Jenseits von Hogwarts

 

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Kapitel 4

Liebe siegt?


Am späten Abend desselben Tages lag Harry auf seinem Bett in seinem Zimmer Am Grimmauldplatz 12 und starrte, die Arme im Nacken verschränkt, nachdenklich an die Decke. Es war nicht so sehr seine neue Rolle als Mitglied des Phönixordens, die ihn beschäftigte, nicht einmal die scheinbar so sensationelle Entdeckung von Voldemorts Hauptquartier. Denn dank der Schutzbanne und Flüche, die über dem verdächtigen Gelände lagen, wussten die Auroren, die den Ort ausfindig gemacht hatten, nicht einmal sicher, ob sich unter dem magischen Schild überhaupt ein Gebäude verbarg - oder vielleicht etwas ganz anderes. Das Einzige, was sie sicher hatten erkennen können, war eine ungewöhnlich starke Konzentration schwarzer Magie. So war das Ganze eher eine vage Vermutung als eine großartige Entdeckung und der Orden hatte daraus noch keine praktischen Konsequenzen ziehen können.
Nein, was Harry wirklich beschäftigte, war etwas anderes: Seine letzten Gespräche mit Dumbledore gingen ihm durch den Kopf - Gespräche über Tom Riddle alias ‚Lord' Voldemort. Nach dem zu urteilen, was der Direktor ihm von eigenen und fremden Erinnerungen an Riddle gezeigt hatte, schien Dumbledore von Anfang an gewusst zu haben, dass Tom zu einer Gefahr zumindest für seine Mitschüler werden könnte. Dennoch war es ihm nicht gelungen, den jungen Zauberer von der Dunklen Seite fern zu halten, ja, er hatte es nicht einmal wirklich versucht.
War dieses Versagen vielleicht der wahre Grund dafür, dass der Direktor sich so intensiv um Harry bemüht hatte? Abgesehen davon natürlich, dass er ihn deshalb zu schützen versuchte, weil Harry laut der Prophezeiung derjenige - und wohl auch der Einzige - war, der Voldemort besiegen konnte? Hatte Dumbledore befürchtet, Harry könnte sich dem Bösen anschließen, würde Voldemort nur vernichten, um sich anschließend zu seinem Nachfolger zu erheben? Der Schulleiter, ebenso wie Voldemort selbst, hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen Tom und Harry gab. Immer wieder war Harry verdächtigt worden, selbst ein potentiell mächtiger Schwarzmagier zu sein - selbst Voldemort hatte das für möglich gehalten. Schon in Harrys erstem Schuljahr hatte der Sprechende Hut erwogen, ihn nach Slytherin zu stecken - Riddles Haus. Und auch Malfoys und Snapes Haus. Was hatte er gemeinsam mit Voldemort? Mit Draco und Lucius Malfoy? Oder mit Severus Snape?
Um Draco Malfoy hatte Dumbledore sich ebenfalls besonders bemüht - was im Klartext hieß, dass er sich trotz seines Wissens um Dracos mörderischen Auftrag nicht im Geringsten bemüht hatte, seinen potentiellen Killer zu stoppen. Und der Direktor war dabei so weit gegangen, nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Schüler aufs Spiel zu setzen. Mit dem Ergebnis, dass Katie Bell für Wochen im St. Mungos gelandet und Ron mehr als knapp dem Tod entgangen war - und Draco den Schulleiter fast getötet hätte. Was ihm Snape dann ja abgenommen hatte.
Snape , sein meistgehasster Lehrer, der schließlich Dumbledore getötet hatte. Auch Snape war ein Außenseiter gewesen, wie Harry nur zu gut wusste, und sein Vater James, sein Pate Sirius und sogar der scheinbar so sanfte Remus Lupin hatten viel dazu beigetragen, dass er es blieb. Auch hier hatte Dumbledore versagt, hatte nicht erkannt, wie verzweifelt der junge Slytherin Halt und Unterstützung gebraucht hätte. Sirius' Mordversuch war totgeschwiegen, als dummer Schülerstreich abgetan worden. Und Snape hatte der Direktor zum Schweigen verpflichtet, um den jungen Werwolf Lupin zu schützen. Kein Verständnis für den verstörten und gequälten Slytherin, statt dessen Solidarität mit den überheblichen Gryffindors. Nun, Snape hatte sich seine Freunde anderswo gesucht. Direkt nach der Schule hatte er sich den Todessern angeschlossen und schließlich die Prophezeiung an Voldemort verraten, die letztlich zu dessen Mord an Harrys Eltern geführt hatte. Harry konnte kein Mitleid mit ihm haben, nicht mit dem erwachsenen Snape zumindest. Und Dumbledore hatte zum zweiten Mal bei Snape versagt, als er dem Mann das Mitgefühl gewährte, das dieser als Kind gebraucht hätte, ohne zu erkennen, dass Snape längst ein anderer geworden war, nicht mehr hilfsbedürftig, sondern kalt, kalkulierend und grausam. Nur aufgrund von Snapes geheuchelter Reue für die Mitschuld am Tod von Lily und James Potter hatte der Direktor sich für ihn verbürgt, ihn freudig und erleichtert wieder in Hogwarts aufgenommen, ihn auf die Schüler losgelassen... und letztlich mit seinem Leben dafür bezahlt.
Harry schüttelte stumm den Kopf. Ihm gefiel die Richtung nicht, die seine Gedanken nahmen, aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Am Anfang seiner Schulzeit hatte er Dumbledore verehrt und sich in seiner Gegenwart stets sicher und beschützt gefühlt. Doch je älter er wurde, desto mehr Risse hatte das Bild des Direktors bekommen. Nach Sirius' Tod war er sogar so weit gegangen, Dumbledores Büro zu demolieren - aus Wut darüber, dass der ihn nicht in seine Pläne eingeweiht und dadurch den Tod seines Paten mitverursacht hatte. Nun, zuletzt hatte Dumbledore ihn eingeweiht - und jetzt war er tot, und Harry konnte ihm die vielen Fragen, die ihm auf der Zunge brannten, nicht mehr stellen.
Aber eines war klar: Albus Dumbledore hatte wiederholt Menschen, die ihm besonders am Herzen gelegen hatten, an die Dunkle Seite verloren - und war zuletzt Voldemort unterlegen. ‚Und zwar deshalb', dachte Harry mit steigender Wut und einem brennenden Gefühl im Magen, ´weil er immer wieder den falschen Leuten vertraut hat. Leuten wie Riddle und Snape. Er hätte sie erledigen sollen, solange noch Zeit dazu war.' Es mochte ja sein, dass jeder eine zweite Chance verdiente, aber wenn das Böse jemandem förmlich aus den Augen sprang... Er schnaubte verächtlich.
Snape und die Malfoys. Voldemort. Er war bereit, gegen sie zu kämpfen - und er würde ihnen keine Gnade erweisen.

