Jenseits von Hogwarts

 

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Kapitel 9

Der Dom aus Licht


Harry hatte noch nie besonders viel übrig gehabt für das Reisen mit Flohpulver, und als er jetzt verrußt und hustend aus seinem Zielkamin stolperte, war seine Sympathie für diese Art des magischen Transports nicht gerade gestiegen.
Wenigstens war diesmal seine Brille heil geblieben. Hastig wischte er die verdreckten Gläser sauber. Der lauernde Schatten vor ihm nahm Gestalt an. Da stand Snape, wie immer in schwarz, nun aber mit einer Neuerung, die es Harry eiskalt über den Rücken laufen ließ: Er trug die Kluft der Todesser, sein Gesicht lag im Schatten einer weiten Kapuze und war zusätzlich hinter einer Maske verborgen, durch deren Schlitze nur die funkelnden schwarzen Augen und der schmale Mund seines Gegenübers zu sehen waren.
"Und jetzt?", fragte Harry mit belegter Stimme.
"Jetzt", antwortete Snape und zog blitzschnell seinen Zauberstab, "werden wir dich ein bisschen an deine Umgebung anpassen."
Ehe Harry reagieren konnte, hatte er ihm mit der Spitze des Stabes leicht auf den Kopf getippt. Ein kühles Prickeln lief über seine Haut. Als es zuletzt seine Zehen erreicht hatte, blickte Harry misstrauisch an sich herab. Aber da gab es nichts zu sehen, er hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst! Irritiert hob er seine Hände, sie waren noch da, schienen aber gleichsam mit dem Hintergrund zu verschmelzen.
"Der Desillusionierungs-Zauber!", wurde es Harry mit einem Mal klar.
Snape nickte nur, er war noch nicht fertig mit ihm. Diesmal zielte er direkt auf Harrys Stirn und der trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
"Nicht bewegen, Potter!", fauchte Snape. "Ignotus!"
Harrys Gedanken lösten sich auf, trieben davon wie Nebelfetzen im Wind, verschmolzen mit ihrer Umgebung... "Snape!" Er kämpfte mit der aufsteigenden Panik. "Was ist das?", keuchte er, mühsam um Beherrschung ringend.
Die schwarzen Augen hinter der Maske sahen ihn prüfend an. "Ruhig bleiben, Potter. Das Gefühl ist unangenehm, aber du wirst dich gleich daran gewöhnt haben. Der Ignorier-Zauber macht mit deinem Geist dasselbe, was der Desillusionierungs-Zauber mit deinem Körper macht: Er passt ihn möglichst vollständig der Umgebung an. Das wird dich eine Zeit lang vor Entdeckung schützen, vor allem, wenn der Dunkle Lord all seine Gedanken auf den Kampf mit den Phönixkriegern gerichtet hat. Dennoch: Bleib' außerhalb seines Blickfeldes, verhalte dich vollkommen ruhig und", in die Augen trat ein drohendes Funkeln, "halte deinen Geist verschlossen."
Harry funkelte trotzig zurück und biss sich auf die Zunge, um eine scharfe Erwiderung zu unterdrücken.
" Kontrolle , Potter. Selbstkontrolle ist alles. Ich kann dich bis in den Thronsaal des Dunklen Lords bringen, aber ab da musst du selbst entscheiden, was du tust. Am Besten tust du gar nichts, bevor die Phönixkrieger im Schloss sind. Lucius versucht gerade, das magische Bollwerk im und um das Gebäude soweit zu schwächen, dass sie durchbrechen können."
" Lucius? Lucius Malfoy?" Wieso war der nicht in Askaban? Und warum wollte Malfoy plötzlich Voldemort stürzen?
"Genau der, Potter. Und jetzt halt die Klappe und komm mit."

