Engel der Hölle

 

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Kapitel 17


Severus erwachte und blinzelte in das helle Sonnenlicht, das ihm in die Augen fiel. Soviel Licht war ungewohnt, es schmerzte und machte ihn blind. Er schloss die Augen schnell wieder und versuchte seine Umgebung zu erfühlen. Er lag auf einem weichen - oh, wunderbar weichen! - Bett, und ihm war warm. Er hatte eine Decke, eine große, weiche, warme Decke, und alles an ihm war warm, sogar seine Füße!
Langsam, ganz langsam öffnete er seine Augen wieder, gewöhnte sich nach und nach an das Licht und schaute sich um. Weiß. Dieses eine Wort beschrieb die ganze Welt um ihn herum. Weiß, alles war weiß. Schmerzhaft hell und weiß. Er sehnte sich nicht nach der Finsternis von Askaban, aber ein klein wenig Schwarz, zur Auflockerung dieser nicht weniger trostlosen Helligkeit, wäre nicht schlecht gewesen.
Die Wände des Zimmers - weiß. Das Kissen, in das er sich tief hineingewühlt hatte - weiß. Die Bettdecke - weiß. Er hob die Decke leicht an und stöhnte entsetzt auf: Sein eigener Körper steckte in einem weißen Pyjama! Hatten sie hier (wo auch immer das war) keine schwarzen Klamotten, oder wenigstens so etwas wie ein graues Nachthemd?
Die (weiße!) Tür ging auf, und Severus zog sich blitzschnell die Decke bis zum Hals, um nicht in dieser peinlichen Aufmachung gesehen zu werden. Eine junge Dame tänzelte herein und stellte ein Tablett auf seinem (weißen!) Nachttisch ab. Sie trug einen ähnlichen Kittel wie Madam Pomfrey im Krankenflügel von Hogwarts, nur war sie bedeutend jünger und hübscher und augenscheinlich ein ganzes Stück naiver.
"Ah, Sie sind wach!" stellte sie überflüssigerweise fest, wobei ihr Lächeln mit dem blendenden Weiß der Einrichtung um die Wette strahlte.
"Scheint so", knurrte Snape, "es sei denn, das Ganze hier ist nur ein weißer Alptraum. Eine bescheidene Frage: Wie lange habe ich geschlafen? Und was mich noch mehr interessieren würde: Wo bin ich?"
Die junge Frau sah auf einen Kalender an der Wand - warum zur Hölle sah sie auf den Kalender und nicht auf die Uhr daneben? - und stellte fest: "Sie haben fast genau drei Tage lang geschlafen, Professor Snape. Sie waren sehr erschöpft, und der Gittalunus-Heiltrank hat sein übriges dazu getan. Ah, und Sie sind im Ministeriums-Krankenhaus. Wussten Sie das nicht mehr? Na ja, Sie waren wirklich sehr erschöpft."
Snape ließ sich stöhnend in sein Kissen zurücksinken.
Die Krankenschwester blickte ihn besorgt an: "Geht es Ihnen nicht gut? Warten Sie, ich hole Ihren Freund, Professor Dumbledore. Er hat lange genug auf diesen Augenblick gewartet." Sie ging zur Tür.
"Moment!" rief Snape.
"Ja?" Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
"Er hat die ganzen drei Tage hier gewartet?" fragte Snape.
"Ja", bestätigte sie, "er hat die meiste Zeit hier an Ihrem Bett gesessen. Nur gerade jetzt ist er etwas essen gegangen. Aber er wird sicher hocherfreut sein, zu hören, dass Sie..."
"In der Tat, das ist er!" hörte Snape eine wohlbekannte, fröhliche Stimme von der Tür her. "Albus!"
Dumbledore eilte mit ausgebreiteten Armen auf das Bett zu. Er legte ihm beide Hände auf die Schultern, und in ihrem Druck war seine ganze Ergriffenheit und Erleichterung zu spüren. "Severus!" sagte er mit diesem unvergleichlich warmen Klang in der Stimme, "wir haben dich wieder."
Severus wehrte sich heute nicht gegen die Berührung, noch quittierte er soviel Herzlichkeit mit einer sarkastischen Bemerkung. Er ließ es einfach geschehen und atmete ein paar mal tief durch. Er war zwar noch nicht zuhause, aber doch weg aus Askaban, und vor allem, Albus war bei ihm, das war fast wie zuhause. Trotzdem verspürte er heftige Sehnsucht nach seinen vertrauten, halbdunklen, Geborgenheit spendenden Kerkern in Hogwarts. "Ich darf noch nicht heim, nicht wahr?" fragte er und hoffte heimlich, dass Albus wunderbarerweise "Doch!" sagen würde.
