Engel der Hölle

 

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Kapitel 2


Die Große Halle war, wie bei jeder Mahlzeit, voller Leben. Schüler und Lehrer saßen an ihren Tischen, genossen die Vielfalt der Speisen und unterhielten sich angeregt. Nun ja, die meisten jedenfalls. Professor Snape saß wie immer schweigend und mit finsterer Miene am äußersten Ende des Lehrertisches. Die anderen Lehrer erzählten sich gegenseitig die neuesten Leistungen und Streiche ihrer Schüler. Diese wiederum schnatterten über dieses und jenes, was die ganze Halle mit einem summenden Geräusch erfüllte, wie einen Bienenstock.

Harry Potter angelte sich ein zweites Schüsselchen mit Pudding von einem schwebenden Tablett. "Der Nachtisch ist heute besonders lecker, Hermine, probier mal!" verkündete er. Hermine schüttelte energisch den Kopf, so dass ihre braune Lockenmähne flatterte: "Ich muss auf meine Linie achten."
"Ich zum Glück nicht!" strahlte Ron und nahm sich sein drittes Dessert.
"Wo ist eigentlich Neville?" fragte Harry. "Der würde doch sicher mindestens vier davon verdrücken."
"Keine Ahnung", mümmelte Ron mit vollem Mund, "hab ihn seit 'Verwandlung' nicht mehr gesehen."
"Er vergisst ja manches", sagte Hermine spitz, "aber ans Essen hat er bisher immer gedacht."
"Du bist ja nur neidisch", höhnte Ron, "du mit deiner Diät!"

Plötzlich schwangen die Türflügel auf, und mehrere Männer betraten mit energischen Schritten die Halle. Auroren, man sah es an ihrer Uniform. An ihrer Spitze ging ein Mann in schlichter, grauer Kleidung, den die meisten Schüler kannten, zumindest aus dem "Tagespropheten". Es war Cornelius Fudge, der Zaubereiminister höchstpersönlich. Hinter den Auroren aber tauchten Gestalten auf, mit denen die meisten Kinder und Jugendlichen noch keine Bekanntschaft gemacht hatten. Unterdrückte Aufschreie waren hier und da zu hören, als die grauenvollen, riesigen Wesen hereinschwebten. Eisige Kälte erfüllte auf einmal den Raum. Düstere Gedanken bemächtigten sich der bedauernswerten Schüler, die in der Nähe des Mittelganges saßen, als die sechs Dementoren vorbeiglitten. Etwa in der Mitte der Halle blieben die Auroren und die riesigen Kreaturen stehen. Nur Fudge schritt weiter bis nach vorn zum Lehrertisch. Nach einem kurzen Nicken in Richtung Dumbledore, bog er ab und ging zum Ende des Tisches. "Professor Snape!" bellte er, "Sie sind verhaftet!"