***


An Snapes Seite eilte Harry durch die düsteren Gänge von Voldemorts Schloss. ‚Eigentlich ein Witz', dachte er irritiert, ‚das unser eigenes Hauptquartier im Grunde genauso finster und voll von schwarzer Magie ist, wie das der Todesser.' Sie stiegen hastig eine Treppe hinauf und durchmaßen einen weiteren langen Korridor, der direkt auf eine große alte Flügeltür zulief, vor der zwei schwarz vermummte Wächter standen.
"Passwort?", rief der eine mit schnarrender Stimme.
"Ich bin's, Goyle, du Idiot", zischte Snape wütend.
Goyle senior zuckte zurück, als ob ihn jemand geschlagen hätte. "Verzeih', mein Gebieter."
Harry blickte erstaunt zu Snape hinüber. Gebieter? Snape ? Doch da schwangen lautlos die Türflügel auf und gaben den Blick frei in Voldemorts Thronsaal. Umgeben von vielleicht zwanzig schwarzen Gestalten saß der mächtige Schwarzmagier auf seinem hölzernen Herrschersitz, die Schlange Nagini zu seinen Füßen. Ein böses Lächeln lag auf Voldemorts Lippen.
"Severus! Endlich!", erklang die unmenschlich kalte und metallische Stimme, die Harry wider Willen die Nackenhaare aufstellte. "Ist alles nach Plan verlaufen?"
Snape deutete eine Verbeugung an. "Alles, mein Lord."
Harry drückte sich derweil in eine Nische im Schatten einer weiteren Tür, sein Herz hämmerte irgendwo hoch oben in seinem Hals und immer noch hatte er das unangenehme Gefühl, seine Gedanken flössen aus ihm heraus und versickerten irgendwo zwischen den kalten Steinen.
"Gut, gut. Diese lächerlichen Lichtkrieger ", Voldemort spie das Wort förmlich aus, so dass es wie eine üble Beschimpfung klang, "werden die Überraschung ihres Lebens erfahren, wenn sie versuchen, mein Schloss anzugreifen."
Mit einem lauten Krachen sprang die Tür neben Harry auf und verfehlte ihn nur um wenige Zentimeter. Alle zuckten zusammen und fuhren herum, als ein weiterer Todesser in den Raum gestürzt kam. Einen winzigen, schrecklichen Moment lang hatte Harry das Gefühl, dass die Aufmerksamkeit Voldemorts nicht dem Neuankömmling galt, sondern der schattigen Nische, in der er selbst sich verbarg. Doch als die atemlose Stimme Lucius Malfoys durch den Saal hallte, verschwand das Gefühl sofort.
"Mein Lord, die Phönixkämpfer haben die magischen Barrieren überwunden."
"WAS? Wo sind sie?"
"Mein Lord", keuchte Malfoy und Panik schwang in seiner Stimme, "sie sind bereits im Schloss."

