Jenseits von Hogwarts

 

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Kapitel 2

Der Gefangene


Draco blinzelte geblendet. Er stand im hellen Fackelschein des Korridors vor ihrer Zelle. Snape war unerwartet bald zurückgekommen, hatte Draco aus seinem unruhigen Schlaf gerissen und ihn ohne ein Wort aus dem Verlies geführt. Doch die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten.
"Ich werde dich lehren, zu töten, Draco, und du wirst sehen, dass es leicht ist. Wenn du dein Unbehagen einmal überwunden hast, wird es dir bald nichts mehr ausmachen." Snape drehte sich abrupt um und bedeutete Draco, ihm zu folgen. Benommen schritt er hinter der dunklen Gestalt seines Lehrers durch die Gänge. Er hatte Furcht vor dem, was da auf ihn zukam. Wie lernte man das Töten? Gleichzeitig war da aber auch noch ein anderes Gefühl: Ein seltsam erregendes Prickeln, dass ihm einen fast wohligen Schauder über den Rücken jagte.
Immer weiter stiegen sie hinab, tief in die Gewölbe des Schlosses, bis sie schließlich in einem kalten und feuchten Gang viele Meter unter der Erde standen. Vier alte und modrige Holztüren zweigten von der linken Seite ab, am Ende des kurzen Ganges befand sich ein weiterer Raum. Die Tür stand offen und gab den Blick auf zwei Männer in Todesser-Roben frei, die an einem kleinen Tisch saßen und lachend und fluchend Karten spielten.
"Sean, Rodolphus..."
Die Männer drehten sich zur Tür und Draco erkannte Rodolphus Lestrange und Sean O'Kelly, den er nur einmal, auf dem Quidditch World Cup, getroffen hatte. Dort hatte der Todesser sich als besonders großer ‚Muggelfan' hervorgetan. Er war einer der Initiatoren des Überfalls auf die Roberts-Familie gewesen.
"Ah, Severus." O'Kelly, ein mittelgroßer, muskulöser Mann Mitte dreißig mit kurzem schwarzem Haar, funkelnden braunen Augen und einem halb gutmütigen, halb brutalen Gesicht, erhob sich und kam auf sie zu. "Und Draco Malfoy hast du auch gleich mitgebracht. Wie schön." Ein spöttisches Lächeln huschte über seine Lippen. "Nun, leider wird sich der arme Marcus nicht sehr über euren Besuch freuen, fürchte ich. Zumindest, wenn du gekommen bist, um das Verhör fortzusetzen, Severus." Er hob fragend die Augenbrauen.
Snape schüttelte leicht den Kopf. "Nein, keine Verhöre mehr für Marcus. Ich bin sicher, er hat uns alles gesagt, was er weiß."
O'Kelly sah fast ein bisschen enttäuscht aus. "Heißt das, wir müssen uns von unserem Gast verabschieden?"
Snape nickte knapp.
Lestrange tauchte hinter O'Kelly in der Tür auf. "Dann kommen wir mit. Schließlich haben wir uns tagelang um ihn gekümmert. Da wollen wir uns auch angemessen verabschieden."
Snape zuckte die Achseln. "Wie ihr wollt", sagte er kühl.
Mit einem flauen Gefühl im Magen und mit ziemlich weichen Knien sah Draco Snape auf eine der verschlossenen Türen zugehen und das Schloss wortlos mit dem Zauberstab antippen. Sofort schwang die Tür auf, völlig geräuschlos. Fast ebenso rasch drang ein ekelhafter Gestank auf den Gang hinaus, der Draco den Atem nahm und ihn würgen ließ. Er spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg und hätte sich fast erbrochen, doch Snape fuchtelte einmal heftig mit dem Zauberstab und der üble Geruch verschwand. Dennoch hatte Draco wenig Lust, die Zelle zu betreten und herauszufinden, was genau den Gestank verursacht hatte. Aber Snape winkte ihn mit einer ungeduldigen Geste durch die Tür. Die anderen beiden waren bereits in dem Verlies verschwunden.
