Jenseits von Hogwarts

 

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Kapitel 11

Hinter dem Vorhang


‚Das ist wirklich eine ganz schlechte Idee. Eine richtig bescheuerte Idee... Hermine würde mich für meinen Leichtsinn erwürgen,' dachte Harry verzweifelt, als er, die rechte Hand im kühlen und festen Griff Snapes, die linke in der wohlmanikürten Rechten Lucius Malfoys, aus zwei Schritt Entfernung auf den schwarzen Vorhang starrte. Die andern beiden hatten die Augen fest geschlossen, ihre Gesichter wirkten konzentriert und ruhig. Snape murmelte leise einen Strom lateinischer Wörter. Harry fühlte unbehaglich, wie seine Hände feucht wurden vor Nervosität. Vielleicht war es besser, wenn er einfach auch die Augen zumachte und Snape das Handeln überließ. Etwas anderes blieb ihm ohnehin kaum übrig.
Im selben Moment, als er seine Lider schloss, überflutete eine Welle von Sinneseindrücken seinen Geist: Bilder, Geräusche, Gerüche... Er sah eine lächelnde blonde Frau mit einem pausbäckigen blonden Baby... Der Duft von Kräutern und Räucherwerk wehte an ihm vorbei... Er hörte Stimmen, die ihm seltsam vertraut vorkamen, von denen er aber gleichzeitig sicher war, sie noch nie gehört zu haben...
Es waren die Erinnerungen Snapes und Malfoys, die da plötzlich in seinem Kopf herumwirbelten. Einen schrecklichen Moment lang hatte Harry das Gefühl, in diesen fremden Erinnerungen zu ertrinken, sie schlugen über seinem Geist zusammen wie Wasser und erstickten seine eigenen Gedanken. Dann spürte er, wie er gleichsam herausgezogen wurde aus den Fluten und etwas - jemand, ihn über den tosenden Wassern fremder Erlebnisse hielt. Er dachte erst, es wäre Snape, stellte dann aber unbehaglich fest, dass es sich um Malfoy handelte.
‚Du musst dich auf dein Ziel konzentrieren! Denk an Black! Konzentriere dich auf das, was wir vorhaben!', zischte Malfoys Stimme in seinem Kopf.
Harry versuchte es, aber wie sollte er sich gleichzeitig ganz auf Sirius konzentrieren und dabei seinen Geist für zwei von dessen ärgsten Feinden offen halten?
‚Es ist nicht so schwer. Du mußt dich nur an den dominanten Gedanken von uns festhalten.'
Wie zum Teufel sollte er das machen? Harry suchte verzweifelt nach einem mentalen Halt, der es ihm ermöglichen würde, ohne Malfoys Hilfe die Kontrolle über seinen Geist zu behalten. Und dann sah er es. Einen leuchtenden Punkt in dem Nebel aus Farben, Tönen, Gerüchen, Gefühlen... Ein weißes Leuchten, das umso stärker wurde, je mehr er sein Bewusstsein darauf fokussierte. Das Leuchten wurde so mächtig, dass es schließlich seinen ganzen Geist ausfüllte und er nichts anderes mehr sah als dieses überwältigend helle Licht. Eine Stimme ertönte in seinem Kopf: ‚Wir sind hier, um Sirius Black zu befreien. Wir sind hier, um Sirius Black zu befreien...'
‚Gut so!', sagte eine andere Stimme, doch das Licht und die erste Stimme blieben. Sie rückten weiter weg, wurden kleiner und leiser, verloren aber nichts von ihrer Präsenz und ihrer Macht. ‚Gut so!', wiederholte Snape, und ein Teil von Harry registrierte halb ungläubig, halb amüsiert, dass dies vermutlich das erste ehrlich gemeinte Lob war, das er je vom Meister der Zaubertränke bekommen hatte.
‚Das ist der geistige Zustand, den du aufrecht erhalten mußt. Meinst du, du schaffst das?' Harry nickte unwillkürlich, dann fragte er sich, ob Snape das überhaupt wahrnehmen konnte. Doch er schien die Bestätigung registriert zu haben.
‚Dann werden wir jetzt durch den Vorhang gehen.'
Harry hatte in den letzten Minuten schon fast vergessen, dass er ja auch noch einen Körper besaß, so dass er beinah über seine eigenen Füße gestolpert wäre, als er so unerwartet von Snape und Malfoy vorwärts gezogen wurde. Gerade noch rechtzeitig fing er sich und spürte, wie der seidig kühle Stoff des Vorhangs ihm über Gesicht und Hände glitt.