***


"IM SCHLOSS? Das haben sie niemals alleine geschafft!", fauchte Voldemort ungläubig. "WER HAT MICH VERRATEN?"
Zornentbrannt sprang er auf, riss den Zauberstab in die Höhe und richtete ihn der Reihe nach auf seine Todesser.
"DU!"
Lucius Malfoy erstarrte.
"Dank' dem Schicksal dafür, dass ich keine Zeit habe, mich ausgiebig mit dir zu befassen!", spuckte Voldemort hasserfüllt. "AVADA..."
"Nein!" Harry hatte sich vor Malfoy geworfen, ehe er wusste, was er tat. "PROTEGO!"
"...KEDAVRA!"
Die Zauber rasten aufeinander zu, zwei leuchtend rote und grüne Strahlen. Als sie sich trafen, schossen sie ineinander verschlungen zur Decke empor, wechselten die Farbe und explodierten in einem Funkenwirbel goldenen Lichts. Sternschnuppen gleich regneten winzige Flämmchen herab, wurden zu hauchdünnen Fäden und verbanden sich zu einem kuppelförmigen Spinnennetz, gewoben aus Strahlen funkensprühenden goldenen Lichts, ein gleißender Dom, der Harry und Voldemort umgab, alle anderen aber aussperrte.
Die konzentrierte Magie hatte Snapes Zauber aufgehoben, Harry war wieder sichtbar. Die Todesser und auch die jetzt in den Raum stürmenden Phönixkrieger erstarrten förmlich, wie in Trance auf das faszinierende Schauspiel starrend, das sich da vor ihren Augen abspielte.
Harry erlebte eine solche Szene jetzt schon zum zweiten Mal. Doch diesmal war es anders als damals auf dem Friedhof. Er hatte das merkwürdige Gefühl, dass ihm von überall her Kraft zuströmte, nicht nur aus dem strahlenden Spinnennetz, das jetzt vom Gesang des Phönix' vibrierte, nicht nur von den geisterhaften Gestalten der Opfer Voldemorts, die jetzt, wie damals, aus dem Zauberstab des schwarzen Magiers quollen, diesmal aber viel schneller und zahlreicher. Wieder sah er Cedric, seine Mutter Lily, seinen Vater James... Doch sie nickten ihm nur kurz aufmunternd zu, als spürten sie, dass er ihren Zuspruch nicht unbedingt brauchte, dass er stark genug war. Und da kamen mehr, viel mehr der silbergrauen Gestalten, Rauch erst, dann aufsteigend zu ihrer menschlichen Form, drohend auf Voldemort zugleitend, ihn einkreisend, ihm schreckliche Dinge zuflüsternd. Doch die Energie strömte Harry auch von außen zu, deutlich spürte er Professor McGonagall, Lupin, Moody, Slughorn und die anderen Ordensmitglieder, alle unterstützten sie ihn wortlos mit ihren ermutigenden Gedanken und Gefühlen. Diesmal zitterte seine Hand nicht, mühelos hielt er die Verbindung zwischen sich und Voldemort aufrecht, sichtbar als wirbelnder Bogen goldener Lichtstränge, ausgespannt zwischen ihren Zauberstäben. Harry spürte, wie seine Kraft mit jeder Sekunde wuchs, während sein Feind immer schwächer wurde, als zöge ihm etwas all seine magische Energie ab.
Und plötzlich wurde Harry klar, was geschah: Es lag nicht an den bedrohlichen Geistern, die Voldemort bedrängten, auch die Unterstützung der Phönixkämpfer für Harry schwächte den Schwarzmagier nicht wirklich, es waren die Todesser. Voll ungläubigen Staunens spürte Harry, wie sie ihrem Meister Kraft entzogen, als sie sich innerlich von ihm abwandten. Voldemort hatte sie zu lange mit Furcht und Gewalt unterworfen und ihnen zu wenig dafür gegeben, und so wünschten sie seinen Fall nun fast ebenso sehr herbei wie alle anderen. Die Kraft, mit der sie vorher ihrem Dunklen Lord dienten und von der er gezehrt hatte, floss jetzt Harry zu. Und Voldemort stand plötzlich allein.
"WAS MACHT IHR DA? ICH BEFEHLE EUCH, MICH ZU VERTEIDIGEN!" Seine Stimme war zu einem misstönenden, schrillen Kreischen geworden, in dem unüberhörbare Panik mitschwang.
"IHR GEHÖRT MIR! IHR SEID MIR GEWEIHT!"
Keiner seiner Todesser rührte sich. Statt dessen drangen die silbrig-fließenden Geister seiner Opfer noch heftiger auf ihn ein, durchdrangen ihn mit ihrer Todeskälte, drohten ihm, verspotteten ihn... Angst stand in Voldemorts roten Schlangenaugen, als er vergeblich versuchte, vor ihnen zurückzuweichen.