Der alte Zauberer schüttelte stumm den Kopf. Er überlegte einen Moment lang, dann antwortete er: "Du befindest dich immer noch in Untersuchungshaft. Aber ich habe mir schriftlich zusichern lassen, dass du nicht zurück nach Askaban musst, es sei denn, ein ordnungsgemäßer Prozess endet mit einem eindeutigen Schuldspruch. Die neue Regierung hat zugestanden, dass dein körperlicher und seelischer Zustand behandlungsbedürftig ist und dass es dir, nach deinen traumatischen Erlebnissen dort, nicht zuzumuten ist, den Rest deiner Untersuchungshaft in Askaban zu verbringen. Obgleich Askaban nicht mehr das ist und auch nie mehr das sein wird, als was du es kennst. Der neue Zaubereiminister, Justus Rightius, ist bereits kräftig dabei, die notwendigen Reformen in die Tat umzusetzen, damit aus der Hölle Askaban ein 'normales', ein menschenwürdiges Gefängnis wird. Sicher, es wäre schöner, wir würden überhaupt keine Gefängnisse brauchen. Aber die Zauberergesellschaft ist wohl leider noch nicht reif dafür."
Snape nickte: "Es wäre nicht ratsam, alle Todesser frei herumlaufen zu lassen. Die wenigsten würden es zu würdigen wissen."
"So ist es", seufzte Dumbledore, "und deswegen wurde bisher auch kein einziger Gefangener von Askaban freigelassen, weder die regulären Häftlinge, noch die geschundenen Kreaturen aus dem Trakt, den sie so menschenverachtend 'Zombielager' genannt haben. Sie wurden bis auf weiteres in regulären Zellen untergebracht. Sie werden dort aber gut versorgt, und es sollen auch so schnell wie möglich Umbaumaßnahmen in Askaban vorgenommen werden. Das Gefängnis muss von Grund auf reformiert werden. Keine Todesstrafe mehr - Dementoren gibt es ohnehin nicht mehr -, keine Folter, keinerlei andere grausame oder entwürdigende Behandlung mehr, und eine ausreichende, gesunde Ernährung. Undsoweiter, undsoweiter, undsoweiter, ein weites Feld. Außerdem müssen die Fälle neu aufgerollt werden. Du bist mit Sicherheit nicht der einzige unschuldig Inhaftierte. Diejenigen, die ganz ohne Prozess verschleppt wurden, müssen endlich ein faires Gerichtsverfahren bekommen. Und die vielen übereilten Kurz- oder Schauprozesse müssen wieder aufgenommen werden. Dieses Mal wird der Grundsatz gelten: In dubio pro reo, im Zweifelsfall für den Angeklagten, und jeder gilt als unschuldig, bis seine Schuld lückenlos bewiesen ist." Er legte bei diesen Worten Snape eine Hand auf die Schulter und fügte hinzu: "Das gilt auch für dich. Wir werden diesen angeblichen Schuldbeweis zerpflücken. Du und ich wissen, dass du unschuldig bist und wir werden auch das Gericht davon überzeugen. Irgendwie... Ich wünschte nur, wir könnten beweisen, dass Pettigrew noch am Leben ist."
Snape seufzte leise. Dann erkundigte er sich: "Und, hat unser hervorragender Ex-Minister Fudge sich seiner Verhaftung sehr widersetzt?"
Zu seinem Erstaunen brach Albus in Gelächter aus. "Nein", antwortete Dumbledore, "ganz und gar nicht. Er hat sich selbst inhaftiert!"
"Wie bitte?"
Der alte Zauberer brauchte vor Lachen einen Augenblick, bis er weiterreden konnte: "Fudge ist vor MacFie in eine Zelle geflüchtet und hat die Tür zufallen lassen! Sie haben ihn dann gleich drin gelassen."
Snape stutzte einen Moment, dann brach auch er in lautes Gelächter aus, was bei ihm eine große Seltenheit war. "Hat der ein Glück", sagte er schließlich und schaute wieder grimmiger, "dass er seine eigenen Haftbedingungen nicht mehr am eigenen Leib erlebt." Dumbledore nickte ernst.