Übergangslos umfing ihn eisige Kälte und Finsternis von einer Dichte, wie er sie noch niemals erlebt hatte, nicht einmal, als er von den Dementoren angegriffen worden war. Doch es dauerte nur Sekunden, ehe die Schwärze zu flackern und sich aufzulösen begann. Erst waren es nur wenige winzige, strahlend blaue Punkte, die aus der Dunkelheit auftauchten, aber rasch wurden sie größer und zahlreicher. Sie hatten etwas ungemein Bedrohliches an sich und Harry spürte, wie er unwillkürlich zu zittern begann. Er wußte selbst nicht, wieso ihm diese Lichterscheinungen solche Angst machten, aber seine Furcht wuchs und drückte ihm die Luft ab... Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich ganz klein zu machen, sich einzurollen, sich zu verstecken, alles, was da außerhalb von ihm war, von sich fernzuhalten, sich abzuschotten...
"Nein!"
Die Stimme war nicht nur in seinem Kopf erklungen. Snape hatte einen warnenden Ruf ausgestoßen, gleichzeitig fühlte Harry, wie seine Hände fester gepackt wurden. Malfoy war plötzlich wieder da, eine Gestalt aus rotem Licht, hielt ihn in einem mentalen Klammergriff gefangen und versuchte, seine geistige Abwehr mit Gewalt zu durchbrechen. Harry geriet in Panik, er kämpfte wild gegen den fremden Geist an, der versuchte, ihm seinen Willen aufzuzwingen, der ihm schaden, ihn verletzen wollte... Er versuchte verzweifelt, seine mentalen Mauern noch höher und fester zu türmen.
"Potter! Nicht!"
Jetzt war auch Snape da, wie Malfoy eine flammende Figur aus orangerotem Licht. Harry spürte einen selbstmörderischen Triumph in sich. Diesmal würde es Snape nicht gelingen, in seinen Geist einzudringen, diesmal nicht!
"Harry!"
Snapes Stimme hatte nun einen verzweifelten Klang angenommen, und Harry spürte, wie er versuchte, gleichzeitig seine, Harrys, Abwehr zu durchbrechen und Malfoys geistigen Würgegriff zu lösen.
‚Harry!' Snapes Stimme wurde schwächer, Panik schwang in ihr. ‚Denk an Black! Denk an Sirius, Harry!'
Sirius . Richtig, sie waren hier, um Sirius zu retten. Ein winziges weißes Flämmchen flackerte zwischen den eisigen blauen Lichtern auf. Sirius . Harrys Verstand war mit einem Schlag wieder da. Was hatte er getan? Hatte er den Kontakt zu Snape und Malfoy völlig unterbrochen? Und mit welchem Ergebnis? Waren sie tot? Trieb er jetzt vielleicht alleine durch dieses endlose Meer aus eisigen Lichtern?
‚Snape?'
Harry streckte seine mentalen Fühler aus und tastete vorsichtig seine Umgebung nach einem fremden Bewusstsein ab. Da war etwas...
‚Snape? Malfoy?'
Er wagte sich noch etwas weiter vor. Harry spürte eine Verbindung wie einen unendlich dünnen Faden zwischen sich und der anderen Person. Er griff nach diesem Faden, behutsam, um ihn nicht endgültig zu zerreißen, bekam ihn zu fassen... Gleich wurde die Verbindung deutlicher spürbar. Er folgte ihr und fand schließlich Malfoy, einen kleinen rot glimmenden Funken in der Finsternis. Er schien in einer Art Bewusstlosigkeit dahin zu treiben. Wie konnte er ihn erreichen, das geistige Band verstärken?
‚Malfoy?', dachte er unsicher.
Keine Reaktion.
‚Lucius?'
Nichts. Vielleicht, wenn er den Namen laut aussprach...
"Lucius Malfoy!"
Harry zuckte zusammen, als seine Stimme überlaut um ihn her zu hallen schien. Malfoy aber regte sich nicht, weder geistig noch sonstwie. Harry fühlte, dass der andere seine Hand noch immer fast schmerzhaft fest umklammert hielt, tot konnte er nicht sein, seine Haut war warm und Harry spürte deutlich den gleichmäßigen Pulsschlag. Etwas musste Malfoys Bewußtsein hinweggefegt haben. Wie konnte er es zurück holen? Er hatte keine Ahnung von derartigen geistigen Reisen, wie sie sie unternommen hatten...
Plötzlich überfiel ihn die Erkenntnis: Natürlich! Snape hatte ihn selbst nur an Sirius erinnern müssen, und er war wieder zu Verstand gekommen. Nun, auch wenn diese spezielle Person für ihn selbst sicher nichts Aufmunterndes oder sonstwie Positives hatte... ‚Lucius! Denk an Draco! Du mußt hier heil wieder rauskommen, er braucht dich. Denk an Draco!'