"Ich habe euch Macht gegeben und Reichtum... Warum verlasst ihr mich?" Seine metallische Stimme war deutlich leiser geworden. "Sie werden euch nach Askaban schicken, sie werden euch foltern, euch töten..." Doch er selbst hatte zuviele seiner Anhänger gefoltert und getötet, als dass sie aus diesem Grund zu seiner Hilfe eilen würden. Er bekam keine Antwort.
Und da sah Harry, wie Voldemort begriff: Er war allein. Niemand würde ihn unterstützen. Jetzt nicht und nie wieder.
"Nein."
Es war kaum mehr als ein Hauch.
Nagini, die schwarze Schlange zu Voldemorts Füßen, wand und krümmte sich unter Qualen, zuckte und lag schließlich still. Ein kleines Rauchwölkchen stieg von ihr auf und verging, als es das goldene Geflecht berührte. Die Geister wichen zurück und Voldemort stand Harry allein gegenüber. Der letzte Horcrux war zerstört. Voldemort hatte nur einen Teil seiner Seele übrig behalten, den verstümmelten und zerstörten siebten Teil, der sich noch in seinem Körper befand. Er war wieder sterblich.
"Nein."
Gebannt starrte Harry seinen Feind an, den mächtigsten Schwarzmagier der Erde, den mitleidlosen Mörder unzähliger Menschen, kalt und machthungrig, gefühllos und grausam. Den Mann, der seine Eltern getötet hatte. Vor seinen Augen schien Voldemort in sich zusammenzusinken, zu schrumpfen. Auch sein Gesicht veränderte sich, seine Hände... Die roten Schlangenaugen verformten und verfärbten sich, wurden grün... Eine menschliche Nase erschien an Stelle der schlangengleichen Schlitze... Die unnatürlich weiße Hautfarbe wandelte sich und aus den langen Spinnenfingern wurden wieder normale Hände. Vor Harry stand Tom Riddle, ein junger Mann, kaum älter als er selbst, und sah ihn voll Panik und Entsetzen an.
Außerhalb der Lichterkuppel schnappten einige Zuschauer hörbar nach Luft oder stießen überraschte Schreie aus, doch Harry nahm sie kaum wahr. Er hatte nur Augen für Riddle. Dessen Verwandlung war noch nicht abgeschlossen: Er schrumpfte weiter, wurde immer jünger, bis zuletzt ein etwa fünfjähriger Tom vor Harry stand, den Zauberstab mit heftig zitternden Händen umklammernd und die Augen voll Angst auf seinen Gegner gerichtet.
Harry starrte ihn ungläubig an. War das die wahre Gestalt Lord Voldemorts, die er all die Jahre unter immer mehr Gewalt und Grausamkeit zu verstecken gesucht hatte? Ein kleiner, verängstigter Junge? Harry schluckte mühsam.
"Tom? Tom Riddle ?", fragte er dann zaghaft und leise.
Der kleine Junge fuhr zusammen und begann nun am ganzen Körper unkontrolliert zu zittern. Als Harry zögernd einen Schritt auf ihn zu machte, schrie Tom auf und brach in die Knie. War das möglich? War das wirklich Voldemort ?
Wachsam hielt Harry den Zauberstab auf den Jungen gerichtet, als er langsam auf ihn zutrat. Tom starrte ihn an, der Zauberstab entglitt den Händen des Jungen und schlug klappernd am Boden auf. Harry starrte zurück. Da kniete Lord Voldemort vor ihm am Boden, und wartete auf den tödlichen Schlag. Und wenn irgend jemand den Tod verdient hatte, dann ganz sicher er. Aber Harry sah ein verängstigtes Kind vor sich knien, konnte er ein Kind töten? Er konnte es nicht. Behutsam beugte er sich zu Tom hinunter, der ihn noch immer voll Todesangst ansah. Harry streckte vorsichtig die Hand aus. Der kleine Junge zuckte zurück.
"Tom", sagte Harry mit belegter Stimme und plötzlich überwältigt von Mitleid, "ich will dir nicht wehtun. Ich will dir helfen."
Die Augen des Jungen wurden groß vor Erstaunen, als Harry ihn behutsam an der Schulter berührte. Und dann, ganz langsam, wie in Zeitlupe, löste sich eine stumme Träne aus Toms Augen und rollte über seine Wangen hinab. Im selben Moment, als sie lautlos den Boden berührte, verschwand Tom Riddle, als ob es ihn nie gegeben hätte.

