Engel der Hölle

 

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Kapitel 5


Severus versank immer wieder in einen Zustand irgendwo zwischen tiefem Schlaf und Ohnmacht. Ihm war nicht mehr ganz so kalt, und sein Durst war gestillt. Nur seinen Armen ging es immer schlimmer. Sie waren eiskalt, da er sie nicht unter den Umhang stecken konnte und nur das kurzärmelige Shirt trug. Vor allem aber waren sie inzwischen so gut wie abgestorben und gefühllos (letzteres war fast schon eine Gnade).
In den Schultern hatte er noch Gefühl, und die dauernde unnatürliche Haltung verursachte Schmerzen in den Gelenken, die langsam unerträglich wurden. Sie hinderten ihn daran, wieder in den gnädigen Dämmerzustand zu versinken, und er gab ein kurzes Wimmern von sich. Ein Eingeständnis seiner Schwäche, aber hier hörte ihn eh niemand.
Er versuchte vergeblich, seine Lage zu ändern, da nun auch sein Rücken gegen das dauernde Liegen revoltierte. Doch die Bemühung, sich auf die Seite zu drehen, führte nur zu noch stärkeren Schmerzen in den Schultergelenken und zu allem Überfluss dazu, dass ihm der wärmende Umhang vom Oberkörper rutschte. Ah, da war er wieder, ein Glück! Mami steckte die Decke wieder um ihn fest. "Danke, Mami!" Moment...!

Severus riss die Augen auf. Er war verdammt nochmal wach und weigerte sich zu glauben, dass er bereits derart wahnsinnig war! Mami sollte gefälligst in seinen Träumen bleiben, wo sie hingehörte! Eine Hand verschwand hastig von seiner Stirn, als er die Augen öffnete. Sie schob sich unter seine linke Seite und stopfte den Umhang nochmals fest.
Severus blinzelte ein paar Mal, aber das Gesicht der Frau war immer noch dicht über seinem. "Nichts zu danken, mon corbeau. Aber warum nennst du mich 'Mami'? Die ganze Zeit tust du das. Ich bin es doch: Lys." Sie strich ihm eine Haarsträhne aus den Augen. Ihre Hand war leicht wie eine Feder.
Severus wollte von seinem Bett hochfahren, doch die Kette riss ihn schmerzhaft zurück. "Wer sind Sie?" keuchte er. "Was fällt Ihnen ein, mich zu beobachten? Ich habe nicht gern Zuschauer in einer solchen Lage, wissen Sie? Und dies hier, auch wenn es nur eine schimmelige Zelle ist, aber es ist MEINE Zelle!"
Sie sah ihm ruhig in die Augen. "Ich bin es doch nur: Lys", sagte sie mit ihrem seltsamen französischen Akzent, "und du brauchst mich. Es geht dir schlecht, mon corbeau."
Ihr besorgter Tonfall und ihr ergebener Blick erinnerten ihn an eine Hauselfe, doch sonst sah sie entschieden anders aus. Sie war eine zarte, beinahe zerbrechlich wirkende, junge Frau mit langen, hellbraunen Haaren, in denen etwas Stroh hing, und sanften, blauen Augen. Sie war viel zu spärlich bekleidet für die Temperatur in diesem Verlies, und ihr Kleid war zerrissen und hatte die undefinierbare Farbe der Umgebung angenommen. "Wer oder was sind Sie?" fragte Snape.
"Eine Gefangene von Askaban", entgegnete sie.

'Ah, sicher, eine Gefangene von Askaban!' höhnte eine Stimme in seinem Kopf, 'klar, Gemeinschaftszellen sind in Askaban üblich, vor allem gemischtgeschlechtliche. Ihr müsst schon früher aufstehen, wenn ihr mir eine Spionin unterjubeln wollt. Denkt ihr allen Ernstes, dass ich einer kuhäugigen jungen Dame mehr erzählen werde, als euren prügelnden Folterknechten? Aber immerhin, es ist eine weitaus angenehmere Form des Verhörs.'