Zunächst einmal sah Draco gar nichts. Dann flammte zischend eine Fackel in ihrer rostigen Wandhalterung auf. Doch ihr flackernder Schein vermochte nicht, dem Raum auch nur einen Hauch von Wärme zu verleihen. Die Zelle war schmal und langgestreckt, etwa drei mal sechs Meter groß und vollständig aus grob behauenen, im unruhigen Licht feucht schimmernden Steinen errichtet. Draco hatte wenigstens noch etwas Stroh und einen ‚Toiletten'-Kübel in seinem Verlies gehabt, doch hier drin gab es gar nichts. In der entferntesten Ecke lag etwas, ein dreckiges Bündel, das wohl der besagte Marcus sein mußte.
Wie schon einmal fühlte Draco Snapes Hand in seinem Rücken und widerstrebend trat er auf den Gefangenen zu. Es dauerte einen Moment bis ihm klar wurde, dass Marcus völlig nackt war. Er lag in der Ecke zusammengerollt wie ein Fötus, Beine und Arme eng an den Körper gezogen, das Kinn auf die Brust gepresst und die Hände vors Gesicht geschlagen. Sein Atem ging laut und rasselnd und immer wieder überliefen heftige Schauer den verdreckten Körper. Auf seiner blassen Haut mischten sich getrocknetes Blut, Eiter und Exkremente zu einer Ekel erregenden Kruste und Draco hob unwillkürlich die Hand, um sich die Nase zuzuhalten - ehe ihm klar wurde, dass er ja nichts mehr roch von dem zu erwartenden Gestank. Jetzt erst sah er, dass auch der Boden mit Kot, Urin und Erbrochenem bedeckt war - und er stand mitten drin. Angewidert machte er einen Schritt zurück, glitt aus und wäre genau in die widerliche Brühe gefallen, wenn Snape ihn nicht in letzter Sekunde gepackt und festgehalten hätte.
"Was für eine Sauerei", sagte Snape angeekelt.
Marcus wimmerte leise. Vielleicht hatte er Angst, für den Zustand seiner Zelle bestraft zu werden.
"Dich meine ich nicht." Snapes Stimme klang nun fast sanft. Doch als er sich zu Lestrange und O'Kelly umwandte, war sein Ton so eisig, dass die Temperatur im Kerker um mindestens drei Grad zu sinken schien. "Was, bitte, wolltet ihr damit erreichen? Wir waren fertig mit ihm, Marcus sollte lediglich hier festgehalten werden, bis der Dunkle Lord eine endgültige Entscheidung über ihn gefällt hatte."
O'Kelly zuckte grinsend mit den Schultern. "Ach, Severus, nun reg' dich nicht auf. Es war doch klar, dass unser Lord ihn letztlich töten lassen würde. Und nützliche Informationen waren auch nicht mehr aus Marcus rauszuholen. Also, warum sich noch groß Arbeit mit ihm machen?" Sein Grinsen wurde breiter. "Abgesehen natürlich von dem bisschen Spaß, den wir uns mit ihm erlaubt haben."
"Raus." Snapes Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch Draco lief es bei ihrem drohenden Klang eiskalt über den Rücken. Wenn Snape ihn so angezischt hätte, wäre er wahrscheinlich vor Angst gestorben.
Aber die beiden Todesser lachten nur und wandten sich achselzuckend der Tür zu.
"Mach's gut, Marcus!", rief O'Kelly fröhlich. "Auf Wiedersehen in der Hölle!"
Dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.