Albus Dumbledore blieb nicht der einzige Besucher in diesen Tagen. Er war auch kaum als Besucher zu bezeichnen, da er fast rund um die Uhr im Ministeriums-Krankenhaus war, wenn nicht gerade sehr dringende Geschäfte seine Anwesenheit in Hogwarts erforderten. Ab und zu kamen Ministeriums-Beamte, um Snape zu befragen, allerdings schonten sie ihn weitgehend, da sein Gesundheitszustand noch alles andere als gut war. Zudem hatten sich die Befragungsmethoden des Ministeriums natürlich auch allgemein sehr gewandelt.
Der Arzt kam täglich mehrmals vorbei, um ihn zu untersuchen, und die Schwestern kümmerten sich um ihn. Snape war nach seinem Entkommen aus Askaban körperlich völlig zusammengebrochen. Sobald er es sich erlauben konnte, war alles nachgekommen: die Erschöpfung, die ausgestandene Angst, die Unterernährung und Unterkühlung, die Nachwirkungen der Misshandlung. Der dreitägige Heilschlaf und Medikamente hatten ihn zu einem großen Teil wieder hergestellt, aber er brauchte noch sehr viel Ruhe.
Was die Ärzte jedoch erstaunte, war die Tatsache, dass Snapes seelischer Zustand, im Vergleich zu seinem körperlichen, relativ stabil war. Er wirkte nicht so traumatisiert, wie er es nach dem Erlebten hätte sein können. Albus, der ihn kannte wie kein anderer, hatte sogar den Eindruck, dass Severus mehr in sich ruhte als früher. Nur in einem Punkt wirkte er sehr besorgt: Lys! Immer wieder fragte er nach ihr, und Albus tat, was er konnte. Bisher leider ohne Erfolg.

"Immer noch kein Anhaltspunkt, Albus?" fragte Severus ungeduldig.
Dumbledore schüttelte traurig den Kopf: "Sie haben immer noch keine Spur von ihr gefunden. Keine Gefangene namens 'Lys' in den Unterlagen von Askaban. Und das muss ich über die alte Verwaltung von Askaban sagen: Mit den Menschenrechten haben sie es leider nicht so genau genommen, aber mit der Bürokratie schon. Wenn diese Lys in Askaban war, müsste sie eigentlich in der Buchführung auftauchen."
"Sie war da!" schrie Snape, der wütend vom Bett aufgesprungen war, "oder hältst du mich für verrückt?"
"Niemand hält dich für verrückt, Severus", besänftigte Albus ihn, "ich glaube dir ja. Und ich werde veranlassen, dass die Unterlagen noch gründlicher überprüft werden. Alles, wirklich alles, was sie da haben."
Snape setzte sich wieder und strich verlegen seinen schwarzen Umhang glatt. Den Umhang, den Albus ihm, ebenso wie andere schwarze Kleidungsstücke, aus Hogwarts mitgebracht hatte, so dass Severus sich schon wieder ein ganzes Stück wohler in seiner Haut fühlte.
"Ich gehe dann mal", sagte Albus, "und mache Druck wegen der Nachforschungen. Bis bald, Severus, mein Freund."
"Bis bald, Albus und... danke."

***



Die Zeit verging hier langsam. Das Krankenhaus war fast ebenso sehr von der Welt abgeschnitten, wie das Gefängnis, wenn auch natürlich auf eine andere Art. Hier war es nicht schlecht, und es gab auch Kontakt zur Außenwelt, aber sie war doch sehr, sehr weit weg vom gleichförmigen Krankenhaus-Alltag. Snape stand oft am Fenster und beobachtete, wie der Herbst allmählich in den Winter überging ging. Draußen, so nah und doch so unerreichbar fern. Er war immer noch ein Gefangener und durfte nicht gehen, wohin er wollte. Zwar hatte das Krankenhaus einen umzäunten Park, doch man hielt es aufgrund seiner schwachen Gesundheit für verfrüht, ihn bei so rauem Wetter ins Freie zu lassen. Er lief Kreise in seinem weißen Zimmer, wie ein Raubtier im Käfig, und wartete, Tag für Tag. Wartete auf seine Genesung, wartete auf Nachricht über Lys, wartete auf Fortschritte in seinem Prozess. Ersteres war bisher das einzige, was Fortschritte machte.