"Also gut, wenn Sie schon einmal hier sind", wandte er sich an die Frau, "dann könnten Sie mir bitte noch einmal das Wasser reichen. ... Auch wenn ich bezweifle, dass Sie mir ernsthaft das Wasser reichen können!" Das musste jetzt einfach sein.
Sie sah ihn ruhig an, dann holte sie den Krug und hielt ihn vorsichtig an seine Lippen. Er trank das restliche Wasser aus, was nicht leicht war, da die Kette ihn daran hinderte, seinen Oberkörper aufzurichten. "Danke", murmelte er, als sie den leeren Krug fortnahm, "für meine Bemerkung hätten Sie mir das Wasser eigentlich ins Gesicht schütten sollen."
"Warum sollte ich das tun?" fragte sie. "Es ist kalt hier drinnen, und du wirst krank, wenn du nass bist."
Sie war wirklich nicht aus der Ruhe zu bringen! Umso mehr machte es ihn wahnsinnig. Er verdrehte kurz die Augen und erwiderte: "Ich meinte ja nur, weil meine sarkastischen Sprüche nicht jedermanns Sache sind." Welch eine Untertreibung, er hatte noch niemanden getroffen, der ihn nicht sehr bald dafür gehasst hätte. Gut, Albus nicht. Albus hatte eine ähnlich unerschütterliche Sanftmut an sich, wie dieses junge Ding hier. Nur, dass sie bei ihm echt war und keine Falle.
"Deine Sprüche sind gut!" beteuerte Lys. "Sie machen dich stark. Du wirst sie brauchen, denn hier wollen sie dich schwach machen."
Snape lachte bitter. "Meine Sprüche helfen mir hier nicht viel weiter", sagte er, "in Hogwarts hat man mich dafür vielleicht gefürchtet. Hier wird man dafür geschlagen. Sie werden alle meine Sprüche aus meinem Kopf herausprügeln, und alles andere gleich mit."
Lys sah ihn mitleidig an. "Das haben sie getan?" fragte sie, "deshalb tut dein Kopf so weh?" Sie legte wieder ihre federleichte Hand auf seine Stirn. Er hasste sich dafür, dass er es heimlich genoss. Diese falsche Schlange, wie viel Mühe sie sich gab, die Unschuldige zu spielen! Sie war nicht besser als ihre Kollegen, die Prügelknechte. Ihre 'ehrenvolle' Aufgabe war es, das Vertrauen verzweifelter Menschen zu gewinnen und auszunutzen. Wenn sie wüsste, dass sie keine Chance hatte, da keinerlei Vertrauen in ihm war! Das hatte er vor langer, langer Zeit im Vorbeigehen in irgendeine Mülltonne geworfen.

Ein Geräusch ließ Lys zusammenfahren. Sie nahm ruckartig ihre Hand von ihm und sprang auf. Nicht ganz aufrecht stehend, sondern geduckt wie ein Tier auf dem Sprung, sah sie lauernd hinüber zu der schweren Zellentür. "Sie kommen!" flüsterte sie.
Snape horchte in Richtung der Tür und hörte nun auch die Schritte, die sich näherten. Hastig ergriff Lys den leeren Wasserkrug und ließ ihn über den Boden rollen, bis er ein Stück weiter weg auf den Steinen zum Liegen kam. Dann floh sie in eine dunkle Ecke der Zelle. Snape strengte seine Augen an, doch er konnte sie nicht mehr sehen, nicht einmal mehr erahnen.

