Muggel

 

Zurück

 

Zurück zur
Startseite


 

Kapitel 15

 



Für einen Moment spürte er die grenzenlose Freiheit, die sich an seinen Körper anschmiegte. Noch niemals hatte er das Gefühl genossen, völlig unabhängig von Boden, Wänden oder Gegenständen zu sein, die sein Gleichgewicht hielten. Immer war der Kontakt zu einem Objekt gegeben. Nie wirklich frei. Severus bedauerte es zutiefst diesen letzten Moment, den er in seinem Leben haben würde, Kleidung zu tragen. Er wäre gerne nur noch von Luft umgeben. Es war einfach wundervoll. Die Schmerzen in seinem Inneren verflogen. Seine Scham, seine Angst, sein gebrochener Stolz flogen mit dem Wind davon. Er würde mit einer reinen, zufriedenen Seele sterben. Im Tod ist es unwichtig, ob man sich lächerlich machte, oder wie fettig das Haar aussieht, ob man zaubern konnte, oder einem bösen Schwarzmagier gedient hatte. Er würde alles einfach vergessen. Was kann schöner sein?
Warum war er nicht schon viel früher gesprungen?
Es war so herrlich hinabzufliegen.

Es war...

Ein Schrei durchbohrte den hellen Tag. Eine Stimme, wohlbekannt, doch immer gehasst.
Nein, Nein, das durfte er nicht. Bitte nicht!!! Bitte Sirius!!!!
"Immobilus Corpulus!"
Die Reise endete.
Jedoch nicht auf dem Boden, wie Severus es sich erträumt hatte. Er schwebte in der Luft. Unter ihm noch immer ein gähnender Abgrund. Er konnte das Gras erkennen und die Köpfe einiger Personen, aber sie waren nur kleine Punkte, wie auf der unseligen Karte seiner Schulfeinde.
Das Gefühl der Freiheit erlosch. Er war gefangen, so fest umschlossen vom Zauber des Animagus, dass es ihn beinahe schmerzte.
"Lass mich fallen, Black", bat er leise. Doch Sirius hörte nicht zu, so wie er noch nie zugehört hatte. Er nahm keine Rücksicht. Er nahm niemals Rücksicht und am allerwenigsten auf ihn.
Ganz langsam schwebte sein Körper dem Boden entgegen. So langsam, dass es zu einer Qual wurde. Die Köpfe auf dem Boden wurden größer.
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Sie schauten ihn an. Nein, sie gafften. Die immer größer werdende schwarze Fledermaus, die ganz sachte auf die Ländereien hinunterschwebte. Immer mehr Köpfe kamen aus dem Schloss und Severus schloss zitternd die Augen. Jetzt war er nicht mehr nur ein hilfloser Squib. Er war gerade zum Gespött aller geworden.

Es war wohl das Erniedrigendste, der Spielball von Potter, Black und Anhang gewesen zu sein, doch von Black gerettet in der Luft zu hängen, die Augen sämtlicher Schüler, die sich außerhalb des Schlosses befanden auf ihn gerichtet, war eine nicht zu ertragende Folter. Je näher Severus dem Boden kam, desto schneller wollte er sterben, mehr als je zuvor. Jetzt waren es höchstens noch 10 Meter und er war noch immer der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In einem Anfall von Selbstaufgabe schloss Snape die Augen. Konnte er noch tiefer sinken?
Offensichtlich ja, denn einen Moment später landete er sanft im Gras.
Umringt von Schülern, die ihn entgeistert betrachteten, blieb er einfach auf dem Boden sitzen.
Was sollte er auch tun? Sie anschreien, verscheuchen? Das würde doch nur noch lächerlicher wirken. Als wäre er jetzt noch in der Lage irgendjemanden zu erschrecken. Er war nichts. Er war jämmerlich, genau wie sie ihn immer genannt hatten.
Sein ganzer Körper zitterte. Erst jetzt bemerkte er die Angst, die er hätte haben müssen, als er vom Astronomieturm gesprungen war. Die Angst vor dem Fallen, dem Aufschlagen auf dem Boden. Eine Angst, die im Angesicht des erlösenden Todes zwar zu ertragen war, aber instinktiv den Körper erschaudern ließ und ihn mit Adrenalin voll pumpte.
Severus hatte keine Höhenangst, aber die Höhe, in der ihn Black abgefangen hatte, war groß genug gewesen dem schwarzhaarigen Mann das Zittern in die Beine zu bringen. Vielleicht war es auch der Schmerz und die Verzweiflung über den Verlust seiner Magie, dass er so zittern musste, aber eigentlich war die Ursache unwichtig. Das Resultat war schwer genug zu ertragen. Als Nichts, als Null, saß er auf dem Gras, zitternd wie Espenlaub und nicht in der Lage sich noch einmal zu bewegen. Am liebsten wäre er in Tränen ausgebrochen, aber das wäre der Gipfel der Erniedrigung gewesen. Bestimmt wären auch sämtliche Schüler vor Schreck in Ohnmacht gefallen, wenn sie Snape hätten weinen sehen. Die waren ohnehin alle der Meinung, dass er ein gefühlloses Monster war.
Doch am schlimmsten war wohl, dass der Schrecken nun seinen Verstand erreicht hatte. Genau das, was er hatte vermeiden wollen, war nun geschehen.
Er war gezwungen zu denken.
Seine Gedanken rasten förmlich davon, so dass es ihm selbst schwer fiel ihnen zu folgen. Mit den Gedanken kamen die Erinnerungen und der Schmerz dessen was er verloren hatte. Verzweiflung und Panik wüteten in seinen Gefühlen. Die unbarmherzige Realität hatte Einzug genommen und riss seinen Verstand mit sich an die Grenzen seiner Belastbarkeit.
Und all dies geschah in der Mitte von 50 Schülern, die ihn noch immer erschrocken anstarrten.
Bisher hatte es kein Kind gewagt auf ihn zuzugehen. Sie flüsterten nur waren verwirrt, weshalb ihr Zaubertränkelehrer nun auf dem Boden saß und völlig verstört die Augen geschlossen hatte.