Erst geschah gar nichts, doch Harry durfte nicht aufgeben. Wenn er jemals diesen schrecklichen Ort verlassen wollte, konnte er das nur mit Hilfe von Snape und Malfoy tun, ganz zu schweigen von der Rettung Sirius'. So sagte er immer wieder Dracos Namen, erinnerte Malfoy auch an seine Frau Narcissa (obwohl Harry nicht sicher war, ob es sich dabei wirklich um eine positive Erinnerung handelte) und rief sein Gegenüber wiederholt beim Namen. Schließlich begannen seine Bemühungen, Wirkung zu zeigen. Malfoy regte sich, der rote Funke wurde größer und leuchtete heller.
Einen Moment lang hatte Harry die schreckliche Befürchtung, Malfoys Verstand wäre so komplett hinweggefegt worden wie einst bei Gilderoy Lockhart, denn er nahm von ihm zunächst nur einen chaotischen Wirbel aus Erinnerungsfetzen und Gefühlen wahr. Doch dann klärte sich Malfoys Geist langsam und er tastete fragend in Harrys Richtung. Der rote Funke wurde zu einer Flamme, dann zu einem Feuer, aus dem sich schließlich eine lebensgroße Gestalt bildete, die sich nur dadurch vom körperlichen Lucius Malfoy unterschied, dass sie aus rotem Licht bestand. Zusammengekrümmt schwebte er in der schwarzen Dunkelheit, umgeben von den unheimlichen blauen Flämmchen. Harry spürte, wie das mentale Band stärker wurde und bemühte sich, es weiter zu kräftigen.
‚Mr Malfoy? Sind Sie in Ordnung?'
Ein gequältes Stöhnen war zunächst die einzige Antwort, die Harry auf seine Frage erhielt. Dann antwortete Malfoy mit schwacher Stimme: ‚Ich bin mir nicht ganz sicher.' Er schien eine Art mentale Bestandsaufnahme durchzuführen. Als er nach einer Weile erneut sprach, klang seine Stimme deutlich fester. ‚Ich denke schon.'
‚Es tut mir sehr leid, Mr Malfoy, ich wollte nicht...'
‚Das warst du nicht, Potter. Und nenn mich nicht Mr Malfoy . Lucius tut's auch.' Er lachte leise, als er Harrys Verwirrung spürte. ‚Nun, immerhin ist das hier eine Sache auf Leben und Tod. Ich denke, da kann man ruhig ein bisschen Distanz abbauen. Außerdem', sein Mund verzog sich zu einem leicht ironischen Lächeln, ‚hast du mich ja eben auch schon geduzt, als ich mich nicht dagegen wehren konnte.' Das Lächeln verschwand, als er ernst wiederholte: ‚Du warst das nicht, Harry, wir sind angegriffen worden, Severus und ich.'
Severus. Snape. ‚Wir müssen Snape suchen!', rief Harry hastig.
‚Überflüssig. Ich bin bereits da.' Snapes Bewusstsein, ebenfalls in rot leuchtender Gestalt, trat wieder in den Kreis und Harry spürte, wie der Meister der Zaubertränke das mentale Band weiter verstärkte, während er mit ihnen sprach. ‚Lucius hat recht. Das, was du gespürt hast, war nur ein Echo des Angriffs, der auf uns beide gerichtet war. Wärst du mit der gleichen Wucht wie wir attackiert worden, hättest du nicht überlebt.'
Harry wurde es noch ein bisschen kälter. ‚Aber was war es, was euch angegriffen hat?', fragte er beunruhigt.
‚Seelen', entgegnete Snape kühl und scheinbar unbeeindruckt. ‚Sie erkennen uns als das, was wir sind, als Todesser. Es sind nicht nur die Seelen schwarzer Magier hier unterwegs, sondern auch die Seelen ihrer Opfer. Viele von ihnen haben gute Gründe, uns zu hassen.'
‚Aber...'
‚Ich würde es vorziehen, wenn du jetzt nicht weiter fragst. Wir müssen uns wieder auf unser eigentliches Ziel konzentrieren. Auf Black.'
Als Snape so plötzlich in seinen alten Lehrer-Tonfall zurückfiel, konnte Harry sich nur mit Mühe eine schnippische Antwort verkneifen. Aber Snape hatte Recht: Sie waren hier, um Sirius zu suchen, reden konnten sie später immer noch. Zumal es hier eindeutig nicht geheuer war. Also sammelte Harry seine Gedanken und konzentrierte sich erneut auf seinen Paten. Er versuchte, ein möglichst klares Bild von Sirius vor seinem inneren Auge aufsteigen zu lassen, sich an den Klang seiner Stimme, an seinen Geruch zu erinnern... Gleichzeitig nahm er wahr, dass auch Lucius und Snape sich ihre Erinnerungen an Sirius vergegenwärtigten, die bei ihnen naturgemäß weniger freundlich als bei Harry ausfielen. Als er plötzlich Sirius' spöttisch grinsendes Gesicht aus der Perspektive eines kopfüber in der Luft pendelnden, vor Zorn kochenden Snape vor seinem inneren Auge sah, versetzte es ihm einen schmerzhaften Stich ins Herz. Er sah die Szene nicht nur aus Snapes Perspektive, er empfand auch dessen Gefühle überdeutlich: Wut, Hass und ein ungeheures Gefühl der Demütigung. Und einen Moment lang hasste er Sirius so, wie ihn der vierzehnjährige Snape gehasst hatte.
