufen hinaufgeschleppt wurden.
Severus und Minerva schlugen sich zu ihm durch und halfen ihm. Unzählige Male rannten sie die Treppe hinauf und wieder hinunter, um noch jemanden zu holen. Als sie den letzten heraufzogen, stand diesem das Wasser schon bis zum Bauch. Die eiskalte Flut toste in schaurigen, schwarzen Wirbeln durch den Gang. Sie mussten sich beeilen, in den Teil der Festung zu gelangen, der über dem Meeresspiegel lag.
Die vielen Stufen und das Mitschleppen derer, die nicht mehr laufen konnten, wurden zu einer Qual, die sie an den Rand der Erschöpfung brachte. Doch ein eiserner Wille trieb sie alle schließlich bis ans Ziel. Irgendwann waren sie alle in dem scheußlichen Raum, in dem so viele von ihnen ihre Seele verloren hatten, und in den umliegenden Gängen versammelt: Ministeriumsbeamte, Auroren, Gefängnispersonal, Albus und seine Freunde und die Befreiten. Nur von dem mächtigen Zerstörer war keine Spur zu sehen. Und von Lys, nach der Severus verzweifelt Ausschau hielt. Und von noch jemandem...
"Wo sind die Dementoren?" wandte Severus sich leise an Albus.
"Ich glaube", sagte dieser, "es gibt keine Dementoren mehr."
"Und die Wassermänner vergingen zu Schaum, der im Wasser trieb", murmelte Snape.
"Wie bitte?" Albus sah ihn mehr als erstaunt an. Dann blickte er zum Fenster und ergriff Snapes Arm: "Sieh nur, Severus! Da draußen! Die Lichtpunkte! Wie vorhin unten in dem Gewölbe!"
Severus sah ihnen zu, wie sie aufstiegen und verschwanden, wie Sternschnuppen. "Es waren ja nicht mehr alle dort unten", stellte er fest.
"Was?" Dumbledores Blick wurde immer verwirrter. "Severus, würdest du mir bitte erklären...?"
"Später vielleicht", sagte Snape, und ein leises Grinsen umspielte seine Mundwinkel, "und keine Angst: Ich bin nicht verrückt geworden, Albus!"

***



"Wir werden jetzt gehen", wandte sich Albus Dumbledore mit fester, ruhiger Stimme an Minister Fudge, und er ließ keinen Zweifel daran, dass sein "wir" auch Severus einschloss, um den er bei diesen Worten beschützend einen Arm gelegt hatte.
"Er geht nicht", stieß Fudge hervor, der noch immer den panischen Ausdruck eines gehetzten Tieres hatte, "er ist ein Gefangener von Askaban! Und außerdem, Dumbledore..." Er blickte sich ängstlich nach allen Seiten um. "Sie können mich doch jetzt nicht allein lassen! Nicht, solange er frei herumläuft!"
"Wer?" tat Dumbledore ganz ahnungslos.
"Heathcliff MacFie!" flüsterte Fudge und schien allein vor dem Namen zu erzittern.
"Oh, tatsächlich!" stellte Dumbledore sich erstaunt. "Das war Heathcliff MacFie! Dass ich ihn nicht gleich erkannt habe! Aber ja, ich erinnere mich."
Fudge stieß einen kläglichen Laut aus und wisperte: "Wer aus der älteren Generation würde sich nicht an ihn erinnern? Ich möchte behaupten, er war ebenso mächtig und gefährlich wie... Sie-wissen-schon, V...Voldemort! Ein Schwarzmagier der allerübelsten Sorte! Und Sie, Dumbledore, und Ihre Helfershelfer haben ihn befreit! Können Sie damit leben?"
"Ich denke schon", erwiderte Dumbledore gelassen, "denn manchmal ist es für das Gleichgewicht der Natur besser, wenn ein Raubtier das andere in Schach hält."