Ginny Weasley war gerade dabei gewesen sich auf ihre nächste Freistunde vorzubereiten. Im Endeffekt wäre das ein Spaziergang mit Dean Thomas um den See geworden, der sich ebenfalls eine Freistunde nahm. Zusammen waren sie nicht, aber seine Gesellschaft gefiel ihr sehr.
Sie hatten gerade bei Hagrid ganz merkwürdige Stinkamphibien durchgenommen und Ginny fühlte sich, als habe sich der widerliche Gestank nach verfaulten Erdbeeren in ihre Kleidung gesetzt. Als der Tumult begonnen hatte, wusste sie erst gar nicht, wohin sie schauen sollte. Dennis Creevey zeigte nach oben und dann hatte auch sie den schwebenden Zaubertränkemeister entdeckt. Ein wenig perplex starrte sie ihn an, wie er da hing, bewegungslos mit seinen langen Gewändern. Sie kniff die Augen zusammen, da sie erkennen wollte, wer Snape da langsam herunter ließ. Es musste eine Person auf dem Astronomieturm sein, aber mehr als einen Fleck war von dieser Entfernung einfach nicht zu erkennen und Ginny hatte sehr gute Augen.
Dean hatte ein kleines Minifernglas in seiner Federmappe, dass er aus der Muggelwelt mitgebracht hatte. Er holte es sofort heraus, da auch er neugierig war, wer den Tränkemeister herumschweben ließ.
"Ich kann es nicht genau erkennen, aber das ist ein Mann mit schwarzen langen Haaren", sagte er leise. Ginny glaubte nicht, dass ihn noch jemand außer sie gehört hatte.
"Zeig mal."
Am Geländer auf dem Turm stand Sirius Black, der seinen Zauberstab gezückt hatte und direkt damit auf Snape zeigte.
"Die werden sich doch nicht wieder gestritten haben?" murmelte sie leise. "Männer werden nie erwachsen, am allerwenigsten die beiden!"
"Kennst du den?" fragte Dean und Ginny riss einen Moment die Augen auf. Sie wusste nicht genau, wie viel Dean mittlerweile von Harrys Pate erfahren hatte, also schüttelte sie ein wenig zu schnell den Kopf.
"Keine Ahnung. Nie gesehen!"
"Aber..."
Sie hörte Dean nicht weiter zu, da Snape auf dem Boden aufgesetzt wurde.
Sie hielt sich ein wenig im Hintergrund. Auf keinen Fall wollte sie das erste Opfer sein, das der Tränkemeister in die Finger bekam, denn dieser war bestimmt fuchsteufelswild.
Diese Gedanken schienen auch andere zu haben, denn sie starrten Snape nur aus einem Sicherheitsabstand von drei-vier Metern an.
Doch anstatt dass der leicht reizbare Mann aufsprang und 200 Punkte willkürlich abzog, blieb er regungslos sitzen und hatte die Augen geschlossen. Ginny glaubte sogar zu erkennen, dass er zitterte.
"Mann, ich wäre gestorben, wenn ich aus so einer Höhe fallen würde", flüsterten einige Schüler neben ihr.
"Ob er verletzt ist?"
"Er ist doch nur ganz leicht aufgesetzt."
"Kommt ihm bloß nicht zu nah, er bringt euch um, wenn ihr ihm jetzt in die Quere kommt."
"Was hat er eigentlich da oben gemacht?"
"Vielleicht ist er wirklich heruntergefallen."
"Er sollte einfach in seinem Kerker bleiben, da kann er nicht fallen."
"Oder gesprungen, weil er eingesehen hat, dass er uns nicht länger terrorisieren kann."
Ginny schnaubte entgeistert. Den Satz hätte gerade Ron sagen können. Er war mindestens genauso unsensibel wie rothaarig, doch es war einer der Gryffindor aus dem vierten Jahrgang.