***


Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine finsteren Gedanken. Harry setzte sich auf. "Ja? Herein!"
Die Tür öffnete sich und Hermine schlüpfte ins Zimmer, gefolgt von ihrem überdimensionalen, hässlichen roten Kater Krummbein.
"Hi, Harry."
"Hi."
Krummbein schnurrte laut und landete mit einem großen Satz neben Harry auf dem Kopfkissen. Harry strich ihm gedankenverloren über das struppige Fell.
"Magst du nicht mit runter in die Küche kommen? Fred und George führen gerade ihre neuesten Scherzartikel vor. Der halbe Orden ist versammelt."
"Nööö, keine Lust..."
"Ach, komm schon, Harry. Du kannst doch nicht den ganzen Abend hier oben vor dich hin brüten!" Sie sah ihn besorgt an. "Wenn du schon nicht runter kommen willst, hast du was dagegen, wenn ich dir hier oben Gesellschaft leiste?"
"Nö."
"Sehr gesprächig bist du aber nicht gerade!"
Harry seufzte. "Mir gehen einfach zu viele Sachen durch den Kopf..."
Hermine nickte verständnisvoll. "Wie wär's, wenn du mit mir drüber reden würdest?"
Zweifelnd blickte Harry sie an. Dann zuckte er resigniert mit den Schultern. "Na gut. Du lässt mich ja doch nicht in Ruhe, bis ich mit dir geredet hab."
Ein zufriedenes Grinsen überzog das Gesicht seiner Freundin. "Genau!" Sie ließ sich auf das Bett gegenüber von Harry fallen, in dem normalerweise Ron schlief, und zog eine Tüte Schokofrösche aus der Tasche. "Bedien dich. - Also?" Sie sah in aufmunternd an.
"Ach, da sind so viele Dinge, die mich beschäftigen... Dumbledores Tod... Snape ... Sirius... Aber was mich momentan am meisten beunruhigt, ist meine enge Verbindung mit Voldemort. Ich meine, mir ist klar, dass einer von uns den anderen töten muss und natürlich werd ich alles tun, damit ich es bin, der unseren Kampf überlebt, aber -"
"Du kennst ihn inzwischen ziemlich gut, oder?"
"Voldemort? Na ja, irgendwie schon, allein durch die ganzen Visionen, die ich von ihm hatte, die Gefühle, die ich von ihm wahrgenommen habe... Und was ich von ihm gesehen habe, das gefällt mir überhaupt nicht! Wenn ich dran denke, dass er mich im ersten Hogwarts-Jahr aufgefordert hat, mich ihm anzuschließen, dass er geglaubt hat, ich könnte auch ein mächtiger Schwarzmagier werden... Und wer weiß, was er noch alles auf mich übertragen hat, außer der Fähigkeit, mit Schlangen zu sprechen, als er mir das da verpasst hat." Harry rieb sich ärgerlich über die Narbe auf seiner Stirn. "Ich weiß einfach nicht, was passieren wird, wenn ich ihm wieder gegenüber stehe und ihn töten soll. Vorhin, bevor du reingekommen bist, da dachte ich noch, dass ich ihn unbedingt erledigen will. Und ich glaube auch nicht, dass es einen andern Weg gibt. Wenn es das absolut Böse gibt, dann ist es sicher in Voldemort verkörpert. Trotzdem, vielleicht hat er noch irgendwo etwas Menschliches an sich und mir gefällt der Gedanke nicht, dass ich seinetwegen zum Mörder werden soll. - Das heißt, falls er mich nicht vorher umbringt. - Aber weißt du, vor zwei Jahren, auf dem Friedhof, als er mich töten wollte und unsere Zauberstäbe dieses magische Netz aufgebaut haben... Als die Geister seiner Opfer aus seinem Zauberstab kamen, da hatte er Angst. Wirkliche Angst! Das heißt, er ist nicht über jedes menschliche Gefühl hinaus. Und noch früher, im zweiten Hogwarts-Jahr, als er mir als Tom Riddle begegnet ist -"
