Engel der Hölle

 

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Kapitel 19


Am Weihnachtsmorgen wurde Severus Snape durch ein lautes Klopfen an der Kerkertür geweckt. "Albus!" rief er aus, nachdem er im Nachthemd zur Tür geschlurft war und sie vorsichtig geöffnet hatte. "Ausgerechnet du machst so ein Getöse? Dich erkenne ich sonst immer an deinem angenehm dezenten Klopfen! Meine Güte, Albus, man könnte meinen, du bist der Weihnachtsmann: Es rumpelt an der Tür, und herein kommt ein alter Mann mit langem, weißem Bart und, zu allem Überfluss, einem roten Mantel!"
"Ho ho ho!" machte Dumbledore ausgelassen. Dann drückte er Snape kurz, ehe dieser protestieren konnte, und rief: "Fröhliche Weihnachten, Severus!"
"Ähm... ja... fröhliche Weihnachten, Albus." Severus ging zu einem Regal und nahm ein Glas mit undefinierbar graugrünem Inhalt herunter. "Hab ich für dich gebraut", sagte er und überreichte Albus das Glas, "es ist ein Stärkungstrank. Für die nächsten hundertfünfzig Jahre und darüber hinaus."
"Oh, Severus", sagte Albus gerührt, "danke!" Dann wurde sein heiteres Gesicht plötzlich traurig. "Weißt du was, Severus? Ich habe gar kein Geschenk für dich! Du hast sonst immer den Eindruck gemacht, als wolltest du keine Weihnachtsgeschenke. Aber dieses Jahr hättest du wirklich etwas bekommen sollen. Hm, vielleicht nachträglich, ja? Denk mal drüber nach, und wenn du irgendeinen Wunsch hast..."
"Ich habe einen", antwortete Snape ohne Zögern.
"Ja?"
Snape sah ihm fest in die Augen und forderte: "Ich möchte im nächsten Schuljahr 'Verteidigung gegen die dunklen Künste' unterrichten."

Dumbledore sah ihn einen Moment lang erstaunt an. Mit diesem Wunsch hatte er jetzt nicht gerechnet. "Ja... also... ähm... und warum?"
"Weil ich das schon immer wollte", sagte Snape, "und weil ich der Beste darin bin."
Der Schulleiter strich sich nachdenklich mit einer Hand durch den Bart. "Dem widerspreche ich gar nicht", meinte er, "aber du bist auch der Beste in 'Zaubertränke'! Es mag ein paar andere Tränkelehrer geben, aber keinen zweiten Meister der Zaubertränke wie dich. Was soll ich denn dann mit diesem wichtigen Fach machen?"
"Das unterrichte ich weiterhin", stellte Snape einfach fest.
"Zusätzlich?" staunte Dumbledore. "Wird das nicht ein bisschen viel?"
"Nein", antwortete Severus sehr überzeugt, "ich schaffe das. Außerdem, bedenke mal: Mein anderer Nebenjob ist ja weggefallen! Der als Spion."
Dumbledore hob beide Arme, wie jemand, der sich geschlagen gibt, und sagte: "Nun dann, also... dann spricht ja wohl nichts dagegen. Du bist ab September mein neuer Lehrer in DADA. Das wolltest du wirklich schon immer, nicht wahr? Das wurde immer gemunkelt. Aber weißt du... Du hast es einfach nie so deutlich gesagt."

