Ich glaube nicht an Zauberei

 

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Kapitel 3:
Der merkwürdige Stab





Ich wurde den Gedanken nicht los, dass der Mann in irgendeiner Weise mit dieser "Panne" zu tun hatte, obwohl er letztendlich ziemlich passiv wirkte. Jedoch eine unheimliche Aura schien von ihm auszugehen. Zumindest war ich überzeugt, solch einem Menschen noch nie begegnet zu sein, und mit ihm in diese verrückte Situation zu kommen, das passte irgendwie.
Während ich nervös in dem Wagen auf- und abschritt und zwischendurch immer wieder mal schrie ("Hört mich denn hier keiner?"), sprach der Mann nichts. Doch selbst er schien beunruhigt, auch wenn er mir immer noch sehr distanziert und arrogant vorkam. Er schien ein Geheimnis mit sich herumzutragen, das er mir nicht so recht mitteilen mochte. Seine schwarzen Augen tasteten unablässig das Umfeld ab. Mit seinen langen bleichen Fingern packte er immer wieder in seine Jackentasche und schien wohl zu überlegen, etwas herauszuholen, besann sich jedoch wieder und beschränkte seine Aktivitäten auf rastloses Umherschauen. Als er merkte, dass ich mich wieder hingesetzt hatte und anfing, ihn zu beobachten, versuchte er gelassener auszuschauen. Doch ich spürte, dass er innerlich angespannt war und intensiv nachdachte.
Schließlich schien er eine Entscheidung getroffen zu haben und überlegte wohl, was er mir davon mitteilen sollte. Er blickte mit entschlossenem Gesichtsausdruck auf, öffnete seinen Mund, zögerte, und schloss ihn wieder. Dann stand er ruckartig auf und zog einen dunklen Stock aus seiner Jackentasche.
‚Den scheint er schon die ganze Zeit vor mir versteckt zu haben', dachte ich mir und wurde neugierig. Was hatte er nun vor?
Blitzschnell zeigte er mit dem Stock auf eine Fensterscheibe und murmelte etwas Unverständliches. Auf einmal schoss ein Lichtstrahl aus dem Stock und zielte auf die Scheibe. Wie von einem Stromschlag schien sich für kurze Zeit die Luft zu elektrisieren. Doch es war schnell vorbei. Und die Wirkung blieb aus. Das Fenster blieb unverändert.
Erschrocken zuckte ich zusammen und starrte auf diesen Stock. Er kam mir wie eine Art Elektroschocker vor, so ein Tierschinderstab, den man von Filmen über ekelerregende Schlachthofszenen kennt.
Ich begann, mich vor diesem Menschen ernsthaft zu fürchten. Was trug er noch so mit sich rum? Wozu war er fähig? Mit einem dumpfen Gefühl im Bauch beobachtete ich ihn, in meinem Sitz zusammengekauert.

Er schritt nun auf eine Tür zu und hielt wieder seinen Stab darauf: Nochmals zischten Funken daraus hervor. Doch ohne Ergebnis. Jetzt versuchte er es an allen möglichen Stellen im Waggon: Die Funken wurden immer größer, ja sie entwickelten sich zu richtigen Flammen. Es dröhnte und summte in der Luft. Ich fühlte mich schon ganz merkwürdig, so viel Kraft schien aus diesem Stab zu kommen. Doch abermals ohne Ergebnis.
Ich wagte mich kaum zu rühren, so geschockt war ich noch von dieser explosionsartigen Vorführung, selbst wenn sie nicht gefruchtet hatte. War dieser Mann in der Lage, auch mir gegenüber Gewalt anzuwenden? Ich verfolgte aufmerksam seine Bewegungen: Doch er setzte sich ganz bescheiden auf seinen Platz zurück, ganz ruhig mit einer Mimik, als ob nur ein Kartenspielertrick missglückt wäre.
Das beruhigte mich etwas, und mich beschlich gleichzeitig das Gefühl, dass selbst er, der sich bisher für so cool gehalten hatte, anfing, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Ich starrte ihn an, und nachdem ich diese Funkenschocker-Erlebnisse ein wenig verdaut hatte, traute ich mich zu fragen: "Sagen Sie, was ist das?" Und zeigte mit leicht zitternden Händen auf das Instrument, das er immer noch in seinen Händen hielt.
Er sah mich länger schweigend an, zögerte und sagte schließlich langsam: "Es sollte uns helfen, hier rauszukommen. Doch es funktioniert nicht. Es kann eigentlich nicht sein, dass es nicht funktioniert."
"Ha, genau wie mein Handy", sprudelte es aus mir heraus, "da s hatte ich auch noch heute früh aufgeladen. Wissen Sie was, hier spukt es."