"Da war er dir anfangs fast sympathisch?"
"WAS? SYMPATHISCH? LORD VOLDEMORT MIR SYMPATHISCH? ER HAT MEINE ELTERN UMGEBRACHT UND -"
Krummbein fauchte laut und sprang auf das gegenüberliegende Bett zu Hermine. Sie strich dem Kater besänftigend über den Rücken und sah Harry missbilligend an.
"Harry, beruhige dich - und schrei nicht so. Was ich mit sympathisch meine, ist, dass du dich irgendwie von ihm angezogen fühlst, dass du das Gefühl hast, du und er, ihr wärt irgendwie nicht ganz zu trennen - irgendwie ineinander verwoben."
Harry starrte sie verblüfft an. "Nun ja, irgendwie schon. Ja, ich denke, das trifft's ganz gut." Nach einer Pause setzte er hinzu: "Aber ich verstehe einfach nicht, wie ein Mensch so werden kann wie Voldemort. Ich meine, er hat doch auch ganz normal angefangen. Er hatte vielleicht keine schöne Kindheit, na gut, die hatte ich auch nicht. Nach dem, was Dumbledore mir gezeigt hat, hat Tom Riddle schon als kleiner Junge begonnen, seine magischen Fähigkeiten auszunutzen, um andere zu tyrannisieren - und zwar auf wirklich bösartige Weise. Und die Leute im Waisenhaus waren gar nicht so übel zu ihm, weißt du? Kein Vergleich zu den Dursleys!"
"Harry, du darfst eines nicht vergessen." Hermine sah ihn ernst an. "Deine Eltern haben dich geliebt. Und sie haben einander geliebt. In deiner Familie war die Liebe so stark, dass einer bereit war, für den andern zu sterben. Nach dem zu urteilen, was du Ron und mir über Tom Riddles Kindheit erzählt hast, war bei ihm genau das Gegenteil der Fall. Was dich gestärkt und dir sogar das Leben gerettet hat, hat Tom völlig gefehlt. Er hat nicht Liebe mitbekommen von seinen Eltern, sondern Hass. Und auch im Waisenhaus und in Hogwarts hat er eher Ablehnung als Zuneigung erfahren. Dumbledore hat ihn mit einem brennenden Schrank eingeschüchtert bei ihrer ersten Begegnung... Ziemlich schwarze Pädagogik, wenn du mich fragst. Toms Anhänger in Hogwarts haben ihn bewundert und gefürchtet, aber nicht wirklich gemocht. Ich denke, auf seinen Hauslehrer Slughorn trifft das Gleiche zu. Da Tom keine Liebe bekommen konnte, wollte er Macht. Schon während der Schulzeit hat er sich der Schwarzen Magie zugewandt und in den folgenden Jahren perfektionierte er seine Kenntnisse. Mit seiner Macht wuchs auch die Zahl seiner Anhänger. - Du hast mir erzählt, wie grausam er seine Todesser bestraft, wenn sie versagen?"
Harry nickte stumm.
"Ich glaube, dass er jedes Versagen seiner Anhänger als Gehorsamsverweigerung, als Beleidigung empfindet. Er bezeichnet die Todesser als seine wahre Familie, aber er weiß überhaupt nicht, was eine Familie ist. Was er verlangt, ist absoluter Gehorsam und hundertprozentige Perfektion. Aber tief unter seinem Hass und seiner Grausamkeit ist das verborgen, was er eigentlich sucht: Liebe. Jede Grausamkeit, die er begeht, jeder Mord, den er ausführt, ist Rache für das, was ihm versagt geblieben ist: Liebe.