***


Einige Minuten lang geschah gar nichts. Gleichzeitig mit Voldemort war auch die goldene Kuppel verschwunden und mit ihr die silbrigen Geistergestalten. Der Gesang war verstummt. Todesser wie Phönixkrieger standen eingefroren im Thronsaal und es herrschte vollkommene Stille. Dann ertönte zweimal hintereinander das vertraute Geräusch des Disapparierens. Harry drehte sich um, Snape und Malfoy waren verschwunden. Offenbar waren mit Voldemorts Tod auch die magischen Banne erloschen, die er um sein Schloss gelegt hatte, und der Anti-Apparierschutz war zusammengebrochen. Noch drei andere der schwarzen Gestalten nutzten die Gelegenheit und verschwanden mit einem leisen ‚Plopp!'. Dann erwachten die Phönixkämpfer aus ihrer Erstarrung und richteten die Zauberstäbe auf die verbliebenen Todesser.
Wider Erwarten ließen sich diese völlig ohne Gegenwehr entwaffnen, mit einem Anti-Disapparier-Fluch belegen und magisch fesseln. Und dann sah Harry sich plötzlich von strahlenden Gesichtern umgeben, als sämtliche Mitglieder des Phönixordens auf ihn zustürzten und ihm stürmisch zu seinem Sieg gratulierten. Er grinste und nickte, als alle gleichzeitig auf ihn einzureden begannen, ihm die Hände schüttelten und ihm auf die Schultern klopften.
Doch insgeheim ließ er seine Augen über die gefangenen Todesser schweifen, vierzehn an der Zahl, von denen die meisten seinen Blick hinter ihren Masken ruhig erwiderten. Einige blickten ihn herausfordernd oder spöttisch an, zwei oder drei sahen weg. Ein hochgewachsener schlanker Mann mit braunen Augen, der ihm irgendwie dunkel vertraut vorkam, wagte ein unsicheres Lächeln. Harry wandte sich rasch ab. ‚Ohne sie hättest du Voldemort nicht besiegen können.' Harry schob den Gedanken hastig beiseite. Die gefangenen Todesser gingen ihn nichts an. Es war Sache des Ministeriums, sich um sie zu kümmern.
Etwas anderes beschäftigte ihn: Es war so unglaublich leicht gewesen, Voldemort zu besiegen, dass er es fast nicht glauben konnte. Aber vielleicht schien es auch nur so einfach zu sein? Was wäre passiert, wenn er seinen Zauberstab auf den kleinen Tom Riddle gerichtet und den Avada-Kedavra-Fluch gesprochen hätte? Vielleicht wäre der Fluch auf ihn selbst zurückgeworfen worden. War Voldemort wirklich so schwach und hilflos gewesen, wie es schien? Oder war er allein durch einen Impuls von Mitleid und Vergebung zu besiegen gewesen? Er würde es nie wissen. Das, was zählte, war die Vernichtung Voldemorts. Und diesmal hatte er wirklich eine Menge Hilfe gehabt. ‚Die Phönixkrieger, die Geister, Snape, Lucius Malfoy, die anderen Todesser...' Ärgerlich zwang er sich, seine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren. Bevor er diesen Ort verließ und ihn möglicherweise nie mehr betrat, wollte er sich Voldemorts Hauptquartier ansehen.
Die Phönixkrieger hatten sich mittlerweile wieder von ihm gelöst und waren nun geschäftig dabei, dass Schloss zu durchsuchen, die Gefangenen zu befragen, Botschaften zu versenden... Harry ging hinüber zu Remus Lupin, der gerade in eine Umarmung mit Tonks vertieft war, deren Haare sich vor Freude quietschorange gefärbt hatten.
"Ähm - entschuldigt, ihr zwei, ich will ja nicht stören, aber..."
"Oh, du störst nicht Harry, ganz bestimmt nicht", grinste Tonks ihn selig an.
"Oh, okay. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich mir mal das Schloss ansehen will, bevor wir gehen, ja?"
"Ich weiß nicht, Harry." Lupin blickte ihn stirnrunzelnd an. "Das könnte ziemlich gefährlich sein. Wer weiß, was hier alles an magischen Fallen aufgestellt ist..."
"Ich habe nicht das Gefühl, dass ich hier in Gefahr bin. Mit Voldemorts Tod dürften auch die meisten seiner Zauber erloschen sein, oder?"
"Vielleicht, möglich, aber sicher nicht alle. Hör mal, geh wenigstens nicht alleine. Ich kann hier nicht weg, aber,"
"Aber ich begleitete dich gerne!", beendete Tonks strahlend seinen Satz.
"Oh, na gut, dann komm halt mit", meinte Harry wenig begeistert.
Sollte es in diesem Schloss auch nur eine einzige magische Falle geben, dann würde Tonks mit Sicherheit hineintappen.