Severus Snape schob seine Nachspeise von sich und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Wie in Zeitlupe ging er um das Tischende herum und stellte sich Fudge gegenüber. Er stand sehr aufrecht und wirkte gefasst und ruhig. Doch die Schüler, die weit vorne saßen, konnten Angst in seinen schwarzen Augen aufflackern sehen. "Ihren Zauberstab!" verlangte Fudge.
Snape leistete keinen Widerstand. Er zog den Zauberstab aus der Tasche und reichte ihn dem Minister. Der wirkte einen kleinen Moment lang nervös, solange der Zaubertränke-Meister den Stab noch in der Hand und auf ihn gerichtet hielt. Sobald er ihn zu fassen bekam, riss er den Zauberstab seinem Besitzer hastig aus der Hand und zerbrach ihn.
Snape zuckte kurz zusammen, beherrschte sich aber und zeigte seine Wut nicht. "Was wirft man mir vor?" fragte er in ruhigem Tonfall.
Fudge war weit weniger beherrscht. "Was ich dir vorwerfe, du Monster? Das wagst du noch zu fragen? Wie dreist seid ihr elenden Todesser eigentlich?" Mit einer plötzlichen Bewegung riss er Snapes linken Arm hoch und entblößte das Dunkle Mal. Er zerrte Snape in den Mittelgang und drehte seinen Arm hin und her, so dass jeder einen Blick darauf werfen konnte. "Hier!" schrie er. "Hier! Seht euch das an!"
Snape war vor Schreck wie gelähmt. Alles andere war auszuhalten, aber nicht, dass dieser Mann seine schwache Stelle, seine ganze Scham vor dem versammelten Hogwarts enthüllte! Unfähig sich zu rühren, sah er, wie Fudge seinen Zauberstab zog. Er erwartete einen Fluch, doch der Minister, der komplett die Fassung verloren hatte, holte mit dem Stab aus und begann seinen Gefangenen damit zu schlagen, wie mit einem gewöhnlichen Stock. Er hieb wütend auf seinen Arm ein, genau auf das Dunkle Mal, immer und immer wieder. Die ganze Halle hatte den Atem angehalten, so dass man deutlich das Zischen des Stabes bei jedem Schlag vernahm.
Doch plötzlich donnerte eine magisch verstärkte Stimme durch den Saal: "Aufhören!" Albus Dumbledore hatte sich von seinem Stuhl erhoben und stand, zitternd vor Wut, hinter dem Lehrertisch. "Fudge!" empörte er sich. "Was hat das zu bedeuten? Lassen Sie sofort den Mann los!"
Fudge ließ von Snape ab und schien wie aus einem Rausch zu erwachen. Keuchend schöpfte er Atem, dann schüttelte er mit einem kalten Lachen den Kopf: "Oh nein, Professor Dumbledore, geben Sie sich keine Mühe! Diesmal retten Sie Ihren elenden Todesser-Freund nicht!"
Der Schulleiter zwang sich nun zu einem ruhigerem Tonfall und versuchte zu erklären: "Fudge, Sie wissen schon lange, dass Professor Snape ein Todesser war. Doch Sie wissen ebenso gut, dass er es längst nicht mehr ist, und - ja, nun weiß es dank Ihnen jeder - dass er unser Spion gegen Voldemort ist. Also, was soll das?"
Fudge grinste zynisch und erwiderte: "Sicher bin ich mir nur, dass er ein Spion ist, aber nicht wessen Spion. Doch darum geht es schon gar nicht mehr. Er wird ganz anderer Verbrechen angeklagt, als nur irgendein Todesser zu sein."

Snape hatte inzwischen seine Starre abgeschüttelt und machte einen Schritt auf Fudge zu. Dieser wich zurück und winkte seine Auroren und Dementoren heran. Auf seinen Befehl packten drei Auroren gleichzeitig Severus Snape und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Zwei Dementoren postierten sich in der Nähe des Gefangenen und begannen röchelnd die Luft einzuziehen. Sichtlich geschwächt, sank Snape auf die Knie. Er hasste es, vor Fudge und den versammelten Schülern und Kollegen auf den Knien zu liegen, doch seine Beine waren unter ihm weggeknickt. Die Auroren drückten ihn gewaltsam nach unten, und die Dementoren raubten ihm jegliche Widerstandskraft. "Sie sind ein Feigling", zischte Snape verächtlich, "brauchen Sie immer so viele Helfer gegen einen einzelnen, unbewaffneten Mann?"
"Und Sie sind ein unverschämter Kerl, Snape!" brauste Fudge auf. "Aber das wird Ihnen schnell vergehen. Severus Snape, ich verurteile Sie zum Kuss der Dementoren!"

Ein entsetztes Aufstöhnen lief durch die Reihen der Schüler. Harry, Ron und Hermine blickten sich fassungslos an. Kaum jemand hier im Saal mochte Severus Snape, aber das hier erschreckte sie alle zutiefst. Der Kuss der Dementoren war das furchtbarste Schicksal, das einem Menschen zuteil werden konnte, schlimmer als der Tod! Was musste Snape verbrochen haben, um so bestraft zu werden? Es war schwer auszumachen, was die jungen Zauberer mehr erschreckte: dass ihr verhasster Lehrer ein Todesser war (nur ganz wenige hatten es gewusst), oder was mit ihm geschehen sollte.

Fudge und die Auroren wichen zurück, als die Dementoren näher kamen. Nicht nur die beiden, die schon um Snape herum postiert gewesen waren, sondern alle sechs Dementoren. Snape, nun nicht mehr gewaltsam festgehalten, blieb auf den Knien liegen und starrte ihnen wie versteinert entgegen. Sechs Dementoren waren zuviel für den stärksten Mann. Snape war einer Ohnmacht nahe, so gnadenlos saugten die Kreaturen durch ihre bloße Nähe jeden Rest von Zuversicht oder Lebenskraft aus ihm heraus. Kurz entschwand er den Blicken der Schüler, als die Dementoren ihn in einem lückenlosen Kreis umringten. Doch dann sahen sie ihn: Hochgehoben von einem der schrecklichen Wesen, schwebte er hoch über ihren Köpfen. Die anderen Dementoren wichen ein Stück zurück.