Harry kämpfte heftig, um die fremden Emotionen aus seinem Kopf zu vertreiben. Snapes Sirius war nicht sein, Harrys, Sirius, war nicht der Mensch, den er liebte und so viel besser zu kennen glaubte... Um positive Gedanken an seinen Paten bemüht, die negativen Erinnerungen von Snape und Lucius so gut es ging ignorierend, begann Harry, seinen Geist tastend durch den von blauen Lichtern erfüllten, endlosen schwarzen Raum zu schicken, so wie er zuvor nach den beiden Todessern gesucht hatte. Er berührte dabei immer wieder fremde Bewusstseinsspähren, ruhelose und von Feindschaft erfüllte Seelen, bei jedem Kontakt mit ihrer eisigen Kälte erschrocken zurückzuckend. Langsam und vorsichtig arbeitete er sich vor, unterstützt und vorwärts gedrängt von seinen beiden Begleitern, die an seiner Seite durch die Dunkelheit glitten.

***


Harrys Mut begann bereits zu sinken, als er flüchtig, nur einen Sekundenbruchteil lang, eine warme Berührung in diesem Meer von Kälte und Feindseligkeit wahrnahm. Blitzartig versuchte er, sich auf den Punkt zu konzentrieren, an dem er die Wärme gespürt hatte. Es war leicht, etwas zog ihn förmlich dort hin... Harry spannte angestrengt all seine Sinne an, durchkämmte den leeren Raum um ihn her. Und da war es wieder, ein winziger Punkt von Wärme und Vertrautheit. Dann sah er ein kaum sichtbares Flämmchen silbrigen Lichts, nicht größer als der Kopf einer Stecknadel.
‚Sirius?' fragte Harry, atemlos vor Erwartung.
Der Punkt glomm heller, wurde größer und wärmer.
‚Sirius!' Harry fühlte, wie auch ihm warm wurde vor Glück.
Das silberne Licht wuchs jetzt schneller, schien aus seiner Freude und Zuneigung Kraft zu gewinnen. Es waberte und floss durch die Dunkelheit, dann bildeten sich nach und nach feste Konturen...
Ein großer, struppiger Hund aus grausilbernem Licht schwebte vor Harry in der Schwärze. Die blauen Flammen ringsum wichen zurück in Finsternis und Kälte. Und dann ertönte eine leise, raue Stimme in Harrys Kopf, die sein Herz vor Freude einen Purzelbaum schlagen ließ. ‚Harry?', fragte Sirius unsicher. Dann drängender, besorgter: ‚Um Himmels Willen, was machst du hier? Was ist passiert?'
Harry wurde plötzlich klar, dass Sirius glauben musste, er sei ebenfalls eines gewaltsamen Todes gestorben und wie sein Pate an diesem furchtbaren Ort ohne Hoffnung gestrandet. Hastig stieß er hervor: ‚Wir sind hier, um dich zu retten, Sirius. Wir holen dich hier raus!'
‚Wir?' Sirius klang überrascht, und Harry spürte, wie sich die Finger von Sirius' Bewusstsein in die ewige Dunkelheit streckten, er fühlte sie den feinen Faden ertasten, der ihn mit seinen Begleitern verband, an ihm entlanggleiten und...
Sirius fuhr heftig zurück, als ob er sich verbrannt hätte. ‚Ihr!', rief er in einer Mischung aus Schock und Abscheu aus. Im gleichen Moment schien ihm klar zu werden, dass es sich bei Lucius und Snape um Harrys Führer handeln musste. Das Entsetzen, das von Sirius ausging, war so heftig, dass es für einen Augenblick auf Harry übergriff und er mühsam die aufsteigende Panik niederringen mußte. ‚Harry, was hast du getan? Wieso bist du mit diesen... diesen Henkersknechten hier?'
Harry spürte, wie Snape innerlich zusammenzuckte und nahm überrascht wahr, dass der Todesser nicht etwa zornig, sondern traurig und verletzt zu sein schien. Doch Snapes Stimme war keinerlei Emotion anzumerken, als er gelassen zu Sirius sagte: ‚Wir sind hier, um Harry und, vor allem, um dir zu helfen. Wenn du mir nicht glaubst, bitte, überzeug dich selbst.'