***


Severus drückte schwer atmend die Stirn gegen die kühlen Steine. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es war schlimmer gewesen, als er erwartet hatte, viel schlimmer. Fast so schlimm, wie Dumbledore zu töten.
Vor seinen Augen war der Dunkle Lord zu einem kleinen Jungen geschrumpft, der sich durch eine schlichte Berührung Potters in Luft auflösen ließ. Und mit ihm war auch alles zerstoben, an was Severus jemals geglaubt, alles, was ihm einen Halt in dieser gleichgültigen Welt gegeben hatte. Dumbledore und Hogwarts waren etwas anderes gewesen. Er war dem Direktor verpflichtet gewesen, da dieser sein Leben gerettet hatte, als er sich vor dem Zauberergamot für ihn einsetzte, aber Severus hatte sein Lehrerdasein immer gehasst. Sein wahres Leben, das Leben des Todessers Severus, war mit dem Dunklen Lord gestorben, so dachte er zumindest, bis sein Herr vor sechs Jahren plötzlich zurückgekehrt war. Nur ein schwacher Schatten zunächst, angewiesen auf einen fremden Körper, aber ein Hauch von Hoffnung war damals in Severus erwacht. Doch er hatte nicht gewagt, etwas zur Hilfe des Dunklen Lords zu unternehmen, zu streng war er von Dumbledore, seinen ‚Kollegen' und den Auroren überwacht worden. Vor zwei Jahren dann hatte Albus selbst ihm einen Vorschlag gemacht, der seine kühnsten Erwartungen übertroffen hatte: Als der Dunkle Lord in seinen Körper zurückgekehrt war, hatte Severus den Auftrag erhalten, wieder für den Phönixorden gegen ihn zu spionieren. Wieder . Dabei war er niemals ein Spion für die selbst ernannte gute Seite gewesen. Alle Informationen, die er an Dumbledore geliefert hatte, waren im Auftrag des Dunklen Lords ‚verraten' worden - damit Severus nun seinerseits Dumbledore und den Phönixorden ausspionieren konnte.
Severus war auf Albus' Befehl zum Dunklen Lord zurückgekehrt - und, nachdem er sich erklärt hatte, in Gnaden wieder aufgenommen worden. Mehr noch, er war zur Rechten Hand seines Herrn aufgestiegen und hatte zwei Jahre lang Macht, Einfluss und Respekt genossen, wie sie ihm nie zuvor zuteil geworden waren. Er hatte im Auftrag des Dunklen Lords erneut Dumbledore und den Phönixorden ausspioniert. Er hatte gemordet und gefoltert, ja, doch was immer er dem Potter-Jungen erzählt hatte, es war eine Lüge gewesen: Er hatte nicht darunter gelitten, im Gegenteil. Bis vor einigen Tagen zumindest.
Albus' Tod hatte alles verändert. Der Mord war im Auftrag des Dunklen Lords geschehen, auch wenn man ihn ironischerweise als verzweifelten Akt zur Rettung von Severus' Tarnung als Spion der ‚guten' Seite uminterpretieren konnte, wie er selbst es gegenüber Harry getan hatte. Severus hatte Albus respektiert, vielleicht sogar gemocht, er war ein großer Zauberer, ein guter Mentor, sein Beschützer, fast sein Freund gewesen. Severus hatte mit dem Mord ein magisches Band der gegenseitigen Verpflichtung durchtrennt und als Dumbledore stürzte und starb, war auch etwas in ihm selbst zerrissen, ein eisiger Schleier, der ihn bisher vor den meisten Gefühlen gegenüber seinen Opfern abgeschirmt hatte. Als er den Direktor tötete, war sein Herz vollkommen erstarrt, doch in den folgenden Tagen hatte sich ein beunruhigendes Tauwetter in ihm abgespielt. Es war ihm sogar zunehmend schwerer gefallen, Lucius zu foltern, obwohl er ihn jahrzehntelang aus tiefstem Herzen verabscheut hatte.
Mit einem Mal war das eingetreten, was er Dumbledore vor fünfzehn Jahren nur vorgespielt hatte: Er hatte erkannt, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte. Diese Erkenntnis war unglaublich schmerzhaft gewesen, doch er hatte sich entschieden, ihr zu folgen. Severus hatte Hass und Abscheu überwunden und Harry Potter kontaktiert. Gut, er hatte Harry nicht die ganze Wahrheit erzählt, die ging den Jungen nichts an, aber letztlich hatte er einen Pakt zum Sturz des Dunklen Lords mit ihm geschlossen.
Es war Severus gelungen, auch Lucius auf seine Seite zu ziehen. Lucius hatte nichts mehr zu verlieren, er war bereits ganz unten angekommen in der Gunst ihres Herrn. Außerdem hatte er Angst um seinen Sohn gehabt, Angst, dass Draco zu einem eben solchen gefühllosen Monster werden könnte, wie er selbst und Severus es waren.
Lucius hatte sich sehr verändert im Laufe seiner Haft in Askaban, und mehrere Tage Folter durch Severus hatten die Zerstörung der alten Fassade vollendet. Darunter war etwas Neues und Fremdes zum Vorschein gekommen, das Severus enorm irritierte, etwas Sanftes und Verletzliches, das es ihm zunehmend schwerer gemacht hatte, Lucius zu quälen. In beiden waren plötzlich Gefühle aufgebrochen, die sie schon lange für tot gehalten hatten, Schuldgefühle vor allem. Doch ihnen war auch klar, dass es zu spät war. Niemand würde eine Entschuldigung für ihre Taten akzeptieren, und sie hatten auch gar nicht vor, sich zu entschuldigen.
Als Lucius und Severus übereingekommen waren, Potter und den Phönixorden zu unterstützen, war ihnen vollkommen klar gewesen, dass sie damit ihr eigenes Todesurteil besiegelten, auf die eine oder andere Weise. Und nun hatte Potter Lucius auch noch das Leben gerettet und, wahrscheinlich ungewollt, ein neues Band der Verpflichtung geknüpft. Auch Severus selbst fühlte sich dem Jungen verpflichtet. Und er wollte seine Schuld begleichen. Zumindest diese Schuld.