Die Schüler starrten auf den Mann, der ihnen immer groß, stark und gefährlich erschienen war. Eine furchteinflößende Macht und Autorität ausstrahlend, fähig, jeden von ihnen durch ein Wort oder einen Blick in Angst und Schrecken zu versetzen, ein unbesiegter Meister der Zaubertränke und des Duells, sich und andere eisern beherrschend. Sie blickten zu ihm auf, sie hassten und fürchteten ihn. Wie ein bedrohlicher Schatten pflegte er über ihnen aufzuragen, schwarzer Umhang, schwarze Haare, schwarze Augen. Doch jetzt, gepackt von den Klauen eines vier Meter großen Ungetüms, umringt von fünf weiteren, ebenso riesigen Monstern, hoch oben in der Luft baumelnd, erschien er plötzlich so winzig klein und zerbrechlich.
Schlaff hing er in den Krallen des Dementors, gerade noch genug bei Bewusstsein, um zu sehen, was auf ihn zukam. Er sah aus wie ein kleines Spielzeugfigürchen, gehalten von riesigen, erbarmungslosen Händen. Sein Kopf bog sich in einer hilflos ausweichenden Bewegung nach hinten, als das furchtbare 'Gesicht' des Dementors sich ihm näherte. Die Kapuze des Ungeheuers war heruntergerutscht und entblößte einen Anblick, der in seiner absoluten Widerwärtigkeit unbeschreiblich war. Die Zuschauer, weit unterhalb der Szene, fühlten fast ihre Sinne schwinden. Severus Snape aber sah alles aus nächster Nähe: Das halb verweste Fleisch des Dementors, die leeren, mit schorfiger Haut überspannten Augenhöhlen, den riesigen, tunnelartigen, nach Fäulnis stinkenden Schlund. Die langen Krallen der schleimigen, grauen Hände bohrten sich noch fester in das wehrlos zuckende Opfer, während der Mund sich seinen verzweifelt zusammengepressten Lippen näherte.
"Nein!" wimmerte Hermine. Wie alle anderen, starrte sie auf die Szene wie hypnotisiert, so gern sie ihre Augen abgewendet hätten. Ihr Nein hallte gespenstisch in der Stille. Kein anderer brachte einen Laut heraus. Das Opfer selbst war unfähig zu schreien. Doch die Krallen bohrten sich schmerzhaft tiefer. Irgendwann würde der Punkt erreicht sein, wo er aufschrie, den Mund weit öffnete, und dann...

"Expecto Patronum!" Plötzlich zuckte ein gleißend heller Blitz durch die Große Halle. Geblendet kniffen alle Anwesenden die schmerzenden Augen zu und wurden so endlich von dem grausamen Anblick erlöst. Die wenigen, die es schafften, ihre Augen vorsichtig wieder ein Stück weit zu öffnen, sahen, dass die Dementoren wie erstarrt dastanden. Eine Art weißer Nebel lag in dem schmalen Spalt zwischen den Gesichtern Snapes und des Ungeheuers. Albus Dumbledore stand zu Füßen des furchtbaren Wesens und hielt mit ausgestrecktem Arm seinen Zauberstab darauf gerichtet. Der alte Zauberer mit dem langen, weißen Bart wirkte machtvoll, obwohl er von dem Dementor mehr als zwei Meter weit überragt wurde. Dessen Klauen lösten sich wie unter einem Zwang von seinem Opfer und ließen Snape einfach fallen. Albus Dumbledore breitete die Arme aus und fing seinen Freund auf. Er wankte nicht und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Snapes Gewicht aus großer Höhe auf ihn niederfiel. Er hielt den bewusstlos gewordenen Mann fest, als hätte man ihm sanft ein federleichtes Baby in den Arm gelegt. Die Zuschauer erahnten etwas von der ungeheuren Kraft, die in diesem alten Mann steckte.