Harry hatte das unangenehme Gefühl, dass sein Geist irgendwie gedehnt wurde, als Snape ihren mentalen Kreis für Sirius öffnete. Zögernd und misstrauisch trat sein Pate, nunmehr in seiner menschlichen Gestalt, in den Pool ihrer Gedanken und Gefühle ein. Nachdem er die erste Verwirrung überwunden und die drei Bewusstseinssphären einigermaßen auseinandersortiert zu haben schien, spürte Harry, wie sich Sirius vorsichtig Snapes Geist näherte. Er nahm das Unbehagen des Todessers deutlich wahr, dennoch öffnete Snape seinen Geist für seinen alten Feind, als ob er eine Tür öffnen würde. Eine Welle von Bildern überflutete Harry, als sein Pate ziemlich unsensibel in Snapes Gedanken herumzusuchen begann, um dessen Motivation zu erkunden. Der Todesser schien sich nur mühsam zur Ruhe zu zwingen und hatte offensichtlich mehrmals das heftige Bedürfnis, Sirius die mentale Tür an den Kopf zu knallen, doch er ließ es zu, dass seine Erinnerungen und Gefühle grob durchwühlt wurden.
Nach einer Weile tauchte Sirius wieder aus Snapes Innenwelt auf, offenbar zutiefst verunsichert von dem, was er dort vorgefunden hatte. Harry hatte nur wenig von Snapes Erinnerungen wahrnehmen können, zu schnell war alles an ihm vorbei geflogen. Doch Sirius schien genau zu wissen, wonach er hatte suchen müssen.
‚Warum?', fragte er schließlich zögernd.
‚Wir pflegen unsere Schuld zu bezahlen', bemerkte Snape mit nur mühsam unterdrückter Erregung in der Stimme. Seinen ärgsten Feind in seinen Geist einzulassen hatte ihn offenbar mehr mitgenommen als alle anderen Ereignisse dieses Tages.
‚Was war das für eine Szene, die ich da vorhin gesehen habe?', fragte Sirius mit nun leicht zitternder Stimme.
‚Harry hat Lucius das Leben gerettet, als', begann Snape widerstrebend, doch Sirius unterbrach ihn heftig.
‚Das meine ich nicht! Die Szene in Hogwarts, auf dem Turm! Mit Dumbledore und Draco Malfoy...'
Harry blieb fast das Herz stehen. Wenn sein Pate erfuhr, dass Snape Professor Dumbledore getötet hatte, würde er niemals bereit sein, dem Todesser zu vertrauen. Snape und Lucius schienen den Gedanken im selben Moment mit Harry zu teilen, doch es war schon zu spät. Als Sirius ihre gemeinsame Abwehr wahrnahm, setzte er zu einer Art mentalen Rammstoß gegen Snape an, der ihre geistige Verbindung fast zerrissen hätte.
‚Sirius, nicht!', keuchte Harry entsetzt und schmerzerfüllt auf. ‚Du bringst uns alle drei um!' Sofort hielt Sirius inne. Snape rappelte sich mühsam wieder auf und sortierte seine in Unordnung geratenen Gedanken.
‚Also gut, Black!', zischte er zornerfüllt. ‚Du hast es nicht anders gewollt!'
Harry hielt in Erwartung der kommenden Katastrophe den Atem an. Doch statt zu einem geistigen Gegenschlag auszuholen, schien die Gestalt Snapes plötzlich in sich zusammenzusinken und an Helligkeit zu verlieren. Snape sagte mit tonloser Stimme: ‚Ich zeige es dir. Du hasst mich ohnehin bereits so sehr, dass eine Steigerung mir nicht mehr möglich erscheint, also, nur zu.'
Starr vor Staunen fühlte Harry, wie Snape ein weiteres Mal seinen Geist für Sirius öffnete.

***


Wieder stiegen Bilder auf, diesmal jedoch langsam und deutlich, als ob Snape seine Erinnerung regelrecht in Sirius' Gehirn einbrennen wollte. Wieder war Harry auf dem Turm, wieder spürte er den Wind an seinen Kleidern zerren. Doch diesmal stand er nicht unter dem Tarnumhang, durch Dumbledores Zauber zeitweilig stumm und gelähmt und zur Rolle des hilflosen Zuschauers verdammt.