Doch manchmal wendet sich das Schicksal gerade in dem Moment, in dem wir es aufgegeben haben, darauf zu hoffen. Eines Tages flog die Tür des weißen Zimmers auf, und ein Beamter kam herein, gefolgt von Albus Dumbledore und einer aufgeregten Krankenschwester. "Severus Snape?" fragte der Mann vom Ministerium, als wäre die Auswahl an Personen sehr groß.
Snape erhob sich von der Bettkante. "Ja?"
Der Mann händigte ihm einige Unterlagen aus, mit den Worten: "Sie sind entlassen. Ihre Unschuld wurde bewiesen. Im Namen des Ministeriums möchte ich mich für alles, was Ihnen angetan wurde, entschuldigen, auch wenn die jetzige Regierung keine Schuld daran trägt. Auf ärztliche Anordnung bleiben Sie noch zwei Tage hier, damit die nötigen Abschlussuntersuchungen durchgeführt werden können. Danach werden Sie, wie Professor Dumbledore uns zugesichert hat, in Hogwarts weiter gepflegt. Ich darf mich verabschieden und Ihnen schon jetzt eine gute Heimreise wünschen." Er nickte ihm noch einmal kurz zu und verließ das Zimmer in offensichtlicher Eile, mochten seine Amtsgeschäfte daran schuld sein, oder die Peinlichkeit dieser Angelegenheit für das Ministerium.

Snape, der seit dem Eintreten des Beamten noch kein Wort hervorgebracht hatte, sah ihm mit halb offenem Mund nach, dann blickte er fragend zu Dumbledore. Der alte Zauberer strahlte ihn an und nickte: "Ja, Severus, du hast richtig gehört! Du bist ein freier Mann, und deine Ehre wurde wiederhergestellt! Übermorgen kommst du mit mir heim nach Hogwarts!"
Severus saß da wie unter Schock. "Aber... wie... so plötzlich?" stammelte er nur.
Albus Dumbledore strich sich nachdenklich durch seinen weißen Bart. "Tja", sagte er, "es ist ein großes Rätsel, wie es dazu kam. Stell dir vor, Peter Pettigrew, von dem man nicht einmal annahm, dass er noch lebte, hat sich freiwillig den Behörden gestellt! Er hat den Mord an Tony Parker gestanden und dich somit entlastet."
Snape starrte ihn fassungslos an: "Peter Pettigrew? Das ist nicht dein Ernst, oder, dass diese Ratte freiwillig die Wahrheit sagt? Aus schlechtem Gewissen gegenüber einem Unschuldigen?"
"Nein", gab Albus zu, "das sicher nicht."
"Aber warum dann?" Albus sah ihn ratlos an: "Das hat keiner so recht verstanden. Pettigrew war völlig verängstigt, als er sich bei den Auroren gemeldet hat. Offenbar wurde er gezwungen, sich selbst auszuliefern. Von jemandem, vor dem er mehr Angst hat als vor Askaban."
"Aber von wem?"
Albus sah Severus in die Augen und gab ihm die unglaubliche Antwort: "Von Lord Voldemort."