***


Severus holte hörbar tief Luft, ehe er sich wieder dem Gefangenen zuwandte.
‚Diese primitiven Idioten...', dachte er wütend.
Er richtete seinen Zauberstab auf den verdreckten Fußboden und murmelte leise einen Reinigungszauber. Die eklige Brühe verschwand. Als er den Stab auf Marcus richtete, bemerkte er aus den Augenwinkeln ein Glitzern und stellte fest, dass der Gefangene ihn hinter den schützend vors Gesicht gehobenen Händen furchtsam anstarrte. Hier unten bedeutete ein auf einen gerichteter Zauberstab nichts Gutes. Besonders dann nicht, wenn er sich in den Händen von Severus Snape befand.
"Draco, geh' zu Rodolphus und Sean und lass' dir eine Decke geben. Bring' auch einen Krug Wasser mit." Er wollte allein sein mit Marcus, wenigstens für ein paar Minuten.
Der Junge starrte ihn geistesabwesend an.
"Draco, ich rede mit dir!"
Draco zuckte heftig zusammen. "Entschuldigen Sie bitte", sagte er leise.
"Nun mach schon, los. Eine Decke und Wasser."
Folgsam nickte sein Schüler, doch seine Bewegungen waren seltsam unsicher und zögernd, als er sich langsam umwandte und zur Tür hinausging. Severus konnte das gut nachvollziehen. Marcus' Anblick war mit Sicherheit ein Schock gewesen. Nicht für ihn selbst, natürlich. Er hatte zwar nicht damit gerechnet, den Gefangenen in diesem Zustand vorzufinden - aber er hatte so etwas einfach schon zu oft gesehen, als dass es ihn noch sonderlich berührt hätte.
Normalerweise versuchte er allerdings, solche Exzesse zu vermeiden. Er fand es unwürdig und gefährlich, wenn die Todesser sich bei der Folter dermaßen gehen ließen. Und es war absolut unnötig. Veritaserum reichte völlig, um jede Information aus einem Gefangenen herauszubekommen - ohne nennenswerte Gewaltanwendung. Wenn man denn unbedingt foltern musste, dann genügte der Cruciatusfluch vollauf. Mehr Schmerzen konnte man einem fühlenden Wesen ohnehin nicht zufügen. Außerdem richtete er keine bleibenden Schäden an, wenn man ihn in Intensität und Dauer nicht übertrieb. Nützlich, falls man die betreffende Person noch brauchen konnte. Nützlich, besonders für Leute wie Voldemort, um die eigenen Gefolgsleute im Zaum zu halten.
‚Und der Cruciatus richtet keine solche Sauerei an. Na ja, meistens jedenfalls nicht,' dachte Severus verstimmt.
Tränke waren auch nicht schlecht. Er bevorzugte Halluzinogene, die Angst und Schmerzen erzeugten, ohne dem Opfer wirklichen körperlichen Schaden zuzufügen. Dem gleichen Zweck diente auch eine Reihe von ihm selbst entwickelter interessanter Folterflüche. Natürlich machte es für den Gefolterten letztlich keinen großen Unterschied, ob die Schmerzen real oder nur halluziniert waren, er erlebte sie als gleich schrecklich. Aber Severus fand diese Methode schlicht eleganter, stilvoller.
Was das Morden anging: Es berührte ihn nicht, wenn er töten mußte. Er schätzte den Wert des Lebens nicht besonders hoch ein und so hatte er auch keinerlei Gewissensbisse, wenn er einem Menschen den Tod gab. Mit der Folter sah es anders aus. Er sah ihre Nützlichkeit sehr wohl ein, wandte sie auf Befehl, und manchmal auch ohne, an, doch er fühlte sich nicht wohl dabei. Merlin sei Dank war er ein guter Okklumentor, er konnte sich gegen die Gefühle seiner Opfer abschirmen - und auch gegen seine eigenen Gefühle. Außerdem war er ein talentierter Folterer und erreichte das von Lord Voldemort gewünschte Ergebnis meist in Rekordgeschwindigkeit. Wenn schon foltern, dann wenigstens systematisch und effizient. Auch wenn es ihm kein Vergnügen bereitete.
Ein würgendes Husten riss Severus aus seinen Gedanken und er richtete den Zauberstab wieder auf Marcus.
"Nur ein Reinigungszauber. Keine Schmerzen."
Ob die Worte überhaupt zu ihm durchdrangen? Marcus zitterte heftig, als das leise Prickeln des Zaubers über seinen Körper lief und ihn von Blut und Schmutz befreite. Dabei kamen einige hässliche, zum Teil bereits brandige Wunden zum Vorschein, Verletzungen, die bei seinem letzten ‚Besuch' noch nicht bestanden hatten. Kalte Wut regte sich in seinem Herzen, doch er rang sie augenblicklich nieder. Es war geschehen, er konnte es nicht mehr ändern. Wozu sich aufregen.
Ein blasser Lichtstrahl wanderte über den feuchten Kerkerboden, als die Tür sich lautlos öffnete und Draco hereintrat, eine alte löchrige Wolldecke über dem Arm und in der Hand einen angeschlagenen Tonkrug.
"Gib mir die Decke."
Severus breitete sie wortlos über den Gefangenen. Es war verdammt kalt hier unten und das Ganze würde sich sicher noch etwas hinziehen. Er vergab sich nichts, wenn er Marcus' Los ein wenig erleichterte. Außerdem - mochte der Gefangene auch längst so nebensächliche Dinge wie sein Schamgefühl abgelegt haben, Draco würde es mit Sicherheit unangenehm sein, ihn die ganze Zeit nackt zu sehen. Als ob der Körper wichtig wäre. Noch nackter und ungeschützter als sein Körper lag die Seele des Gefangenen in diesem dunklen, kalten Loch und sehnte sich nach Erlösung, nach Frieden.
Sie würden Marcus diesen Frieden geben.