Diesmal befand er sich in Snapes Körper, sah die Szenerie durch seine Augen: Dumbledore, bleich und erschöpft, vor Schwäche an der Festungsmauer zusammengesunken. Draco, der mit gezücktem, aber inzwischen gesenktem Zauberstab drohend vor dem Direktor stand und erschrocken herumfuhr, als Snape die Tür zum Turm mit einem lauten Knall aufspringen ließ. Er sah die Mischung aus Angst, Erleichterung und Schuldbewusstsein in Dracos Gesicht, als er zu ihm, Snape, aufblickte. Er sah in Dumbledores Augen, in denen sich Furcht und Hoffnung mischten. Er trat zur Seite, als die anderen Todesser auf die Plattform stürzten. In ihm mischten sich Mitleid für seinen Lieblingsschüler Draco, der durch den Dunklen Lord in eine so schreckliche und ihn eindeutig überfordernde Situation gezwungen worden war, mit Ekel und Zorn auf die mit ihm auf dem Turm stehenden Todesser.
Doch das stärkste Gefühl von allen war Verzweiflung, als er in die flehenden Augen Dumbledores blickte und seine zitternde, leise Stimme hörte: ‚Severus, bitte...'
Was sollte er tun? Dumbledore war sein Mentor, fast sein Freund, der einzige Freund, den er jemals gehabt hatte. Konnte er ihn retten? Dieses Flehen in Dumbledores Augen, die Angst in seiner Stimme, Angst, wie er sie nie zuvor bei dem alten Mann wahrgenommen hatte... Ihm war klar, das Albus nicht sterben wollte, dass er ihn verzweifelt bat, eine andere Lösung zu finden...
Doch um ihn her standen die anderen Todesser, und der Dunkle Lord wartete schon auf ihn.
In diesem Moment hasste er Albus Dumbledore dafür, dass er es ihm so schwer machte, seine Aufgabe zu erfüllen. Doch noch mehr hasste und verachtete er sich selbst für das, was aus ihm geworden war. Ein Folterknecht. Ein Killer. Eine eisige Hand schloss sich um sein Herz und löschte dort den letzten Rest von Wärme aus, als er den Zauberstab hob und mit kalter Stimme rief: ‚Avada Kedavra!'

***


Sirius taumelte zurück, überwältigt von dem, was er soeben hatte miterleben müssen, und rollte sich in seiner Hundegestalt in sicherem Abstand von ihnen zusammen, bis er wieder zu einem konturlosen silbrigen Licht geworden war. Zögernd und besorgt näherte sich Harry seinem Paten. Er musste versuchen, ihn zu beruhigen, seinen Hass auf Snape irgendwie zu dämpfen, damit er bereit war, sie zu begleiten, diesen Ort in Snapes Obhut zu verlassen... Doch als er sich behutsam dem Geist seines Paten näherte, nahm er überrascht wahr, dass da kein Hass, nicht einmal Zorn war, sondern nur Traurigkeit. Unendliche Trauer um Dumbledore und...
Es verschlug Harry fast den Atem: Trauer um Snape.

***


Eine lange Weile schwiegen sie alle. Harry spürte Unruhe und Unsicherheit von Snape ausgehen, mühsam erzwungene Gelassenheit bei Lucius, Trauer und Schuldgefühle bei Sirius. Er selbst war völlig durcheinander. Warum empfand Sirius auf einmal Mitleid für Snape? Für seinen größten Feind? Den Mann, den er schon während seiner Hogwarts-Schulzeit gemeinsam mit Harrys Vater sieben Jahre lang gehasst, verachtet und gequält hatte? Der ihn an die Dementoren hatte ausliefern wollen? Den er noch vor einem Jahr und bis zu seinem Tod so tief verabscheut hatte?
‚Sirius?', fragte Harry behutsam. Zögernd nahm das Licht die Konturen eines zusammengekauerten Menschen an, blieb jedoch an den Rändern unscharf und verschwommen.
‚Sirius, was ist?', drängte Harry. ‚Sag doch was!'
Langsam hob sein Pate den Kopf, doch er blickte nicht Harry an, sondern Snape.
‚Es... Es tut mir... Es tut mir so unendlich leid!', würgte Sirius schließlich mühsam hervor. ‚Merlin, ich kann gar nicht sagen, wie leid es mir tut!'
Harry starrte seinen Paten verblüfft an, dann blickte er hastig hinüber zu Snape. Er spürte Scham und Widerwillen bei dem Todesser, der Sirius nicht ansah und offensichtlich einen harten inneren Kampf auszufechten hatte.
Sirius hob stockend an: ‚Vielleicht... Vielleicht wär alles ganz anders gekommen, wenn ich und James dich in der Schule nicht so getriezt... so gequält hätten...'
Langsam wandte Snape seinen Blick zu Sirius.