Severus bemühte sich zu begreifen, was er eben gehört hatte. Es machte keinen Sinn! Warum sollte Voldemort einen seiner Leute opfern, um ihn, Severus Snape, zu retten? War er denn ein wertvollerer Todesser für ihn als Pettigrew? Das musste es wohl sein. Pettigrew war ein ziemlicher Trottel, außer zum Töten zu nichts zu gebrauchen. Der Meister der Zaubertränke hingegen war für den dunklen Lord eventuell unersetzlich.
Sobald er das begriffen hatte, seufzte Snape tief und sagte zu Dumbledore: "Nun bin ich also frei. Was man so 'frei' nennt. Denn nach dieser Aktion nehme ich an, dass der Lord Dankbarkeit erwartet und meine Dienste mehr denn je in Anspruch nehmen wird. Oh, Albus, ich will nicht zu ihm zurück! Ich habe es so satt, den Todesser zu spielen und all diese Gräueltaten mit anzusehen. Und ich fühle mich noch viel zu schwach, um das durchzustehen, aber wann hätte Voldemort je auf so etwas Rücksicht genommen? Vielleicht wäre ich hier drinnen doch besser aufgehoben gewesen. Ich hatte für kurze Zeit verdrängt, dass ich nie frei sein werde. Nicht mit diesem Zeichen auf dem Arm."
Er sah Dumbledore resigniert an und fügte hinzu: "Entschuldige, Albus, ich wollte nicht so reden. Natürlich gehe ich zurück, als Spion für dich. Ich weiß, wie wichtig es ist."
Doch Dumbledore schüttelte den Kopf: "Nein, Severus, das wird nicht mehr gehen. Wenn ich einen Spion will, werde ich mir einen neuen suchen müssen. Aber ich glaube, ich werde nicht noch einmal jemanden solcher Gefahr aussetzen. Ich habe es zu oft bereut."
Snape glaubte sich verhört zu haben: "Albus! Das ist nicht dein Ernst! Ich bitte dich, keine falsche Rücksichtnahme! Ich bin bald wieder stark genug, glaub mir. Oder willst du mich nicht mehr?"
Wieder schüttelte Dumbledore den Kopf: "Darum geht es nicht, Severus. ER will dich nicht mehr! Voldemort."
Snape schaute ihn einen Moment lang ungläubig an, dann schlug er die Hände vors Gesicht. "Oh nein!" rief er aus. "Das wird ja immer besser! Voldemort hat mich als Verräter entlarvt! Er holt mich nur hier raus, um Rache an mir nehmen zu können! Albus, ich weiß, was das heißt: Er wird mich foltern und töten."
Doch Dumbledore widersprach abermals: "Das glaube ich nicht. Hier, lies!" Er zog ein zerknittertes Pergament aus der Tasche und reichte es ihm: "Pettigrew trug es bei sich." Snape schauderte leicht, als er die Handschrift erkannte. Dann las er:


Dumbledore! Verfluchter alter Narr!

Hier haben Sie Wurmschwanz, und damit haben Sie Ihren Giftmischer Snape zurück. Ich verstehe zwar nicht, was Sie an ihm finden: Er ist ein elender Verräter und wird Ihnen hoffentlich eines Tages genauso in den Rücken fallen wie mir. Jedenfalls können Sie ihn behalten, ich will ihn nicht mehr! Sagen Sie ihm, ich will ihn nie wiedersehen! Er ist kein Todesser mehr.

Lord Voldemort



Snape las den Brief dreimal, aber der Inhalt veränderte sich nicht. Er war frei? Er war kein Todesser mehr? Lord Voldemort gab jemanden einfach so frei, ohne Rache zu nehmen? So etwas war noch nie vorgekommen und passte auch so gar nicht zu Voldemort! Aber hier stand es, schwarz auf weiß, und es war unverkennbar die Handschrift des dunklen Lords. Hastig schob Severus seinen linken Ärmel hoch und starrte auf seinen Unterarm. Das Brandmal war noch da, aber es war ganz blass geworden. "Es ist also wahr", hauchte Snape, "er wird mich nie wieder rufen." Er fühlte, wie ein ungeheures Glücksgefühl in ihm aufstieg, größer, als dass er es einfach so ertragen könnte, und so stammelte er nur fassungslos: "Aber warum, Albus, warum?"
Doch der weise Zauberer wusste keine Antwort. "Das werden wir vielleicht nie erfahren, Severus", meinte er, "seien wir einfach froh, dass es so ist."
Severus nickte langsam: "Albus... ich habe heute zweimal an einem Tag die Freiheit geschenkt bekommen. Einmal aus der Haft, damit habe ich auch schon kaum noch gerechnet. Aber vor allem die Freiheit von meiner Zugehörigkeit zu diesem... diesem Monster. Ich habe geglaubt, davon gäbe es keine Befreiung mehr, nicht einmal durch den Tod."