***


Draco schluckte unbehaglich, als er auf den Mann unter der Decke blickte. Befreit von all dem Unrat sah er wesentlich menschlicher aus. Es wurde schwieriger, den inneren Abstand aufrecht zu erhalten. Auch hatte Marcus inzwischen die Hände etwas sinken lassen und Draco schauderte zurück, als ihn der verzweifelt flehende Blick der kupfergrünen Augen traf. Er hatte gedacht, dass der Gefangene bewusstlos oder zumindest geistig nicht ganz da war, doch jetzt wurde ihm schmerzlich bewußt, dass Marcus genau merkte, was um ihn her vorging.
Ob er ahnte, dass er heute sterben würde? Von seiner, Dracos, Hand?
Hastig versuchte Draco, den Blick abzuwenden, doch die grünen Augen hielten ihn fest. Ein unangenehmes Prickeln lief über seine Haut und er schauderte erneut. Snape rettete ihn, indem er den Wasserkrug aus seiner Hand nahm und sich damit zu Marcus hinunter kniete, der erschrocken zurückzuckte. Der Blickkontakt brach ab.
"Trink."
Wie automatisch gehorchte der Gefangene, gestützt auf Snapes kräftige Hand nahm er hastig ein paar tiefe Schlucke.
"Nicht zuviel auf einmal!" Snape setzte den Krug auf den Boden und winkte Draco an seine Seite. Widerstrebend ließ er sich neben seinem Lehrer auf die Knie sinken. Behutsam zog Snape die Decke von Marcus' misshandeltem Körper, dabei sah er dem Gefangenen fest in die Augen - als ob er ihm wortlos seine eigene Ruhe und Gleichgültigkeit aufzwingen wollte.
"Sieh dir das gut an, Draco."
Entsetzt sog Draco die Luft ein, als er die zahllosen eitrigen und faulenden Wunden sah. Da, an den Schultern, da schimmerte etwas Weißes... Schockartig wurde ihm klar, dass es sich dabei um die Schulterblätter handeln mußte. Der Wundbrand hatte sich bereits bis auf die Knochen durchgefressen.
Das war zuviel für Draco. Mit einem Satz war er auf den Füßen, taumelte gegen die Wand und erbrach sich heftig. Als das Würgen endlich nachließ und er aus tränenden Augen aufblickte, sah er direkt in zwei forschende Augenpaare. Snape kniete nach wie vor neben Marcus, die Hand, die die Decke hielt, schwebte über dem Rücken des Gefangenen. Wie unter einem schützenden Dach lag der magere, bleiche Körper am Boden zusammengekauert. Marcus war zu schwach, um den Kopf zu heben. Doch seine im Fackelschein unheimlich flackernden Augen blickten Draco unverwandt an. Langsam ließ Snape die Decke wieder sinken. Dann zog er den Zauberstab und ließ kommentarlos das Erbrochene verschwinden. Benommen ging Draco zu ihm hinüber und sank wieder neben ihm auf die Knie.
"Entschuldigung, Sir", murmelte er leise.
Snape schüttelte abwehrend den Kopf. "Dafür sicher nicht." Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: "Ich habe dir das hier gezeigt, damit dir von Anfang an klar ist, was mit denen passiert, die es wagen, sich dem Dunklen Lord zu widersetzen. - Allerdings,", fügte er leiser hinzu, "was noch wichtiger ist: Dies hier ist nicht auf seinen Befehl hin geschehen. Du siehst, auch als Todesser hast du einen gewissen Spielraum, was die Erfüllung von Befehlen betrifft, zum Guten wie zum Schlechten."