‚Am Anfang', sagte er tonlos, ‚da hab ich euch bewundert . Ich wollte so sein wie ihr. So gut in der Schule, so schlagfertig, so beliebt, so... gutaussehend. Ich wollte nicht in Slytherin sein. Ich wollte nach Gryffindor, zu den Guten .' Snapes Stimme triefte vor Hohn. Während er sprach, sah Harry Szenen aus Snapes Erinnerungen vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Ein kleiner Junge, der sich hinter einer Mauer versteckte und sehnsüchtig einen plaudernden und lachenden Trupp Gryffindors beobachtete, unter denen sich auch James, Sirius, Remus und Peter Pettigrew befanden...
‚Aber dieser verdammte Hut hat mich in dieses verfluchte Haus gesteckt und damit war es vorbei mit der Chance, mit irgend jemandem von einem der anderen Häuser Freundschaft zu schließen. Ich hatte nichts und niemanden, der mich unterstützt hätte. Selbst die Slytherins haben sich über mich lustig gemacht...' Er schoss einen hasserfüllten Blick hinüber zu Lucius. ‚Über mein Aussehen... Über meine unbeholfene Art im Umgang mit Menschen... Über meine Besessenheit von Flüchen und tödlichen Tränken...'
Ein etwas älterer Junge, der einsam in einer Ecke des Slytherin-Gemeinschaftsraumes hockte und verkrampft ins Feuer starrte, während einige andere Slytherins sich damit amüsierten, seinen Gang und seine Sprechweise nachzuahmen, der eine davon, gutaussehend und mit kurzem weißblonden Haar, mit einem Wischmopp auf dem Kopf, der offensichtlich Snapes Frisur darstellen sollte...
Snape schwieg einen Moment, dann brüllte er plötzlich so heftig los, dass Harry erschrocken zusammenfuhr.
‚WO, BITTE, HÄTTE ICH LERNEN SOLLEN, WIE SICH EIN NORMALER JUNGE ZU VERHALTEN HAT? Mein Vater war ein verdammter Alkoholiker, er hat meine Mutter und mich fast täglich verprügelt... Und diese dumme Kuh hat ihn so geliebt, dass sie sich nicht einmal gewehrt hat, obwohl sie eine wirklich talentierte Hexe war.'
Ein unrasierter Mann mit strähnigen langen Haaren brüllte auf eine verängstigte, zierliche junge Frau ein, die verzweifelt versuchte, einen etwa fünfjährigen Jungen mit ihrem Körper zu schützen... Doch der Mann packte einen Besen und drosch damit wie wild auf die beiden ein...
‚Ich hab mich tagelang heimlich in ihren Zauberbüchern vergraben und die schlimmsten Flüche und grausamsten Tränke gelernt, mit denen ich mich an ihm rächen wollte. Doch sie hat es mir verboten. Sie liebte ihn zu sehr.' Er schwieg einen Moment und schien mit seinem Abscheu zu kämpfen. Dann stieß er hasserfüllt hervor: ‚Als ich zehn war, hat er sie totgeschlagen.'
Entsetzt sah Harry das Bild einer am Boden in einer Blutlache zusammengekrümmten Frau vor sich aufsteigen, in einer Ecke des Raumes kauerte ein kleiner Junge, dass Gesicht in den Händen vergraben, der sich buchstäblich die Seele aus dem Leib weinte.
‚Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, nicht ganz so abstoßend zu sein, weißt du,' sagte Snape leise zu Sirius. Er klang jetzt erschöpft und resigniert. ‚Aber ich fürchte, dass das niemand bemerkt hat.' Harry konnte ihn plötzlich nicht mehr als den Meister der Zaubertränke oder den Todesser Snape sehen Das Bild eines mit Harry etwa gleichaltrigen Hogwarts-Schülers Severus überlagerte irgendwie die Geistgestalt des erwachsenen Snape. Severus' Gesicht nahm wieder einen harten Zug an, als er kalt hinzufügte: ‚Nun, und irgendwann habe ich eben begonnen, mich zu wehren. Und dann, mich zu rächen.'
Es war Lucius, der die auf Severus' Erzählung folgende Stille schließlich brach.
‚Nun, Black', sagte er mit erzwungener Ruhe, ‚bist du jetzt bereit, mit uns zu kommen, oder willst du vorher auch noch meine Kindheitsgeschichte hören?'
Sirius schüttelte stumm den Kopf. Dann sagte er leise: ‚Ich komme mit euch. Was muss ich tun?'
‚Zunächst mal zurück in den Kreis treten,' entgegnete Severus. In seiner Stimme schwang noch immer die Erregung der vergangenen Minuten mit.
Sirius gehorchte schweigend.
‚Du hast keinen physischen Körper mehr, deshalb muss einer von uns deine Seele in seinen Körper aufnehmen.'
Automatisch wandte Sirius sich Harry zu, doch Severus schüttelte energisch den Kopf.