Und da waren die Worte draußen. An Spuk glaubte ich nun wirklich nicht. Aber ich fand einfach keine Erklärung mehr und hoffte nun auf eine logische, umfassende Antwort meines Gegenübers. Dieses schien mich jedoch nur mit seinen Blicken durchbohren zu können. Allmählich hatte ich mich daran gewöhnt und ließ nicht ab, ihn ebenfalls anzustarren.
"Wir müssen jetzt aber was unternehmen", sagte ich schließlich. "Wir müssen doch schon Stunden hier drin sitzen, meinen Sie nicht?" Ich warf dabei einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass sie gerade mal halb Zwei anzeigte - war erst so wenig Zeit vergangen? Nein, der Sekundenzeiger rührte sich nicht. Die Uhr war also stehengeblieben. Noch ein Gerät, das seinen Geist aufgegeben hatte.
"Alle elektronischen Geräte scheinen nicht zu funktionieren", stellte ich laut fest. "Vielleicht haben sich hier solche elektromagnetischen Spannungen aufgebaut, dass tatsächlich nichts mehr funktionieren kann?"
In meinem Kopf wurden rege Fantasien geweckt: Sie reichten von totalem Stromausfall in ganz London, über Explosionen, bis hin zu Nuklearkatastrophen. Doch so recht konnte ich nicht an einen Supergau glauben. Eigentlich konnte ich mir gar nichts so richtig vorstellen, weil solche Technikgeschichten mich nie so wirklich interessierten, aber vielleicht konnte dieser Mensch mir mal endlich eine plausible Erklärung abgeben.
"Und dieser Stab - was ist das nun für ein Ding? Meinen Sie, sein Akku ist auch alle?" fragte ich nochmals und zeigte auf seinen Stock, den er immer noch in der Hand hielt. Der Typ merkte, dass er wohl etwas dazu sagen musste. Aber er überging meine Frage und sagte nur: "Ich bin mir inzwischen sicher, dass hier bald jemand auftauchen wird, der etwas von uns will. Wir können wohl nichts anderes machen als zu warten."
"Wieso so detektivisch?", reagierte ich patzig, "Sagen Sie mir eins: Kennen Sie jemanden, der es auf Sie oder mich abgesehen hat und in der Lage ist, die U-Bahn nebst allen möglichen Kommunikationsmitteln und Geräten, welchen auch immer (mein Blick blieb auf dem Stab haften), lahmzulegen?"
Der Mann starrte mich erst schweigend an, schließlich nickte er langsam den Kopf und sagte in seiner sanften Stimme: "Ja, solche Leute kenne ich."
Seine Augen funkelten dabei. Er schien wirklich seine Überlegenheit an Wissen und meine zunehmend nicht mehr zu verbergende Angst zu genießen
Allmählich wurde mir wirklich schlecht vor Unbehagen. Ich besitze zwar die Gabe, in ernsten Situationen einen klaren Kopf zu behalten und erst mal nicht durchzudrehen, aber ich spürte am Herzschlag, dass meine vorgetäuschte Gefasstheit bald vorüber war. Dieser Mensch hatte Feinde. Und zwar ganz brutale. Und ich konnte mir das alles hier überhaupt nicht erklären.