***


Eilig strebte Harry durch die langen, fackelbeschienenen Korridore einem ihm unbekannten Ziel zu.
"Hör mal, Harry", keuchte Tonks neben ihm, "wo willst du eigentlich hin?"
Ja, wo wollte er eigentlich hin? Er wusste es selbst nicht, fühlte aber, wie etwas in diesem Gebäude ihn magnetisch anzog...
"Weiß nicht", murmelte er geistesabwesend.
"Also, hör mal, Harry! Wir sollten hier nicht so planlos rumrennen, Remus hat recht! Hörst du mir überhaupt zu, Harry?!"
Tonks machte einen Satz und verstellte ihm plötzlich den Weg.
"Ich bin, " Ein greller Strahl roten Lichts traf sie in die Seite und sie sank mit verblüfftem Gesichtsausdruck zu Boden.
Harry sprang in einer Nische in Deckung und zog hastig seinen Zauberstab. Warum hatte er nicht auf Lupin gehört...
"Potter, ich bin's", zischte eine vertraut kalte Stimme hinter der nächsten Biegung. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und ein Todesser, maskiert und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, erschien raubtiergleich vor Harry. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück und hob warnend den Zauberstab.
"Lass den Unsinn, Potter, und komm mit!", fauchte Snape zornig, schob die Kapuze zurück und zog sich die Maske vom Gesicht. "Ich muss unbedingt mit dir reden!"
Harry starrte ihn an, sein Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. "Aber..." Er deutete unsicher auf die reglose Tonks.
"Nur ein Schockzauber, nichts weiter. Die Zeit drängt, ich," Snape brach ab, richtete seinen Zauberstab auf Tonks und ließ sie in die Höhe steigen. "Nun komm schon mit."
Snape öffnete eine der schweren Eichentüren, die zu beiden Seiten des Ganges abgingen. Geblendet kniff Harry die Augen zusammen. Er fühlte sich wortlos am Arm gepackt vorwärts gezogen. Snape verschloss die Tür mit einer stattlichen Anzahl von Flüchen, dann erst ließ er Tonks in einer Ecke des Raumes zu Boden sinken.
Das Zimmer war klein, leer und vollkommen aus rohen, grauen Steinquadern errichtet. Der Boden war von einer dicken Staubschicht bedeckt, die in der gleißenden Mittagssonne wie Nebel um ihre Füße wirbelte. Snape trat einige Schritte vor und stellte sich mit dem Rücken zu den beiden hohen und staubblinden Fenstern, so dass Harry sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte: Vor ihm stand eine schwarze Gestalt, die sich im grellen Licht an den Rändern aufzulösen schien, die Beine umhüllt von grauem Nebel.
Als Snape sprach, klang seine Stimme gepresst und seltsam rau. "Du hast mich aus dem Alptraum meines Lebens befreit, Potter, und dafür... dafür möchte ich dir danken. Ich stehe nicht gerne in jemandes Schuld," Harry wollte ihn unterbrechen, doch Snape befahl ihm mit einer knappen Geste, zu schweigen. "Ich stehe nicht gerne in jemandes Schuld, und da ich nicht mehr viel Zeit habe, werde ich meine Schuld noch heute begleichen." Er machte eine kurze Pause und die nächsten Worte schienen ihn sichtlich Überwindung zu kosten.
"Es gibt vielleicht eine Möglichkeit, Sirius Black zurückzuholen."







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