‚Harry hat nicht die entsprechende Ausbildung, er wäre nicht in der Lage, eure Seelen getrennt zu halten und wir würden sie möglicherweise nie mehr auseinandersortieren können. Du musst schon mit Lucius oder mir vorlieb nehmen. Lucius wäre mir allerdings lieber, da ich dieses Unternehmen leite und mich dabei ziemlich konzentrieren muss. Das ist bei einer so engen geistigen Verbindung von mehreren Menschen schon schwierig genug, deine Seele in meinem Körper würde es nicht eben einfacher für mich machen.'
Sirius wandte sich zögernd zu Lucius. Der wirkte nach außen völlig kalt, doch Harry spürte deutlich, wie er gegen seinen Widerwillen ankämpfen musste. ‚Vielleicht wird dir nicht alles gefallen, was du in meiner Seele sehen wirst, Black', warnte er leise und mit drohendem Unterton.
Severus fuhr ungerührt fort: ‚Für dich gilt das Gleiche wie für Harry, Black. Du darfst die seelische und geistige Verbindung mit uns auf keinen Fall unterbrechen. Unabhängig davon, was du bei Lucius wahrnehmen wirst. Und, Lucius, versuch, dich zu beherrschen, ja?'
Er sah Lucius scharf an, der schließlich widerstrebend nickte.
Als Lucius sprach, hörte und fühlte Harry unter der oberflächlichen Arroganz deutlich die Verunsicherung.
‚Um Schlimmeres zu verhüten, Black, sag ich's dir lieber gleich, damit du nicht im unpassenden Moment darauf stößt und uns alle in Lebensgefahr bringst: Ich habe deinen Bruder Regulus getötet.'
Für einen Moment war es wieder ganz still und Harry wartete gebannt auf die Reaktion seines Paten. Regulus war ein Todesser gewesen und Sirius hatte wohl keine besonders enge Beziehung zu ihm gehabt, trotzdem spürte er deutlich seine Erschütterung und rechnete halb mit einer heftigen Reaktion.
Doch Sirius nickte nur.
‚Dann komm', sagte Lucius kalt.
Sirius sah ihn fragend an.
‚Du musst nur durch mich durchgehen, das ist alles. Den Rest mache ich.'
Zögernd bewegte sich die silbrige Gestalt Sirius' auf die rot flammende des Todessers zu. Als er nur noch einen Schritt von Lucius entfernt war, hielt er kurz inne und schien gleichsam tief Luft zu holen. Dann machte er den letzten Schritt nach vorne. Es gab einen blendenden Blitz, einen Moment lang wirbelten das rote und das silberne Licht wild durcheinander, dann war Sirius verschwunden und es schwebte nur noch die rote Gestalt Lucius Malfoys in der Dunkelheit. Doch das Rot hatte einen silbrigen Schimmer bekommen und Harry spürte nach wie vor deutlich die Gegenwart seines Paten.
Severus übernahm wieder die Führung, rasch und zielstrebig zog er sie alle durch die Dunkelheit. Die blauen Lichter kamen wieder näher, vermehrten sich, schlossen sie ein, bis es nicht mehr schwarz, sondern eisblau um sie herum war. Doch Severus riss sie mit sich, schneller und schneller wirbelten sie durch die Finsternis.
‚Nicht ablenken lassen! Denk an etwas Positives!', erklang seine befehlende Stimme in Harrys Kopf und diesmal gehorchte er. Er dachte an Sirius, wie es sein würde, wieder mit ihm zusammen zu sein, an Ginny, für die er nun, nach Voldemorts Vernichtung, wieder frei war...
Sirius, das spürte Harry deutlich, dachte ebenfalls an das Zusammenleben mit seinem Patensohn...
Lucius dachte an Draco und an Narcissa, also war sie wohl doch eine glückliche Erinnerung. Harry sah die beiden so deutlich, als ob sie direkt vor ihm stünden. Sogar Narcissas Parfüm konnte er riechen, ihre Haut und... Lucius verpasste ihm einen leichten Schlag auf die mentalen Finger. ‚Vorsicht!', warnte er, doch er klang nicht böse dabei, eher amüsiert.
Und an was dachte Sn... Severus ? Harry tastete behutsam zu ihrem Führer hinüber und fuhr erschrocken zurück. Da war nichts gar nichts. Nicht, dass da kein Gedanke gewesen wäre, aber der Gedanke war Nichts . Doch noch ehe Harrys Verunsicherung sich auf ihren Bund auswirken konnte, spürte er plötzlich wieder den kühlen Stoff des Vorhangs auf seiner Haut. Abermals stolperte er ein paar Schritte durch den Raum, die blauen Lichter und die eisige Schwärze verschwanden.
Sie waren wieder zurück.







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