Draco nickte stumm. Dann fragte er zögernd: "Warum...?"
"Warum er hier ist?"
Draco nickte.
"Er ist ein Verräter. Wollte Informationen an den Gegner weitergeben. Unglücklicherweise" - Snape lächelte dünn - "ist er dabei an einen Spion des Dunklen Lords geraten."
Draco schluckte. "Du bist ein Todesser?", fragte er Marcus beklommen. Wenn der Dunkle Lord so etwas mit seinen eigenen Leuten anstellte...
Der Geist eines Lächelns stahl sich auf die Lippen des Gefangenen und er nickte schwach. Es schien, als ob er etwas sagen wollte, doch statt dessen bekam er einen heftigen Hustenanfall. Blutiger Schaum tropfte aus seinem Mund.
"Er hat eine ziemlich böse Lungenentzündung", sagte Snape als Antwort auf Dracos beunruhigten Blick. "Unsere Ordensbrüder haben nicht viel von ihm heil gelassen. - Ich würde dir ja aufhelfen, Marcus," wandte er sich in sachlichem Ton an den noch immer hustenden Gefangenen, "aber jede Berührung würde dir nur zusätzliche Schmerzen bereiten." Marcus nickte keuchend.
"Stirbt er?", fragte Draco beklommen. Er konnte seinen Blick nicht von den grünen Augen losreißen.
"Oh, sicher, er stirbt", erwiderte Snape mit einem freudlosen Lachen. "Aber sein Sterben wird sich wohl noch über ein paar Tage hinziehen. Es sei denn..." Er sah Draco bedeutungsvoll an.
Draco erstarrte innerlich. Nun, er hatte gewußt, was kommen würde, oder? Das war schließlich der Grund gewesen, aus dem Snape ihn mit in die Kerker genommen hatte: Er wollte ihn Töten lehren.
Marcus starrte Draco unverwandt an. Das Husten hatte aufgehört, sein Atem ging wieder schwer und rasselnd. Snape hatte Recht: Er würde in jedem Fall sterben. Vielleicht an der Lungenentzündung, vielleicht an einer Blutvergiftung - oder, und das war die bei Weitem unerfreulichste Möglichkeit, unter den Händen von O'Kelly und Lestrange.
Draco straffte sich unwillkürlich. Da war es doch besser, wenn er es tat, sauber und rasch und weitestgehend schmerzlos - oder?
Snape machte Anstalten, sich zu erheben. "Soll ich -"
"Nein", schnitt Draco ihm rasch das Wort ab. "Ich kann das allein."
Er stand abrupt auf. Snape reichte ihm schweigend seinen Zauberstab. Draco ging ein paar Schritte rückwärts, ohne die beiden Männer am Boden aus den Augen zu lassen. Dann hob er langsam den Zauberstab und zielte damit auf Marcus' Stirn, etwa zwei Finger breit oberhalb der Nasenwurzel. Snape wich rasch etwas zur Seite, doch der Gefangene sah Draco ruhig an. Etwas wie Erleichterung lag in seinem Blick.
"AVADA KEDAVRA!"
Draco blickte nicht weg, als er seinen zweiten Unverzeihlichen Fluch aussprach. Er sah direkt in Marcus' Augen, als das gleißend grellgrüne Licht zwischen sie fuhr. Die Augen weiteten sich, ihr Blick flackerte und wurde starr. Dann erloschen sie.