Der Minister hatte begonnen, nervös an den Fingernägeln zu knabbern, was ein reichlich lächerliches Bild abgab. "Dann hoffe ich nur, dass dieses Raubtier bereits in sein Revier zurückgekehrt ist und uns hier in Frieden lässt!" sagte er.
Dumbledore sah aus dem Fenster und erwiderte: "Unser Schiff hat er jedenfalls nicht genommen, es liegt noch vor Anker. Also muss er noch hier sein."
Diese Vorstellung behagte Fudge ganz und gar nicht, und er warf ein: "Seien Sie sich da nicht so sicher! Nicht bei Heathcliff MacFie! Ich möchte behaupten, einmal wiederbeseelt und freigekommen, findet er, auch ohne Schiff, einen Weg, das Meer zu überqueren."
Dumbledore hob leicht die Schultern: "Kann sein, kann auch nicht sein. Wenn Sie uns dann entschuldigen würden, Mister Fudge..." Er wandte sich zum Gehen und zog Severus am Ärmel mit sich. Doch Fudge packte blitzschnell zu und hielt Snape am anderen Arm fest. "Der Gefangene bleibt hier! So wahr ich der Zaubereiminister bin!" schrie er.
Ein hagerer, alter Mann mit langem, grauen Bart trat zu der kleinen Gruppe, und Fudge machte sich unwillkürlich etwas kleiner, als er ihn sah. Denn es war niemand anderer als Justus Rightius, Präsident der Internationalen Zauberervereinigung. "Severus Snape geht mit uns", sagte er, "so wahr Sie nicht mehr Zaubereiminister sind, Mister Fudge. Sie sind Ihres Amtes enthoben und verhaftet wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich bin froh, dass wir es nun endlich beweisen können. Ihr Spiel ist aus, Fudge."

"Das werden wir ja sehen!" zischte Fudge, "Bait! Brooks! Alle zu mir!" Uneinsichtig und offenbar verbissen bemüht, seine alte Position zu verteidigen, schrie er nach seinen Schlägern. Diese machten ein paar Schritte auf ihn zu, blieben aber abrupt stehen, als eine tiefe, laute Stimme ertönte: "Lust auf ein Kämpfchen, Fudge? Dann komm hierher!"
Alle Anwesenden drehten ihren Kopf nach der Richtung, aus der die Worte gekommen waren, und erblickten den hünenhaften Zauberer. Grinsend und mit funkelnden Augen, stand Heathcliff MacFie in der Tür.
Fudge stieß einen Schrei aus und flüchtete Hals über Kopf durch den Seitenausgang, gefolgt von zahlreichen seiner Schergen. MacFie nahm die Verfolgung auf, und Justus Rightius drängte Dumbledore zum Aufbruch: "Schnell, Albus, zum Schiff, und nehmen Sie Professor Snape und ein paar Ihrer Leute mit! Ich bleibe mit einigen Helfern der Zauberervereinigung hier, um für Ordnung zu sorgen. Schicken Sie mir das Schiff zurück, sobald Sie an Land sind. Guten Heimweg! Na, nun machen Sie schon, bevor sich das Chaos hier legt!"
Albus Dumbledore, Minerva McGonagall und etliche ihrer Begleiter machten sich auf den Weg zur Schiffsanlegestelle.
Severus zögerte einen Moment: "Ich bin noch nicht freigesprochen. Und was ist mit den anderen Gefangenen? Sie müssen hierbleiben, und ich...?"
"Severus!" sagte Dumbledore mit sanftem Vorwurf. "Nun denk das eine Mal auch an dich selbst! Für die anderen wird gesorgt werden. Und auch dein Prozess wird noch zu einem ordnungsgemäßen Ende kommen. Aber alles zu seiner Zeit. Komm jetzt! Ich werde nicht noch einmal zulassen, dass sie dich von mir wegschleppen. Nie wieder. Komm."

Auf dem Weg zum Meeresufer drehte Snape sich immer wieder um, als suchte er etwas.
"Komm, Severus", drängte Dumbledore, "was ist denn noch?"
"Lys!"
"Wer?"
"Lys! Eine Mitgefangene. Sie hat mir geholfen. Ohne sie wäre ich nie freigekommen. Ich habe sie nicht mehr gesehen. Ich kann sie doch nicht zurücklassen, Albus! Ich wollte sie doch mitnehmen!" Verzweiflung flackerte in seinen schwarzen Augen.
"Wir werden Sie suchen", versuchte Albus ihn zu beruhigen, "wir werden sie finden und alles für sie tun, was in unserer Macht steht. Aber jetzt müssen wir erst einmal fort von hier. Bitte, komm!"
Seufzend gab Severus nach und trottete ihm hinterher, bis zum Schiff. Und so verließen sie bald darauf die schreckliche Insel Askaban. Immer kleiner wurden die Türme der Festung, die so bedrohlich in den grauen Himmel ragten. Immer kleiner, immer ferner, immer unwirklicher.


Kapitel 15

Kapitel 17

 

Zurück