"Was machen Sie da?" schrie Fudge, als er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte, "Sie behindern die Ausübung der Justiz!" Doch ein Blick aus Dumbledores zornfunkelnden, hellen Augen schüchterte ihn soweit ein, dass er stehen blieb und keine weiteren Anstalten machte, dem Schulleiter den ohnmächtigen Mann zu entreißen.

Behutsam setzte Albus Dumbledore seine Last ab. Er fand nichts, woran er Snape anlehnen konnte und musste ihn auf den Boden legen. Die Schüler starrten auf ihren Lehrer, der besinnungslos im Mittelgang lag, knapp dem Verlust seiner Seele entgangen, der ihn für immer so, als Hülle ohne Bewusstsein, zurückgelassen hätte. Und sie blickten auf ihren Direktor, der ehrfurchtgebietend vor dem Zaubereiminister stand. Eigentlich stand Fudge in der Hierarchie der Macht über ihm, doch der weißhaarige Mann sah viel respekteinflößender aus. Fudge, der Minister, wirkte neben ihm nur wie der mickrige, graue Beamte, der er im Grunde immer noch war. Eine kleinliche Bürokratenseele neben einem wahrhaft machtvollen Geist. In leicht geduckter Haltung stand Fudge dem alten Zauberer gegenüber. Hinter ihm warteten die Dementoren regungslos auf seinen Befehl, und die Auroren hielten sich ganz im Hintergrund.

Dumbledores Stimme hallte, auch ohne einen erneuten Sonorus-Zauber, laut durch den Saal. Seine Stimme bebte vor Zorn, als er Fudge anfuhr: "Was glauben Sie, wer Sie sind, hier in meine Schule einzudringen, ohne mich zu fragen, und einen meiner Lehrer dem Tod, nein, Schlimmerem überantworten zu wollen? Was fällt Ihnen ein, Ihre widerlichen, seelenfressenden Diener an diesen Ort des Friedens zu bringen? Wie kommen Sie dazu, einen Professor vor den Augen seiner Schüler zu verhaften, statt dies dezent vor der Tür und nach Absprache mit mir zu vollziehen? Noch dazu, ohne einen Grund für seine Verhaftung zu nennen! Wie können Sie es wagen, einen Menschen vor den Augen zahlloser unschuldiger Kinder zu misshandeln und dieser furchtbarsten aller Grausamkeiten, dem Kuss der Dementoren, auszusetzen? Schon der bloße Anblick dieser Kreaturen kann einige dieser jungen Menschen für den Rest ihres Lebens geschädigt haben!"

Nie zuvor hatten die Schüler und Lehrer von Hogwarts ihren Direktor so außer sich vor Zorn erlebt. Fudge kroch bei seinen Worten ein Stück rückwärts, als würde er von einem heftigen Windstoß fast umgeblasen. Doch als der Widerhall von Dumbledores Stimme in den Weiten der Halle verklungen war, streckte Fudge seinen Kopf, den er, ähnlich einer Schildkröte, eingezogen hatte, wieder hervor und lächelte den alten Zauberer triumphierend an, als er entgegnete: "Ich habe gute Gründe so zu verfahren, wie ich es tue, und das Gesetz ist auf meiner Seite, Dumbledore. Sie wollen den Grund für Snapes Verhaftung? Sie sollen ihn sehen! Und ich möchte behaupten, dass Sie Ihren zweifelhaften Freund dann bereitwillig selbst in die Hände des Dementors zurücklegen werden. Anderenfalls würden Sie ein sehr schlechtes Licht auf sich und Ihre Schule werfen, Dumbledore." Er gab einem der Auroren, der nahe der Tür stand, einen Wink. Dieser verschwand kurz nach draußen und kehrte, einen Menschen tragend, zurück. Die Person hing so schlaff in seinem Arm, wie vorher Snape in den Armen Albus Dumbledores. Der Auror schritt den Mittelgang entlang bis zu Albus Dumbledore und legte den leblosen Körper vor ihm nieder. Dumbledore starrte darauf herab. Es war der Körper eines schmächtigen Jungen, und der Schulleiter kannte ihn. Es war Tony Parker aus Ravenclaw, siebte Klasse, ein intelligenter, sympathischer Junge, auf den er viel Hoffnung gesetzt hatte. Und er war tot.

Der alte Mann kniete sich neben den Jungen und ergriff seine Hand. Sie war eiskalt, und kein Puls war zu fühlen. Fassungslos schüttelte Dumbledore den Kopf, und Tränen traten in seine Augen. "Wer hat das getan?" flüsterte er.