***


Severus war zufrieden mit seinem Schüler. Es hatte ihn fast überrascht, wie leicht es gewesen war. Nachdem Draco solche Skrupel gezeigt hatte, Dumbledore zu töten, hätte er mehr Unsicherheit, vielleicht sogar Widersetzlichkeit erwartet. Statt dessen hatte er kaum etwas tun müssen, um Draco zu seinem ersten Mord zu drängen. Nun, die Situation war auch eine andere gewesen als auf dem Astronomieturm. Draco hatte Marcus nicht gekannt, außerdem hatte er den Dunklen Lord diesmal direkt im Nacken gehabt - was stets sehr überzeugend wirkte.
Severus war sich sicher, dass auch sein eigenes Verhalten viel zum reibungslosen Ablauf der Aktion beigetragen hatte. Rodolphus und Sean hätten mit ihrer brutalen Art vielleicht alles verdorben, einen solchen Widerwillen in Draco erzeugt, dass er nur aus Angst vor Bestrafung und aus Ekel vor der Situation getötet hätte. Doch dank Severus war es anders gekommen: Der Junge hatte seinen ersten Mord aus Überzeugung begangen. Nicht unbedingt, weil er glaubte, dass Marcus den Tod verdiente, aber überzeugt davon, dass es die beste Lösung für alle war. Mehr konnte man beim ersten Mal wirklich nicht erwarten. Der Dunkle Lord würde erfreut sein - und größerer Schaden, vor allem der seelische Schaden, den das Töten unter anderen Umständen vielleicht bei Draco verursacht hätte, war vermieden worden.
Der Unauflösbare Eid, den er Narcissa geschworen hatte und der ihn unter Einsatz seines Lebens verpflichtete, Draco so gut er nur konnte zu beschützen, war nicht der einzige Grund für sein Handeln. Severus wusste wohl, dass er in Hogwarts ein unbeliebter und vielleicht tatsächlich nicht besonders geeigneter Lehrer gewesen war, doch ab und zu war unter den vielen verhassten Schülern ein Kind aufgetaucht, dass er wirklich mochte. Draco war so ein Kind gewesen. Jetzt war er fast schon ein junger Mann. Severus mochte ihn einfach und wollte verhindern, dass Draco die gleichen seelischen Qualen durchzustehen hatte wie er selbst - bevor er gelernt hatte, seinen Geist und seine Gefühle zu kontrollieren, statt sich von ihnen beherrschen zu lassen.
Severus warf einen letzten Blick auf Marcus. Die leuchtend grünen Augen begannen bereits trüb zu werden und die Gesichtszüge wirkten seltsam wächsern und fremd. Auch ihn hatte er gekannt und sogar gemocht, doch er konnte nicht alle schützen. Severus zog die Decke über den Toten und erhob sich. Jetzt blieb nur noch eines zu tun.
"Komm, Draco. Der Dunkle Lord erwartet uns bereits." Als er den verunsicherten Blick seines Schülers bemerkte, setzte er mit einem dünnen Lächeln hinzu: "Keine Sorge, du hast deine Sache gut gemacht. Er wird zufrieden sein mit dir."