Das mit diesem Holzstab war einfach unglaublich. Er sah recht harmlos aus. Wie kann ein Holzstab Flammen entfachen? Oder bestand er in Wahrheit aus einem anderen Material? Es musste wohl etwas anderes sein.
Ich wurde immer unruhiger. "Worauf warten wir eigentlich", fragte ich schließlich. "Auf ein Monster, das uns niederstreckt? Oder meinen Sie, dass vielleicht ein Wunder geschieht und die U-Bahnsicherheitsleute uns finden. Es kann doch nicht sein, dass ein ganzer Wagen unentdeckt friedlich im Schacht vor sich hinschlummert."
Je mehr ich darüber nachdachte, umso unheimlicher kam mir die Situation vor. Es müsste doch wirklich bald jemand etwas merken. Schließlich blockierten wir eine U-Bahnstrecke, die von anderen Wagen befahren werden musste, stellte ich mir vor.
Der Mann sagte nichts.
Um mich abzulenken, redete ich einfach weiter: "Sagen Sie, wohin wollten Sie eigentlich fahren? Ich selbst kenne diese Strecke gar nicht, war Zufall, dass ich hier eingestiegen bin. Und Sie?"
Der Mann wandte sich mit direktem Blick zu mir und schwieg weiterhin. ‚Wieso kann der nicht einfach mal normal antworten', dachte ich mir innerlich wütend.
"Haben Sie ein Handy?" fiel mir ein. Ein Hoffnungsschimmer. Der Mann sah irritiert auf und schaute mich fragend an. War er vielleicht etwas taub? "Ein HANDY?" wiederholte ich mit lauter Stimme.
Ich kramte nochmals meins hervor und drückte an den Tasten herum, entnahm die Batterie, steckte sie wieder rein, aber alles half nichts. Interessiert beobachtete mich der Mann dabei und fragte mich schließlich: "Was ist das eigentlich?"
Vor Schreck ließ ich das Ding fast fallen: "Was das ist? Sie scherzen wohl. Haben Sie noch nie ein Handy gesehen?"
Ich reichte es ihm: "Zugegeben, ein älteres Modell ohne UMTS-Funktion, aber zum Telefonieren schon ok. Normalerweise zumindest."
Der Mann schien nichts zu verstehen. Er hielt das Teil vorsichtig zwischen seinen dünnen Fingern. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er tatsächlich noch nie ein Handy in den Händen gehalten hatte.
"Sagen Sie, woher kommen Sie? Wohl nicht aus England? Aber Sie haben doch keinen Akzent, und selbst in den Commonwealth-Ländern sind Handies üblich."

"Doch, ich bin Engländer. Aber so etwas wie das Ding hier habe ich noch nie gebraucht." Er reichte es mir wieder zurück.
"Darf ich denn mal Ihren Stock ansehen?" fragte ich schließlich mutig. Er schüttelte sofort den Kopf.
"Was soll denn das jetzt? Wissen Sie was: Jetzt legen Sie mal Ihre arrogante Distanz mir gegenüber ab. Wir schwimmen hier beide im selben Boot. Und müssen jetzt gemeinsam versuchen, hier herauszukommen. Und da sparen Sie sich bitte mal Ihre Überheblichkeit, ja? Sie durften sich mein Handy anschauen. Und jetzt darf ich auch Ihren Stab anschauen!" schoss aus mir mit immer lauter werdenden Stimme heraus, und ich grabschte einfach nach dem Stock, den er immer noch in der Hand hielt. Ich konnte ihn dem Mann entreißen, da er wohl nicht mit meiner Spontaneität gerechnet hatte. Sofort wollte er ihn mir wieder wegnehmen, doch dann ließ er ab und beobachtete nur äußerst misstrauisch, wie ich sein Teil vorsichtig befingerte.
Es sah wie ein normaler Stab aus, war tatsächlich aus einem holzähnlichen Naturprodukt gefertigt und schien gute Handwerksarbeit zu sein. Die glatte Oberfläche fühlte sich angenehm kühl und geschmeidig an. Aber ich konnte keine Knöpfe finden oder gar Öffnungen für Akkus, Steckplätze oder dergleichen. Sehr seltsam.
"Ich verstehe das nicht. Wie kann man damit Funken machen?" Und ich reichte den Stab wieder dem Besitzer zurück. Er sagte wieder erst mal nichts.
Ich war so neugierig, aber irgendwie wollte ich ihn nicht noch mal anfahren, sondern höflich bleiben: "Sagen Sie, wie funktioniert das? Sie haben doch vorhin eine Art Spruch gesagt, bevor es loszischte. Aber selbst ein Mikrofon finde ich nicht."