Fudge lachte auf. "Das kann ich Ihnen sagen!" rief er aus, "das war Ihr sauberer Freund!" Er richtete seinen Zauberstab auf Snape und sagte einen Spruch, der den Bewusstlosen weckte. Severus Snape öffnete mühsam die Augen und blinzelte ins Licht. Er schien überlegen zu müssen, wo er war und was um ihn herum vorging. Als er seine Lage erfasste, stützte er sich mühsam auf die Arme, um wenigstens seinen Oberkörper aufzurichten. Er wollte nicht hilflos und schwach vor aller Augen herumliegen. Sein Blick fiel auf den toten Jungen, und er erstarrte.
"Ja, sieh nur hin!" schrie Fudge, "sieh dir an, was du getan hast, Monster! Elender Kindermörder!"
Snapes Augen weiteten sich, und blankes Entsetzen lag darin. Er schüttelte kraftlos den Kopf. Dumbledore musste sich dazwischenwerfen, damit Fudge nicht erneut auf den Mann losging. "Fudge!" gebot er mit heiserer Stimme, "nehmen Sie bitte Vernunft an! Es ist etwas Furchtbares geschehen, und ich verstehe Ihre Aufregung. Aber ich muss Sie bitten, einen klaren Kopf zu bewahren und nicht voreilig Handlungen zu begehen, die nicht wiedergutzumachen wären! Was auch immer passiert ist, ich versichere Ihnen: Severus Snape ist nicht der Mörder dieses Jungen!"

"Was macht Sie da so sicher?" schnaubte Fudge, "der Narr, den Sie unverständlicherweise an diesem grässlichen Kerl gefressen haben, macht Sie blind, alter Mann!"
"Er ist kein Mörder!" beharrte Dumbledore, ohne die Spur eines Zweifels, "ich kenne ihn, und wohl nur ich allein kenne ihn. Dieser Mann ist kein Mörder, er hat im Gegenteil schon oft sein eigenes Leben riskiert, um andere zu retten. Sie verurteilen ihn aufgrund des Mals auf seinem Arm oder anderen äußerlichen Dingen. Aber ich sehe in sein Herz."
Severus Snape warf seinem Beschützer einen dankbaren Blick zu und sah dann vorsichtig hinüber zu dem Minister. Doch der starrte voller Hass und Abscheu auf ihn herunter. "Nein", sagte Fudge kalt, "ich verdamme ihn nicht aufgrund irgendwelcher Vorurteile. Ich verurteile Severus Snape verdientermaßen zur schwersten nur denkbaren Strafe, aufgrund klarer Zeugenaussagen und Beweise!" Er erteilte den Auroren einen erneuten Wink.

Die Tür wurde geöffnet, und ein Junge betrat die Große Halle. Sein Gesicht war totenbleich, sein Blick war starr, als hätte er ein furchtbares Gespenst gesehen. Er wankte mit schleppenden Schritten, doch zielstrebig, den Gang entlang. Sein rechter Arm war ausgestreckt und deutete zitternd nach vorn. Als er auf der Höhe von Harry, Ron und Hermine vorbeikam, erschraken die drei. "Neville!" flüsterte Harry.

Der blasse Junge ging bis zu seinem toten Kameraden, blieb stehen und starrte auf ihn hinunter. "Dein Freund Tony ist tot", sagte Fudge laut und deutlich, "sag uns, Neville Longbottom: Wer hat das getan?" Neville zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf den Mann am Boden, hinter Dumbledore: "Er war es!" rief er, "Professor Snape!"

Ein Raunen ging durch die Große Halle. Alle Blicke richteten sich auf Snape, der den Jungen angsterfüllt anstarrte. Das Mitleid in den Blicken war Neugier, bei manchen bereits Hass gewichen. Albus Dumbledore schaute zwischen dem Zeugen und dem Angeklagten hin und her, als erwarte er eine Erklärung. "Erzähl uns bitte ganz genau, was du gesehen hast!" forderte Fudge den Jungen auf.