Die Tür wurde grob aufgestoßen, und herein kamen zwei Männer. Der eine schien ein Gefängniswärter zu sein; er trug schlichte, graue Arbeitskleidung und einen großen Schlüsselbund am Gürtel. Der andere, dessen ganze Haltung von einem übersteigerten Selbstbewusstsein zeugte, trug die strahlende Uniform der Auroren. Es war derselbe Mann, der Snape bewusstlos geschlagen hatte. Sein Werkzeug hatte er auch gleich mitgebracht. Er hielt einen schweren Stock in der rechten Hand und schlug sich damit in regelmäßigen Abständen leicht auf die Innenfläche seiner linken Hand. "Nun, Snape", erkundigte er sich mit einem spöttischen Lächeln, "hatten wir eine angenehme Nacht? Wir mussten unsere Unterhaltung gestern Abend leider beenden, da Sie sich durch feige Flucht in eine Ohnmacht meinen schlagkräftigen Argumenten entzogen haben." Er warf dem Wärter einen Blick zu, der sofort pflichtschuldigst über den brillanten Witz seines Vorgesetzten lachte. "Wünschen Sie eine Fortsetzung unserer Diskussion?" wandte der Auror sich wieder an Snape. "Oder sind Sie inzwischen besser erzogen und halten Ihre Zunge im Zaum?"
Er streichelte gedankenverloren seinen Knüppel. "Andernfalls... hm, nein, Ihren Sturkopf werde ich heute in Ruhe lassen. Nicht dass Sie uns noch wegsterben und Ihre eigene Hinrichtung verpassen. Die Dementoren wären sehr enttäuscht, wenn Sie keine Seele mehr hätten, bevor Sie zu ihnen kommen. Lassen Sie mich also überlegen, welchem Ihrer Körperteile ich heute eine Lektion erteilen könnte..." Jedes einzelne Wort kam ihm genüsslich über die Lippen, und er näherte sich dem Bett, um sein wehrloses Opfer zu betrachten.
Plötzlich wechselte sein Gesichtsausdruck von sadistischer Vorfreude zu Unglauben und Wut. Er stocherte mit seinem Stock nach Snapes Umhang und riss ihn mit einer ruckartigen Bewegung von ihm herunter. "Ich hatte nicht angeordnet, Sie zuzudecken!" schrie er. "Wer war das?" Ein vernichtender Blick traf den Wärter, der abwehrend die Hände hob und sich beeilte, zu versichern, dass er seit gestern Abend nicht mehr nach dem Gefangenen gesehen habe. "Wer war das?" tobte der Auror.
Snape machte nun erstmals den Mund auf: "Das war die reizende Zellengenossin, die Sie mir freundlicherweise zur Seite gestellt haben."
"Zellengenossin?" Der Mann mit dem Stock sah Snape erst fassungslos an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. "Mein Gott, Brooks", wieherte er, zu dem Wärter gewandt, "Sie behandeln Ihre Gefangenen zu gut! Dieser hier ist sogar noch in der Lage, in der Zelle feuchte Träume zu haben! So was hab ich noch nicht erlebt! Sie werden nachher einige Dementoren vor seiner Tür postieren, damit er angemessenere Fieberträume bekommt!"
Brooks lachte ordinär und versprach: "Ich werde dafür sorgen, Master Bait."

Snapes Gedanken rasten ziellos durch seinen Kopf. Warum zur Hölle leugneten sie das Vorhandensein seiner Zellengenossin? Was war das wieder für ein teuflischer Plan? Es machte keinen Sinn: Sie hatten diese Spionin hier eingeschleust, um ihn auszuhorchen, also war es doch in ihrem Sinne, dass er die Geschichte von der Mitgefangenen glaubte. Was sollte das eben? Wollten Sie ihm einreden, dass er bereits wahnsinnig war? Er weigerte sich, in Erwägung zu ziehen, dass er tatsächlich schon den Verstand verloren hatte und diese Frau nicht existierte. Sie war da, basta!
Oh, jetzt durchschaute er seine Peiniger: Sie zerstörten gerade systematisch seine Grenzen von Realität und Fantasie! Sie machten ihn glauben, er sei wahnsinnig, damit er es darüber wirklich wurde! Eine wirksame und beliebte Maßnahme psychischer Folter. Soviel perfide Raffinesse ihrer Grausamkeit hatte er diesen Brutalos gar nicht zugetraut. Aber sie unterschätzten wohl auch seinen Scharfsinn, der solche Tricks durchschaute.