In seinem Gesicht machte sich ein Anflug von Lächeln breit, das mir wieder recht überheblich vorkam, doch er antwortete immerhin: "Nicht jeder kann diesen Stab bedienen. Aber bestimmte Menschen können mit solchen Stäben eine Menge anrichten."
Das war eine Information. Doch so ein Schlangenbeschwörer? Irgendwie kam er mir zwar merkwürdig, aber nicht so mystisch abgedreht vor.
"Sie meinen, etwas Magisches steckt in diesem Stab?" fragte ich zögernd und fand schon meine eigene Frage recht albern.
Er sah mich kurz an und nickte schließlich. Irgendwie fühlte er sich bei diesem Thema wohl auch unbehaglich. Ich hatte so das Gefühl, dass er mir dazu lieber gar nichts erzählen wollte. Eigentlich war ich mir auch nicht sicher, ob er mir überhaupt zu was auch immer etwas sagen wollte. Aber "magische Themen" lagen mir auch nicht.

Dennoch ich riskierte eine weitere Frage: "Machen Sie so etwas beruflich? Ich meine, sind Sie auf Stromerzeugung mittels solcher Stäbe irgendwie spezialisiert?"
Komische Frage. Aber irgendwie wollte ich bei dem Thema bleiben. Und im Geiste schwirrten mir neue Zeitungsstories durch den Kopf ("Sensationelle Stäbe mit heilender Wirkung") und dachte dabei ein wenig lächelnd an die Bananenschalen von heute früh.
Er zögerte wieder, um sich schließlich auf die bewährte Taktik zu einigen, die Frage wohl überhört zu haben. Wieder keine Antwort.
Der Mensch machte mich wahnsinnig. Konnte der mal ganz vernünftige Antworten geben? Ich hatte bisher doch nichts Unverschämtes gefragt.

"Also", fragte ich nochmals mit fester Stimme und fühlte mich wie ein Kommissar: "Was für einen Beruf haben Sie?"
Tatsächlich antwortete er nach kurzer Bedenkzeit: "Ich bin Lehrer auf einem Internat."
Hm, ich setzte mich etwas beruhigter zurück. Das hörte sich ja noch ganz normal an. Obwohl, der und Lehrer? Dieser arrogante Kerl soll Kinder unterrichten? Ich stellte mir gerade vor, wie Nico in seiner Klasse hockte und wortkarge Anweisungen und überhebliche Bemerkungen über sich ergehen lassen musste. Oje, dachte ich mir, die armen Kinder.
"Und welches Fach unterrichten Sie?" fuhr ich neugierig fort.
Er schien wohl wieder zu überlegen, wie er seine Antwort formulieren sollte, und antwortete schließlich: "Ich lehre die Zubereitung von unterschiedlichen Tränken."
"Tränken? Getränken? Solche Fächer gibt es in einer Schule? Sagen Sie, ist das ein ganz gewöhnliches Internat?"
‚Was ist das für eine Schule, wo die Kinder keine Cola trinken, sondern ihre Getränke selbst zubereiten? Und wo es keine Handys gibt. Ist das wirklich eine Schule in Großbritannien?', fragte ich mich innerlich, aber gab nur erstaunt von mir: "Von solchen Schulen habe ich noch nie gehört."
‚Vielleicht unterrichtet er doch in solchen Spezialeinrichtungen, die Kinder aus Sektenfamilien besuchen', dachte ich in mich hinein, ‚aber so ohne Handy, merkwürdig, müsste also eine abgelegene Sekte sein, von der ich bestimmt noch nie gehört hatte.'

Er sah sich um, als ob er sich vergewissern wollte, dass auch niemand zuhörte, und antwortete schließlich: "Nun, es geht hier nicht um normale Getränke, sondern um Tränke mit bestimmten Wirkungen, zum Teil heilende Wirkungen, stärkende, schwächende, Tod bringende (seine Augen funkelten bedrohlich). Es ist schon eine vertiefte Wissenschaft. Aber Leute wie Sie erfahren davon normalerweise auch nie von unseren Einrichtungen und Lehrfächern. Ich bin mir auch sicher, dass ich Ihnen davon gar nicht erzählen darf. Darum fragen Sie nicht weiter." schloss er und schaute etwas grimmig umher. Er schien sich wohl zu ärgern, dass er mir diese Infos überhaupt gegeben hatte.