Stockend begann Neville zu reden, und da seine Stimme sehr leise war, verstärkte Fudge sie mit einem Sonorus-Zauber. Jeder sollte seine Aussage hören. Die künstlich verstärkte, eigentlich ganz piepsige Stimme hallte unheimlich durch den Raum: "Ich... wir waren unten beim See... Tony und ich... und dann, dann war da ein Schatten... Es war Snape...Er hat mich versteinert, ich konnte nichts tun! Wirklich, ich konnte nichts tun! Aber ich habe alles gesehen. Er... er hat Tony getötet. Einfach so! Avada Kedavra. Tony fiel um, er war... tot. Dann hat er meinen Fluch gelöst. Snape, meine ich. Ich habe ihn angezündet, mit Incendio. Aber er hat mich entwaffnet und... und... und..." Seine Stimme versagte.
"Bitte", drängte Fudge, "wir wollen es alle hören: Was hat er mit dir gemacht, Neville Longbottom?"
"Crucio..." Die Stimme des Jungen war trotz der magischen Verstärkung kaum zu hören, und er senkte den Kopf. Zu schrecklich war die Erinnerung an den Fluch, der ihn gequält hatte, denselben Fluch, der ihm Jahre zuvor seine Eltern genommen und nach St. Mungo´s gebracht hatte.
"Professor Snape hat dich gefoltert?" hakte Fudge mit lauter Stimme nach.
"Ja, Sir."

"Fassen wir es noch einmal laut und deutlich zusammen, für alle, die es nicht hören oder nicht glauben konnten: Dieser Mann, Professor Severus Snape, Lehrer in Hogwarts, hat einen der ihm anvertrauten Schüler kaltblütig ermordet und einen weiteren grausam gefoltert. Ist es so, Neville Longbottom?" hallte Fudges Stimme durch den Saal.
Diesmal waren Nevilles Worte laut, fest und anklagend: "Ja, Sir. So ist es."

Severus Snape sah seinen Schüler fassungslos an. Er schüttelte nur ungläubig den Kopf und brachte kein Wort heraus. Fudge warf ihm einen triumphierenden Blick zu, Dumbledore einen fragenden, und überhaupt alle Augen im Raum waren auf ihn gerichtet. Snape wollte sich nur noch verkriechen, doch es gab keinen Ausweg. Der menschenscheue Mann war umzingelt von Menschen, von Blicken, von Hass. Er machte einen erneuten Versuch, aufzustehen, doch es gelang ihm nicht. Wenn er doch nur nicht so grauenhaft schwach wäre! Wenn sie doch nur nicht so gnadenlos hinschauen würden, auf seine Schwäche! Er sank erschöpft zurück auf den Boden und drehte den Kopf nach dem Zeugen. "Warum, Neville?" flüsterte er, "warum tun Sie mir das an? Ich weiß, ich war nie sehr nett zu Ihnen, aber warum tun Sie mir das an?"
Neville blickte nur voller Wut auf ihn herab. Doch Fudge hatte die leisen Worte gehört und ereiferte sich: "Wollen Sie etwa immer noch leugnen, Snape? Sie wollen allen Ernstes diesen Zeugen, eines ihrer Opfer, auch noch in Misskredit bringen und der Lüge bezichtigen? Aber das soll Ihnen nichts nützen! Wir werden Ihre Täterschaft beweisen!"
"Ich bitte darum!" forderte Albus Dumbledore, "denn bevor Sie seine Schuld nicht glaubwürdig bewiesen haben, werden Sie diesen Mann nicht mehr anrühren!"

Fudges Gesicht wirkte siegessicher, als er sich erneut an seinen jugendlichen Zeugen wandte. "Neville Longbottom", sagte er laut und langsam, "Professor Dumbledore, und ich nehme an, auch alle Anwesenden, möchten Beweise sehen. Ich frage dich noch einmal: War der Mann, der deinen Freund ermordet und dich gefoltert hat und den du zwischen diesen Verbrechen mit einem Incendio-Zauber angezündet hast, der hier anwesende Severus Snape?"
"Ja, Sir."
"Reich mir bitte deinen Zauberstab! Wir wollen das überprüfen." Neville zog seinen Zauberstab aus der Tasche und legte ihn in die Hand des Ministers. Dieser fragte weiter: "Hast du deinen Stab seit diesen Vorkommnissen noch einmal benutzt?"
"Nein, Sir."
Fudge nickte zufrieden. Er hob den Stab mit einer Hand hoch und präsentierte ihn dem Publikum. "Dann wollen wir uns einmal ansehen, wen dein Flammenzauber getroffen hat! PRIOR INCANTATO!"