***



Der Tag der Abreise war gekommen. Nur noch wenige Stunden, dann würde Severus Snape aus dem Ministeriums- Krankenhaus entlassen werden. Albus war bei ihm, um ihm bei den wenigen Vorbereitungen zu helfen. Er hatte etwas mitgebracht und legte es auf den weißen Nachttisch. "Sieh mal, Severus", sagte er, "Zeitungen! Sie sind voll von deiner Geschichte."
Severus stöhnte.
"Hier!" fuhr Dumbledore aufmunternd fort. "Lies mal die Überschriften: 'Severus Snape, der Held von Askaban', 'Unschuldig Inhaftierter deckt Skandal von Askaban auf', 'Unbeugsamer Professor führt Sturz der verbrecherischen Regierung herbei'."
Snape schnaubte bitter: "Unbeugsamer Professor? Meinen sie den, dem man alles Denken aus dem Kopf prügeln wollte? Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte sich verbiegen lassen, denn um ein Haar hätten sie ihn zerbrochen!"
Dumbledore legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn traurig an: "Ich weiß, Severus, ich weiß. Aber glaub mir, er hat richtig gehandelt. Und sie haben ihn letztendlich nicht gebrochen, nicht wahr? Alle bewundern dich dafür, und das zu Recht! Willst du es nicht lesen?"
"Nein!" sagte Snape sehr überzeugt, "Ich muss mir dieses Geschmiere nicht antun! Ich will es genauso wenig lesen wie das, was sie vorher über mich geschrieben haben! Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Du musst gar nichts sagen."
Dumbledore schwieg betreten. Er konnte leider nicht widersprechen. Er hoffte nur, Severus würde die Ausgaben des Tagespropheten, die er in seinem Kamin in Hogwarts verbrannt hatte, nie andernorts zu sehen bekommen. Zu deutlich hatte er die Überschriften in Erinnerung: "Severus Snape, der Kindermörder von Hogwarts", "Dumbledore deckte jahrelang perversen Todesser", "Interview mit einer Schülerin: Snape war schon immer ein Sadist", "Wir wollen die Bilder von der Hinrichtung!"

"Du sagst nichts?" fragte Snape mit einem höhnischen Grinsen.
"Nein", gab Dumbledore leise zu, "lass uns das Thema beenden. Draußen wartet noch ein Besucher auf dich."
"Wer denn noch?" fragte Snape, "so kurz vor meiner Abreise?"
"Ein Schüler."
Snape guckte genervt. "Ein Schüler? Ich dachte, die könnten es erwarten, bis ich wieder zurück bin."
Dumbledore ging zur Tür, er wirkte sehr ernst. "Er hat dir etwas zu sagen, Severus. Ich lasse euch dann jetzt allein."

Snape blickte auf, als er wenig später ein Geräusch an der Tür hörte. Ein Junge stand vor ihm. Einer, den er lange kannte, und doch erschien er ihm wie ein Fremder. Wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. "Professor Snape? Ich... ich möchte mich bei Ihnen... entschuldigen..." Neville Longbottoms Gesicht war so ängstlich wie jedes Mal, wenn er im Zaubertrank-Unterricht etwas falsch gemacht hatte. Also fast ständig. Wie damals, schien er nun einen furchterregenden Ausbruch von seinem Professor zu erwarten.
Doch der sah ihn nur ruhig und ernst und ein wenig bitter an: "So, Sie sind also gekommen, um mir das zu sagen. Und nun? Wenn Sie das hören wollen: Ja, ich verzeihe Ihnen, Mr Longbottom. Sie haben im Glauben gehandelt, die Wahrheit zu sagen. Es war ein perfekt eingefädeltes Komplott: Sie mussten mich für den Mörder halten." Snape sah in das maßlos erstaunte Gesicht des Jungen, der so gar keine Ahnung von nichts hatte, und merkte, dass es ihn anwiderte. "Was um Himmels willen haben Sie erwartet, Longbottom? Dass ich Ihnen Punkte von Gryffindor abziehe?" fragte er nun doch ein wenig aufgebrachter und lauter, nur um gleich darauf wieder in seinen leisen Tonfall zurückzufallen: "Mein Gott, Neville, Sie haben keinen Kessel explodieren lassen. Sie haben mich in die Hölle geschickt. Wie viele Punkte, meinen Sie, gleichen das wieder aus?"
Neville wusste keine Antwort auf diese Frage und stahl sich wortlos aus dem Zimmer.


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