Sie selbst war schon seit einiger Zeit sehr beeindruckt, was Snape für sie alle riskierte. Allerdings wer sollte den anderen Kindern verübeln, dass sie Snape hassten. Er war ja auch ein furchtbarer Mensch. Wer nicht wusste, was der Professor wirklich für sie tat, hatte keine andere Wahl als ihn zu hassen.
Doch zum Fürchten sah der Professor gerade nicht aus. Ginny war irritiert. Hätte er nicht schon längst herumbrüllen sollen? Was war wirklich dort oben mit Sirius Black geschehen?
Sie machte gerade einen Schritt auf Snape zu, als sich Remus Lupin und Minerva McGonagall einen Weg durch die Reihen der Kinder bahnten.
McGonagall schickte eine Gruppe von kleinen Ravenclaws in ihre Klasse und danach folgten auch andere der Erst- und Zweitklässler.
Ginny beobachtete wie Lupin sich neben Snape setzte und auf ihn einredete. Der Mann reagierte nicht.
"Kinder, geht in euren Unterricht", bat die stellvertretene Direktorin nun auch die älteren Jahrgänge, die stehen geblieben waren und nun die ersten Fragen an Snape richteten.
"Professor, was ist passiert?"
"Geht es Ihnen gut, Professor?"
Das fiel ihnen ja reichlich spät ein, murrte sie innerlich, schalt sich aber sogleich selbst, da sie ja auch nichts getan hatte und sie auch noch der einzige anwesende Schüler war, der mehr über den Mann wusste.
"Es ist niemandem etwas passiert. Ich habe gesagt, ihr sollt ins Schloss gehen!"
"Aber wer hat ihn denn runtergelassen?"
"Dumbledore!" erklärte Ginny schnell, während Dean ihr einen verdutzten Blick zuwarf.
"Ich hab es durch Deans Fernglas gesehen."
Einige Schüler nickten, als wären sie ebenso der Meinung nur Dumbledore hätte den Mann retten können, der wohl aus großer Entfernung nach unten gefallen war.
"Aber das stimmt doch gar nicht", flüsterte Dean irritiert.
"Ach nein? Ich weiß nicht was du gesehen hast, aber ich sah Professor Dumbledore!" Ihre Stimme klang ein wenig zu hart und er zuckte mit den Augenbrauen, als würde es ihm nicht passen hier zu lügen.
"Äh... ja, könnte Dumbledore gewesen sein", murmelte er etwas leiser und McGonagall nickte ihnen beiden zu.
Indes bemerkte sie, wie Lupin den immer noch bewegungslosen Snape nach oben zog und ihn zum Eingang des Schlosses brachte. Bevor sie ihnen jedoch folgen konnten, scheuchte McGonagall sie in ihren nächsten Unterricht. Nun war es doch nichts mit einer Freistunde, seufzte sie innerlich.
Dean lief misstrauisch neben ihr her. "Warum hast du gelogen? Du kennst den Mann auf dem Turm!"
"Ja, ich kenne ihn. Ich darf es dir nicht sagen. Es ist ein Versprechen."
"Es ist Harrys Pate, nicht wahr?"
Erschrocken blickte Ginny ihren neuen ‚Pausen'-Freund an und bestätigte damit seinen Verdacht.
"Das darfst du niemandem verraten, hörst du!!! Absolut niemandem. Nicht Seamus, Lavender, Parvati, oder sonst wem!!!" fuhr sie ihn an.
Dean nickte ernst, dann lächelte er.
"Harry sagt immer, dass er unschuldig ist. Nun, du scheinst das auch zu glauben. Dann kann er gar nicht so schlimm sein, wie sie im Tagespropheten schreiben. Ich schweige und habe nichts gesehen."
"Damit rettest du einem Mann das Leben, danke sehr!" Ginny gab Dean einen leichten Kuss.
Dean verdrehte die Augen und grinste. "Ich glaube, dafür werde ich sogar taub und blind."
Sie lachten gemeinsam und gingen zum Unterricht getrennte Wege. Der Gedanke was mit Snape passiert war, beschäftigte Ginny aber noch den ganzen Tag.


 Kapitel 14

 Kapitel 16

 

Zurück