Aus dem Zauberstab, den Fudge immer noch deutlich sichtbar in die Höhe hob, erhob sich zuerst eine Art Nebel, dann nahm dieser Konturen an, und es erschien das gut erkennbare Abbild eines Mannes, an dessen Umhang kleine Flammen hochzüngelten. Der Mann war Severus Snape.

Ein entsetztes Aufheulen ging durch die Reihen. "Nun hat es unserem schwarzen Unschuldslamm die Sprache verschlagen, was?" wandte sich Fudge triumphierend an Snape. Doch wenn dieser auch hilflos am Boden lag, so wollte er dem Minister doch wenigstens nicht den Sieg gönnen, ihn mundtot gemacht zu haben. Worte waren immer seine schärfste Waffe gewesen, nicht körperliche Gewalt. Er brachte ein sarkastisches Lächeln auf seinem erschöpften Gesicht zustande und sagte leise, aber deutlich: "Zu schade, dass Sie meinen Zauberstab zerbrochen haben, Herr Minister! Sie hätten sich eine lange Reihe vergangener Flüche dieses Stabes ansehen müssen, bis Sie endlich einen Unverzeihlichen finden. Vielleicht, wenn Sie sich die Mühe machen, alles zurückzuspulen bis vor ca. 15 Jahren... Aber diesen Aufwand wäre es Ihnen sicher wert gewesen, um meine Seele an Ihre Haustiere verfüttern zu dürfen."

Fudge verlor bei diesen Widerworten den letzten Rest seiner Beherrschung. Er sprang mit einem Satz an Dumbledore vorbei, und bevor dieser reagieren konnte, hatte er dem am Boden liegenden Snape eine schallende Ohrfeige verpasst. Der Schuldirektor packte den Minister mit einem unerwartet harten Griff am Arm und zerrte ihn von seinem Opfer weg. Doch Fudge riss sich los und sah Dumbledore zornbebend an. "Nehmen Sie die Finger von mir, Dumbledore, oder es wird Folgen für Sie haben! Die Zeiten, wo Sie Ihr Ansehen gegen die Autorität des Ministeriums ausspielen konnten, sind endgültig vorbei! Wie viele Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet! Jetzt ist Schluss mit Ihren Alleingängen und Eskapaden, alter Mann. Sie können froh sein, wenn Sie Ihre Schule und Ihren Posten behalten dürfen, wenn die Welt erfährt, dass Sie jahrelang einem Todesser und Kindermörder Schutz gewährt haben und dies sogar jetzt noch versuchen! Jetzt, nachdem Sie und wir alle den Beweis gesehen haben!"

Dumbledore nickte langsam und ernst mit dem Kopf, dann sprach er: "Darum geht es also. Ich werde Ihrer Behörde nicht mehr im Wege stehen, Mister Fudge, wenn das so empfunden wird. Wenn es gewünscht wird, werde ich auch mein Amt als Schulleiter zur Verfügung stellen. Aber bitte, benutzen Sie nicht Professor Snape als Mittel zum Zweck, um das zu erreichen. Es ist nicht nötig."

Doch Fudges Groll wegen Dumbledores ständiger "Einmischungen" schien tiefer zu sitzen, als dieser je vermutet hätte. Er hatte endlich seinen Triumph, und er wollte ihn auskosten. Einmal im Leben hatte er den großen Albus Dumbledore in der Hand, und er wollte es genießen. Er wusste, was ihn mehr als alles andere schmerzen würde. Denn Dumbledore war im Grunde ein töricht unpolitischer Mensch, dem der Verlust eines Freundes mehr ausmachte, als der seiner Ämter und Würden. "Dumbledore", sagte er mit gespielter Freundlichkeit, doch mit einem unüberhörbaren, scharfen Unterton, "es mag ja sein, dass Ihnen Ihr eigener Ruf egal ist. Sicher doch aber nicht der Ruf und die Zukunft Ihrer ganzen Schule, Ihrer Kollegen und Schüler." Hier spielte er erneut die Freundschafts-Karte aus. "Sie möchten doch nicht, dass diese schöne Schule geschlossen wird, weil Sie versuchen, einen überführten Mörder seiner Bestrafung zu entziehen?"