Das war für seine Verhältnisse auch eine wirklich lange und informative Rede. Vermutlich waren seine Getränkezubereitungen ein Thema, über das er eher bereit war, etwas zu erzählen, bestimmt seine Leidenschaft. Vielleicht doch ein Wissenschaftler, der sich in Zurückgezogenheit am liebsten etwas "zusammenbraute"?
Ich musste zugeben, ich wurde umso neugieriger. Heute schien auch alles aus den Fugen zu geraten. Ich hatte nun schon so manche Merkwürdigkeit in Erfahrung bringen können, aber noch nie von so außergewöhnlichen Schulen je gehört. Dabei arbeitete ich in der Lokalredaktion und hielt immer Ausschau nach neuen Stories aus dem Alltag.
‚Was sind das für Menschen, die hier unter uns leben und so merkwürdige Dinge lehren, wie Heil- und Todestränke zubereiten?'
Für einen Augenblick überlegte ich, ob mir der Typ nicht doch lauter Blödsinn erzählte. Aber in meinem Innern war ich überzeugt, dass er die Wahrheit sagte. Oder ich war schon in solch einer angespannten Stimmung in diesem blöden Waggon, so dass ich inzwischen bereit war, an alles zu glauben. Wahrscheinlich wäre ich inzwischen sogar bereit, meinen Kollegen die Geschichte mit dem Eiterpickel zum Verschwinden bringenden Bananenschalenduft abzunehmen, dachte ich mir, innerlich erschrocken über meinen Sinneswandel.
Ich verstand es selber nicht. Dieser Mann wirkte auf mich aber so nüchtern und klar dabei. Und er schien wohl nicht gerade scharf darauf zu sein, mir von seiner merkwürdigen Welt zu erzählen.
Ich hielt mich zurück und fragte erst mal nichts, obwohl ich tatsächlich gierig auf neue Stories lauerte. Aber es war ihm sichtlich unbehaglich, und umgekehrt schien er fast nichts von mir wissen zu wollen. Und ich dachte mir, es sei wohl besser, ihn nicht wirklich zu verärgern. Wer wusste schon, was noch auf uns zukam. Und sich den einzigen Menschen zum Feind zu machen, der mir beistehen könnte, wäre ziemlich dämlich.

Zudem musste ich zugeben, dass der Mann mir immer interessanter vorkam, und - na ja, sympathisch nicht gerade, aber irgendwie anziehend. Das scharfkantige Gesicht mit den strähnigen Haaren erschien mir zwar nicht schön, aber es hatte mit seinen tiefschwarzen Augen etwas Geheimnisvolles an sich. Ja, was Mystisches, gestand ich mir ein: ‚Dieser Mensch scheint tatsächlich von einer anderen Welt zu kommen. Von einer anderen Welt? Gibt es eine andere Welt? Diese Gedanken könnten mich zur Verzweiflung bringen. Ich glaube nicht an Außerirdische oder Zauberwesen', versuchte ich innerlich abzuschließen. Und doch hatte dieser Mensch etwas an sich...
Seine unruhigen Augen tasteten ständig das Umfeld ab. Den Stab hielt er immer noch aufrecht in seiner Hand. Manchmal zuckte er zusammen. Er schien wohl auf Geräusche zu lauern. Dass er nichts unternehmen konnte, machte ihn von Minute zu Minute nervöser.
Ich spürte, dass mein Kreislauf allmählich absackte. Ich hatte zwar merkwürdigerweise keinen Hunger, aber eine trockene Kehle. Ja, und eine Toilette wäre nicht schlecht. Aber erstaunlich, so dringend schien ich sie doch nicht zu brauchen, obwohl schon bestimmt mehrere Stunden verstrichen waren.
Vielleicht lag es an der angespannten Situation oder der zunehmenden Neugier, noch mehr von diesem Menschen zu erfahren, die die persönlichen Sorgen und Entbehrungen in den Hintergrund drängen ließen. Ich konnte von dem Typen einfach nicht ablassen und überlegte eine Taktik, ihn noch mehr aus seinen Reserven zu locken.