Bait hatte Brooks einen Wink gegeben, und dieser machte sich an Snapes Handgelenken zu schaffen. Snape hatte keinerlei Gefühl mehr in den Armen, er spürte nicht, wie die engen Eisenringe sich lösten. Er sah nur, dass sie fort waren und eingeschnürte, blutige Stellen hinterlassen hatten. Er sah es, weil Bait ihm seine Arme auf die Brust gelegt hatte. Sie lagen da wie Fremdkörper, er spürte keinen Zusammenhang dieser Dinger mit seinem Körper. Die Steuerungsbefehle seines Gehirns drangen nicht zu ihnen durch. Schlaff und tot lasteten sie auf ihm. "In unserer unendlichen Güte", sagte Bait mit höhnischer Freundlichkeit, "haben wir beschlossen, dir die Fesseln abzunehmen und dir sogar etwas zu trinken zu geben. Wir wollen dich ja nicht verlieren, nicht wahr, wir haben ja noch etwas mit dir vor. In 13 Tagen. Es gibt sicher einige Leute, die sich auf dieses Fest freuen, und wir wollen es ihnen nicht verderben."
Er drehte sich halb um und suchte den Wasserkrug, den er gestern sorgfältig außerhalb von Snapes Reichweite aufgestellt hatte. "Was zum Teufel...", fluchte er, als er ihn leer und umgekippt vorfand, "du konntest nicht da drankommen! Wie ist das passiert?"
Snape war entschlossen, die Frau nicht mehr zu erwähnen. Er weigerte sich, so zu reagieren, wie sie es wollten. "Ratten", sagte er nur. Bait sah ihn kurz überrascht an, dann brach er erneut in lautes Gelächter aus: "Ich fass es nicht! Die Ratten saufen dir dein Wasser weg! Hahaha! So was Gutes konnte nicht mal mir einfallen! Zu schade, dass ich dein Gesicht nicht sehen konnte, als die Viecher sich vor deinen Augen genüsslich vollgesoffen haben! Hey, die stehlen mir meine Show! Wenn du mir das nächste Mal einen Grund gibst, deine Wasserration zu kürzen, werde ich die halbe Nacht hier sitzen und mit Brooks feiern und trinken und deine gierigen Blicke bewundern. Aber die Viecher, nein, ich schmeiß mich weg!"
Er brauchte einen Moment, um seinen ausufernden Humor wieder unter Kontrolle zu bringen, dann befahl er seinem Schließer: "Hol unserem Freund hier einen neuen Krug Wasser und eine Scheibe Brot."
Der Angesprochene verschwand und kehrte kurz darauf mit dem Gewünschten zurück. Er legte es neben Snapes Pritsche ab. "Man soll uns ja nicht nachsagen können, dass wir Sie Ihre letzten Tage nicht genießen lassen", sagte Bait gönnerhaft, "guten Appetit!" Damit verschwanden er und sein Helfershelfer aus der Zelle und riegelten sie von außen sorgfältig wieder ab.

Snape richtete sich zum Sitzen auf. Welch eine Wohltat, endlich ganz normal auf seinem Bett sitzen zu können. Keine Kette mehr, die an seinen Gelenken zerrte und ihn in groteske Haltungen zwang. Doch seine Arme hingen jetzt sehr nutzlos an beiden Seiten herunter. Er fühlte, wie ihr Gewicht an seinen überstrapazierten Schultergelenken zog, aber sonst fühlte er nichts von ihnen. Na wunderbar, der volle Krug und das Brot waren direkt zu seinen Füßen, keine Fessel hinderte ihn mehr, sich ihnen zu nähern, doch er hatte keine Hände zur Verfügung, um sie aufzuheben! Er legte all seine berüchtigte Strenge in die Befehle, die sein Gehirn seinen Armen erteilte, doch sie verhallten ungehört. Er biss die Zähne zusammen, kniff die Augen zu, legte den Kopf in den Nacken und konnte ein kurzes Aufheulen der Wut und Enttäuschung nicht unterdrücken.

Lys huschte aus ihrer Ecke hervor. Diensteifrig war sie zur Stelle und hielt ihm das Brot vor die Lippen. Er schüttelte den Kopf. "Ich will nicht gefüttert werden", presste er zwischen den immer noch zusammengebissenen Zähnen hervor, "ich will mit meinen eigenen Händen essen! Verflucht, warum gehorchen sie mir nicht?"
Lys begriff seine Lage. Sie begann mit beiden Händen seinen rechten Arm zu reiben. Zuerst spürte er nur ein unangenehmes Ruckeln an seiner schmerzenden Schulter. Doch nach und nach kehrte etwas Blut und somit Gefühl in seinen Arm zurück. Es war alles andere als angenehm. Das einschießende Blut brannte in seinen Adern wie Feuer. Doch nach längerer Zeit schaffte er es, den Arm leicht zu bewegen.
Lys strahlte über ihren Erfolg und begann nun, seinen linken Arm zu massieren. Es schmerzte ebenso, und Snape konzentrierte sich auf einige Fingerübungen mit der rechten Hand, um sich abzulenken. Nach einiger Zeit war er in der Lage, das Brot aufzuheben und zum Mund zu führen. Es schmeckte besser als alles, was er je gegessen hatte! Nicht nur, weil er völlig ausgehungert war. Er hatte es sich hart erarbeitet, und er hatte es schließlich ohne fremde Hilfe bekommen. Er war nicht mehr völlig hilflos.


Kapitel 4

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