Dumbledore seufzte. "Nein", sagte er traurig, "das möchte ich nicht. Ich habe auch gar nicht die Macht, Professor Snape vor einer Bestrafung zu bewahren, wenn er tatsächlich ein Mörder sein sollte. Ich bitte Sie nur, hier vor Zeugen, um eine faire Gerichtsverhandlung, auch wenn diese leider in letzter Zeit aus der Mode gekommen sind. Denn ich glaube noch immer an Severus´ Unschuld. Ja, auch ich habe Ihre Beweislast gesehen, und ich gebe zu, sie ist erdrückend. Aber ich sehe auch die Augen meines Freundes, und sie sagen mir, dass er unschuldig ist. Ich kann Sie nicht daran hindern, ihn mit nach Askaban zu nehmen. Aber ich bitte Sie, und ich spreche im Namen aller, die sich in diesen Zeiten noch Menschlichkeit bewahrt haben: Setzen Sie Severus Snape nicht dem Kuss der Dementoren aus! Diese Strafe ist unmenschlich, selbst an einem schuldigen Mörder. Selbst der Tod wäre ihr vorzuziehen. Sehen Sie doch, Fudge, Ihr Gefangener hat Ihnen keinerlei Widerstand geleistet, und nun ist er kaum bei Bewusstsein. Es ist absolut unnötig, dass Sie ihn auf diese Art behandeln. Sie können ihn ohne jede Mühe nach Askaban in sichere Verwahrung bringen. Bitte, Mister Fudge!"

Fudge biss sich auf die Unterlippe. Er hatte keine Lust, sich dem Druck von Dumbledores Worten zu beugen. Doch er wusste, dass sie zweifellos Eindruck auf die Anwesenden machten. Der Minister würde sich in ein schlechtes Licht rücken, wenn er sie ignorierte. Innerlich fluchte er und wünschte, Dumbledore wäre wütend und aufbrausend geworden. Dagegen ließ sich leichter kämpfen, als gegen diese unerträgliche Weisheit und Güte. Aber immerhin, der große Zauberer hatte ihn vor aller Augen um etwas bitten müssen, und es war auch kein schlechtes Gefühl, ihm nun in seiner Großmut ein gnädiges Zugeständnis zu machen, und dabei dennoch mit seiner Macht zu drohen.
"Also gut, Dumbledore", verkündete er gönnerhaft, "ich werde Mister Snape für heute noch verschonen. Wir werden ihn mit nach Askaban nehmen. Ich gebe Ihnen vierzehn Tage Zeit. Wenn Sie bis dahin das Unmögliche schaffen und seine erwiesene Schuld widerlegen, gehört er Ihnen. Wenn nicht, erleidet er am 15. Tag den Kuss der Dementoren. Denn er ist nicht nur ein Todesser, er hat nicht nur die Unverzeihlichen Flüche gebraucht, gemordet und gefoltert. Er ist das Widerlichste, was es gibt, ein Kindermörder. Ein Lehrer, der sein Amt in dieser Weise missbraucht! Wer, wenn nicht Leute wie er, sollten die Höchststrafe erhalten, damit Gerechtigkeit herrscht in unserer Welt?"
Dumbledore atmete tief durch, dann sagte er mit erzwungener Ruhe: "Ich möchte mit Ihnen nicht über Gerechtigkeit und den Sinn gewisser Strafen diskutieren. Stattdessen danke ich Ihnen für den Aufschub. Ich werde mich bemühen, einen Beweis für seine Unschuld zu finden. Auch wenn ich immer der Meinung war, ein Angeklagter gelte als unschuldig bis zum Beweis seiner Schuld, nicht umgekehrt."
Doch Fudge schüttelte den Kopf: "Sie wurde bereits bewiesen, vergessen Sie das nicht! Dieser Aufschub ist ein völlig unsinniges und lächerliches Zugeständnis an Sie, mein uneinsichtiger Herr, und bedeutet meiner Meinung nach nur eine Verlängerung der Leiden des Verurteilten. Aber bitte..."

Er gab den Auroren einen Wink und rief: "Abführen!" Vier Männer umringten Severus Snape und ließen magische Schnüre aus ihren Zauberstäben schießen, mit denen sie ihn fesselten, obwohl er sich ohnehin kaum rühren konnte. Dann schleppten sie ihn weg. Er warf einen langen, flehenden Blick zu Albus Dumbledore, bevor er dessen Blicken entschwand.


Kapitel 1

Kapitel 3

 

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