Severus ging hinüber zu seiner Bilderwand und betrachtete die Porträts, die nun auch erwacht waren.
"Severus", sagte Albus, "ich gehe jetzt hoch in die Große Halle, zum gemeinsamen Weihnachts-Frühstück. Wie jedes Jahr feiern alle Lehrer und Schüler, die über die Ferien hier geblieben sind, zusammen. Es sind dieses Jahr sogar ziemlich viele. Zieh dir schnell etwas an und komm mit!"
"Ach ja", stöhnte Snape, "die Anwesenheitspflicht bei offiziellen Veranstaltungen!"
Dumbledore guckte etwas enttäuscht: "So solltest du es bitte nicht sehen, Severus. Ich zwinge dich nicht. Aber bitte verkriech dich nicht hier unten, allein mit deinen Bildern, an einem solchen Tag. Du hast da oben auch eine 'Familie'. Eine lebende und ziemlich große."
Snape schnaubte spöttisch: "Familie? So... Na, wenn du meinst... Oh, sicher, meine 'Familie' braucht mich. Jede Familie braucht ein schwarzes Schaf, nicht wahr?"
Dumbledore seufzte: "Ich weiß, Severus. Sie haben sich in der Vergangenheit dir gegenüber wirklich nicht verhalten wie eine Familie. Aber gib ihnen noch eine Chance, bitte! Komm!"
"Na gut, wenn es dich glücklich macht", gab Snape sich geschlagen, aber in seinem Gesicht war deutlich seine Skepsis zu lesen.

***



Die festlich geschmückte Große Halle war beim Weihnachts-Frühstück voller Leben. Nicht so viele Schüler und Lehrer wie sonst, aber doch etliche, saßen an dem gemeinsamen Tisch, den man heute zusammengeschoben hatte, genossen die Vielfalt der Speisen und unterhielten sich angeregt. Geschenke wurden ausgetauscht, gezeigt und verglichen. Professor Snape saß, wie immer schweigend, aber heute mit nicht allzu finsterer Miene, mit am Tisch. Das fröhliche Geschnatter der Kinder erfüllte die Halle mit einem summenden Geräusch, wie einen Bienenstock. Harry Potter angelte sich ein zweites Schüsselchen mit Lebkuchenparfait von einem schwebenden Tablett.

Plötzlich schwangen die Türflügel auf, und mehrere Männer betraten mit energischen Schritten die Halle. Ministeriumsbeamte. An ihrer Spitze ging ein Mann in schlichter, grauer Kleidung, den die meisten Schüler kannten, zumindest aus dem Tagespropheten. Es war der Zaubereiminister höchstpersönlich. Etwa in der Mitte der Halle blieben die Männer stehen. Nur der Minister schritt weiter bis nach vorn zum Gemeinschaftstisch. Nach einem kurzen Nicken in Richtung Dumbledore, bog er ab und ging zur Ecke des Tisches. "Professor Snape!" rief er.

Severus Snape schob seinen Bunten Teller von sich und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Der letzte Rest von Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und er hoffte, dass niemand sah, wie seine Knie weich wurden. Diese ganze Situation - was war das? Ein böser Traum? Ein Deja-vu-Erlebnis? Eine grausame Zeitschleife, die ihn zwingen würde, alles noch einmal oder immer wieder zu erleben? Was würde als nächstes passieren? Würde der Minister seinen schönen, neuen Zauberstab zerbrechen? Würden sie ihn wieder mitnehmen? Wenn dies eine Zeitschleife war, dann hatte sie allerdings einige Fehler: Die Dementoren und Auroren fehlten. Und der Mann, der vor Snape stand und ihm ernst in die Augen sah, hieß nicht Cornelius Fudge, sondern Justus Rightius.

Snape warf einen hilflosen Blick zu Dumbledore. Dieser schien von dem hohen Besuch nicht weniger überrascht zu sein und schaute den Zaubereiminister fragend an. Rightius und Dumbledore tauschten ein paar Blicke und Gesten aus, und dann fing Dumbledore an, wissend zu schmunzeln. "Severus", sagte er geheimnisvoll, "ich glaube beinahe, du bekommst noch ein Weihnachtsgeschenk!"

Justus Rightius zog ein kleines Kästchen aus der Tasche und ließ den Deckel aufschnappen. Er fischte etwas heraus und heftete es an Snapes schwarzen Umhang. "Professor Severus Snape", verkündete er feierlich, "hiermit verleihe ich Ihnen, für Ihre Verdienste um die Menschenrechte, den Merlin-Orden Erster Klasse."