Ich denke, Voldemort ist getrieben von zwei Kräften: Einerseits Hass, entstanden aus mangelnder Liebe - und andererseits Furcht, entstanden aus mangelndem Vertrauen. Er wollte unsterblich werden, weil er eine ungeheure Angst vor dem Tod hat. Diese Angst vor dem Tod wächst aus seinem mangelnden Vertrauen in das Leben. Und er hat kein Vertrauen in das Leben, weil er nie geliebt wurde und daher selbst nicht lieben kann. Und das ist auch der Grund, Harry, weshalb du ihn besiegen kannst: Du kannst lieben und du wirst geliebt."
Nachdem Hermine geendet hatte, herrschte eine ganze Weile Schweigen im Zimmer. Einzig das gleichmäßig an- und abschwellende Schnurren Krummbeins war zu hören. Dann nickte Harry langsam. "Ja, das hat auch Dumbledore immer gesagt. Aber Liebe allein wird mir nicht viel helfen. Ich muss die Horcruxe finden und zerstören - obwohl ich nicht weiß, wie ich das alleine schaffen soll. Der Orden hat zwar - vielleicht - Voldemorts Hauptquartier gefunden, aber du hast ja selbst gehört, dass sie keine Idee haben, wie sie ihn angreifen könnten. Und das hätte ja auch wenig Sinn, solange die Horcruxe nicht vernichtet sind. Was die anderen Ordensmitglieder natürlich nicht wissen können. Die wissen ja nicht mal, dass die Dinger überhaupt existieren."
Hermine betrachtete ihn stirnrunzelnd. "Weißt du, ich bin immer noch der Meinung, dass du es ihnen sagen solltest."
"Dumbledore wollte es ihnen nicht sagen. Also werde ich es auch nicht tun", entgegnete Harry entschieden. "Nur euch durfte ich einweihen, nur dich und Ron."
"Und wir werden dir auch helfen - soweit wir es können."
"Ihr seid wirklich gute Freunde, ihr zwei", seufzte Harry dankbar. "Die Horcruxe werden wir zusammen suchen. Aber ich fürchte, ich werdeVoldemort letztlich töten müssen. Alleine. Und das will ich auch."
"Meinst du nicht, dass... na ja, dass Voldemort irgendwie geheilt werden könnte?", fragte Hermine zögernd.
"Ich weiß nicht, Hermine. Vielleicht ist es das, was Dumbledore ursprünglich gehofft hat, was ihn immer wieder hat zögern lassen, Voldemort zu töten. Aber zuletzt war er überzeugt, dass Voldemort vernichtet werden muss, das kannst du mir glauben."
"Aber... Hältst du das wirklich für die Lösung? Denn, sieh mal, sobald Voldemort vernichtet wäre, käme der nächste Dunkle Lord... Lucius Malfoy vielleicht - oder, warum nicht, eine Dunkle Lady. Wie wär's zum Beispiel mit Bellatrix Lestrange?"
Harry schauderte, als er sich an die irre Cousine seines Paten erinnerte, die Nevilles Eltern bis zum Wahnsinn mit dem Cruciatus-Fluch traktiert hatte - und das war nach Voldemorts Fall gewesen, als sie davon ausgehen musste, dass er endgültig vernichtet war und sie von niemandem zu ihrer Tat gedrängt wurde. Hermine hatte Recht: Das Problem ging weit über Voldemort hinaus. "Dumbledore hat gesagt, wir müssen das Böse permanent bekämpfen, damit es nicht überhand gewinnt - aber er sagte auch, es sei nicht möglich, das Böse für immer auszulöschen. Trotzdem, sollte ich im Kampf gegen Voldemort sterben, werde ich so viele Todesser mitnehmen, wie ich kann." Harry lachte kurz und freudlos. "Dumbledore fand komischerweise, das wäre die richtige Einstellung."
Hermine fuhr sich müde durch die Haare. "Da hatte Dumbledore wohl leider recht, fürchte ich", sagte sie traurig.



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