***


"Zeig' es mir, Severus!" Die kalte Stimme des Dunklen Lords echote durch den leeren Thronsaal. Gehorsam erwiderte Snape seinen Blick, als sein Gebieter den Zauberstab hob und ihm damit leicht auf die Stirn tippte. "Legilimens!"
Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Furcht beobachtete Draco gebannt das stumme Zwiegespräch der beiden. Sie waren ganz allein in dem großen Saal, der Dunkle Lord, Snape und er selbst. Zweimal ertönte das grausame Lachen ihres Herrn und Draco versteifte sich unwillkürlich. Was mochte ihn so amüsieren? Der furchtbare Zustand des gefolterten Marcus? Dracos Schwäche, als er sich angesichts der schrecklichen Wunden erbrechen musste?
Als der Dunkle Lord schließlich den Kontakt zu Snape unterbrach und sich zu Draco wandte, lag ein kaltes Lächeln auf seinen Lippen. "Komm her zu mir, Draco", sagte er in seiner sanftesten Stimme, die Draco einen eisigen Schauder über den Rücken jagte. Er trat vor, ließ sich vor seinem Herrn auf die Knie sinken und küsste den Saum seiner Roben.
"Steh auf und gib mir deine Hand. Nein, die andere, die linke." Draco zitterte unter dem eisigen Griff des Dunklen Lords, obwohl er verzweifelt versuchte, seine Angst zu unterdrücken.
Das kalte Lächeln wurde breiter. "Severus!"
Draco wurde von hinten gepackt. Eine Hand schloss sich fest um seinen linken Oberarm, ein fremder Arm schlang sich um ihn und presste seinen rechten Arm auf seine Brust. Er spürte Snapes Atem an seinem Hals und Gänsehaut breitete prickelnd sich über seinen Körper aus. Draco fühlte sich wie in einem Schraubstock, er konnte kaum atmen in Snapes Griff. Rote Schlangenaugen funkelten böse amüsiert, als der Dunkle Lord seinem angstvollen Keuchen lauschte, die Panik in seinen Augen glimmen sah. Mit seiner leichenkalten Hand schob er langsam Dracos linken Ärmel hoch und strich fast zärtlich über seinen Unterarm. Draco schauderte.
"Treue Dienste müssen belohnt werden, Draco." Der Dunkle Lord hob gemächlich seinen Zauberstab und senkte die Spitze auf Dracos Unterarm.
Draco hielt den Atem an.
"Morsmordre", zischte sein Herr genüsslich.
Draco keuchte auf vor Schmerz und versuchte vergeblich, seinen Arm zu befreien. Übelkeit würgte ihn, als der Geruch verbrannten Fleisches in seine Nase stieg. Ein glühendes Messer schien sich durch seine Haut zu schneiden, bis es über Knochen schabte. Seine Beine gaben nach, doch Snape hielt ihn unerbittlich aufrecht.
Dann war es plötzlich vorbei. Der Arm brannte immer noch höllisch, aber das war nichts im Vergleich zu den vorangegangenen Schmerzen. Der eiserne Griff Snapes lockerte sich etwas und Draco schnappte nach Luft. Sein Blick war getrübt und klärte sich nur langsam. Er spürte, wie der Dunkle Lord seine Hand losließ. Zögernd hob er den linken Arm und betrachtete ihn benommen. Auf der Innenseite des Unterarms war die bleiche Haut stark gerötet. Und in der Mitte prangte, schwarz-rot und noch immer leicht kokelnd, der Totenschädel mit der Schlange. Das Dunkle Mal der Todesser.




Kapitel 1

Kapitel 3

 

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