Applaus brach rings um den Gemeinschaftstisch los. Nur Severus Snape stand bewegungsunfähig und sprachlos da und starrte fassungslos auf das Ding an seiner Brust. Er tastete mit der Hand danach, kippte es nach oben und besah es misstrauisch.
Albus zwinkerte ihm zu: "Ja, ja, der ist schon echt, Severus! Und diesmal nimmt ihn dir keiner wieder weg. Versprochen!"
"Ja, aber", stammelte Snape, "aber ich... wofür?"
Minister Rightius sah ihn freundlich an und erklärte: "Das ist für Ihre Verdienste in Askaban. Ohne Sie wären dort noch heute unzählige Menschen in der Hölle auf Erden. Dieser Preis ist mehr als nur eine Entschuldigung an all die Opfer der alten, verbrecherischen Regierung, die stellvertretend für alle an Sie geht, als einen, der unter dieser Unmenschlichkeit gelitten hat. Er ist vor allem der wohlverdiente Dank für Ihre Leistungen. Ohne Sie hätten wir noch immer das alte Regime: Eine Clique von menschenverachtenden Machthabern und die Monster, die deren Macht sicherten: Dementoren."

"Moment", stellte Snape, korrekt wie immer, richtig, "nicht ich habe die Dementoren vernichtet. Das war Heathcliff MacFie."
"Nun ja", meinte Rightius mit einem Lächeln, "aber ihm können wir schlecht einen Orden verleihen. Er ist immer noch ein gesuchter Verbrecher. Und er wird sich auch so schnell nicht finden lassen. Außerdem, ohne Sie wäre MacFie noch immer als seelenloser Sklave in Askaban angekettet und hätte diese Tat niemals vollbringen können."
Snape war trotzdem nicht um Widerspruch verlegen: "Ich habe ihn nicht losgemacht. Das war Albus, oder? Verleihen Sie ihm den Orden! Oder Minerva, sie hat ihn hingeführt."
Doch der Zaubereiminister ließ seinen Einwand nicht gelten: "Nein, nein, nein! Losgerissen hat er sich ganz allein selber. Aber erst, nachdem er seine Seele wieder hatte, und wer hat die befreit? Sie, Professor Snape! Keine Widerrede!"
Severus überlegte einen Moment und war drauf und dran zu sagen, dass er all das auch nicht hätte tun können, wenn ihn nicht vorher jemand befreit hätte: Lys! Doch er entschied sich im letzten Moment dagegen, einen Geist zu erwähnen, der angeblich nur in der "wahnhaften Fantasie Gefangener" existierte.
Rightius deutete sein Schweigen als Zustimmung und überrumpelte ihn mit einem festen Händedruck: "Ich gratulierte Ihnen zu dieser wohlverdienten Auszeichnung, Professor Snape! Sie sind ein besonders wertvolles Mitglied der Zauberergesellschaft. Und nun feiern Sie noch schön!" Damit wandte er sich zum Gehen und ließ ein völlig fassungsloses wertvolles Mitglied der Gesellschaft zurück.

***



Die roten Augen glühen in der wutverzerrten Fratze. Die schlangenhaften Nüstern öffnen und schließen sich hektisch. Der irrsinnige Hass nimmt dem Gesicht noch den letzten Rest seiner ehemaligen Menschlichkeit und lässt das Wesen deutlich als das erscheinen, was es schon seit langem nur noch ist: Ein Monster. Voldemort tobt kreischend und fluchend vor dem Feuer auf der Waldlichtung. Seine Todesser stehen schweigend im Kreis um ihn und die Flammen. Die Masken verbergen ihre Reaktion. Erstarren sie noch in Angst vor dem Zorn ihres Meisters? Oder ist etwa Verachtung oder Spott in einem der verdeckten Gesichter? Voldemort weiß es nicht, und das macht ihn noch rasender. Er wirbelt einmal um seine eigene Achse und besieht sich den Kreis seiner Diener. Wieder zwei weniger. Einer, den er geopfert hast. Einer, den er freigegeben hat. Freigegeben! Argh!

"AAAAAAAAAAAAAAARRRRRRRGGGGGGHHHHHHH!!!!!"

Sein schriller Wutschrei schmerzt in den Ohren. Zum hundertsten oder tausendsten Mal wirft er die Ursache seiner unbändigen Aggression in die Flammen und richtet seinen Zauberstab auf das Feuer, lässt es größer werden, heißer, zerstörerischer. Doch das Ding brennt einfach nicht! Er kann es verhexen, mit seinen bloßen Händen zu zerfetzen versuchen wie ein elender Muggel - das magische Pergament bleibt unversehrt und verspottet ihn! Blickt ihn an, mit den elenden Buchstaben darauf, die ihn verhöhnen. Ihn! Lord Voldemort!
Er dreht durch, glaubt förmlich zu hören, wie es ihm seine Worte entgegen schreit, wie ein verdammter Heuler! Verflucht, er ist nicht mehr der Schüler Tom Riddle, der sich das gefallen lassen musste! Den hat er doch lange hinter sich gelassen! Er ist Voldemort, LORD Voldemort! "ICH BIN DER MEISTER! GEHORCHE!" kreischt er.
Doch das elende Ding will sich nicht unterordnen, demütigt ihn vor seinen Dienern! Wie lange werden sie noch folgen, wenn sie das sehen? Machtlos! Er! Vor diesem Stück Pergament muss er kapitulieren. Denn die drei einzigen Säulen seiner Macht - "Imperio!", "Crucio!", "Avada Kedavra!" - lassen es völlig kalt. Kalt, wie es inmitten der Flammen bleibt. Kalt, wie es ihn auslacht.

Die Todesser stehen steif und stumm da und sehen zu, wie ihr Meister in ohnmächtiger Wut um das Feuer rennt, schreit, die dürren Krallenhände zu Fäusten ballt und mit den Füßen aufstampft. Er bricht in ein irres Lachen aus und liest zum tausendsten Mal die Worte auf dem verdammten Pergament:


"Mein hochgeschätzter Lieblingsfeind Voldemort,

wie lange ist das her? Ich bin zurück! Freust du dich?
Ich hoffe, du hattest eine schöne Zeit auf dem Thron. Danke fürs Einhüten. Aber ich bin aus dem Urlaub zurück, also Platz da! Mach dir einen schönen Lebensabend.

Und noch etwas: Du kennst da einen Freund von mir, Severus Snape. Wag dich nicht, ihn anzurühren oder auch nur in seine Nähe zu kommen, wenn dir der klägliche Rest deines elenden Lebens lieb ist! Du wirst dafür sogen, dass er weder Askaban noch dich und deine jämmerlichen Todesser je wiedersieht.

In altem Hass,

Dein Heathcliff MacFie



***



Harry Potter hatte den Bericht von seinem letzten Traum beendet und blickte zwischen den Professoren Dumbledore und Snape hin und her. "Ich hoffe, Sie können damit etwas anfangen", sagte er etwas unsicher.
"Ich denke, das können wir", meinte Albus Dumbledore. Severus´ Augen glitzerten, und um seinen Mund zuckte ein sehr amüsiertes Grinsen.
"Das war ein seltsamer Traum", fuhr Harry fort, "irgendwie anders als meine bisherigen Visionen von Voldemort. Ich habe immer solche Angst vor diesen Träumen. Voldemort ist so furchterregend. Aber diesmal... diesmal kam er mir irgendwie vor, wie... wie... Rumpelstilzchen?"

Zum ersten Mal in seiner nun bald vollendeten Schulzeit sah Harry seinen strengen Lehrer, Severus Snape, einem unbändigen Lachanfall erliegen.



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