"Entschuldigen Sie, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe", fiel mir auf einmal ein: "Ich heiße Lily Donald." Und reichte ihm die Hand.
Er zögerte und schüttelte sie schließlich mit der knappen Bemerkung: "Severus Snape."
Snape. Das war ein Name...
"Angenehm. Severus... den Namen habe ich noch nie gehört. Kommt er in Ihrer Welt öfter vor?" wagte ich schließlich zu fragen.
Severus Snape schüttelte zögernd den Kopf: "Nun, eigentlich nicht."
"Hm, klingt ungewöhnlich. Besser als mein Allerweltsname Lily, finden Sie nicht?"
Er blickte kurz auf, überlegte, und entschloss sich, dazu nichts zu erwidern.
"Oder gibt es in Ihrer Welt keine Lilys?" schob ich neugierig nach.
Er sah kurz auf und sah mich an. Ich erwartete keine Antwort. Aber da sagte er langsam: "Doch."
"Ach ja? Eine Lily, die auch solche Stäbe wie Sie benutzen kann?"
Ich verstand gar nicht, warum ich so etwas überhaupt fragte, wohl nur, um irgendwie diese Totenstille zu übertünchen.
Er nickte nur.
"Hm, Ihre Freundin? Oder Exfreundin?" ergänzte ich frech. Ließ sich dieser Mensch mal provozieren?
Er sah mich an und sagte dann nach längerer Pause: "Sie lebt nicht mehr."

Ich erschrak ein wenig. An seinem Gesicht erkannte ich, dass dies wohl das letzte Thema war, das er mit mir besprechen wollte.
"Das tut mir leid", murmelte ich. Ich musste schnell das Thema wechseln.
"Sagen Sie, Mr. Snape, dieses Internat, wo liegt das eigentlich? Und welche Fächer lehrt man dort noch so außer Ihr Tränkefach?"
Er schwieg erst wieder und sagte dann langsam: "Die Schule liegt im Norden. Und es gibt natürlich noch viele andere Unterrichtsfächer. Aber wie gesagt, ich darf Ihnen nichts darüber erzählen. Bringen Sie mich nicht in Bedrängnis", schloss er.
Es war offensichtlich, dass er sich eigentlich überhaupt nicht mit mir unterhalten wollte. Mit Sicherheit hatte ich ihm schon mehr Informationen herausgepresst als ihm lieb war. Aber es drehte sich alles in meinem Kopf. Das waren Neuigkeiten, die sich bei mir nicht in schlüssige Zusammenhänge fügen ließen. Die ganze Atmosphäre machte mich richtig kribbelig:

"Nun gut. Aber ich verstehe das alles nicht", sprudelte es aus mir heraus, "da hängen wir in solch einer bekloppten Situation fest, von der ich noch nicht mal in den verrücktesten Romanen gelesen habe, und auf einmal zücken Sie Stäbe mit elektrisierenden Kräften, sprechen von einer geheimnisvollen Welt, die mir bisher vorenthalten wurde, erzählen von einer toten Freundin und machen sogar ein paar Andeutungen von Leuten, die hinter Ihnen her sind, von denen wir womöglich gefangen gehalten werden, und da darf ich noch nicht mal mehr erfahren? Wie soll ich das verstehen, wenn Sie nur mysteriöse Fragmente von sich geben? Wie sollen wir hier rauskommen, wenn Sie mich nicht teilhaben lassen an all Ihren Überlegungen? Wahrscheinlich haben Sie schon Vermutungen, wer dahinter steckt. Nur ich werde nicht eingeweiht, und darf hier wie blöd sitzen und beobachten, wie Sie mit Ihrem Stab Funken versprühen!"
Und ich merkte, dass meine Stimme schon merkwürdig wurde, ja fast weinerlich, je mehr ich sagte. Die Anspannung war einfach nicht mehr auszuhalten. Nun saßen wir schon Stunden fest und wussten fast nichts voneinander.
Severus Snape fuhr zusammen, während ich meinen Redeschwall auf ihn niederprasseln ließ. Er ließ mich ausreden, inklusive aller Beschimpfungen, die ich dranhängte, dass er rücksichtslos sei und sich nur wichtig machte und arrogant und so unnahbar, und dass ich mir überhaupt nicht vorstellen könnte, wie er in der Lage sei, mit dieser überheblichen Einstellung eine Klasse von Kindern zu unterrichten, ja wahrscheinlich sei er völlig unbeliebt in der Schule, ohne Freunde, und hätte sich jetzt zur Abwechslung mal mich als Opfer ausgesucht, um mich ein bisschen zum Schwitzen zu bringen aus purer Langeweile...
"...doch das können Sie vergessen", schloss ich, "ich komme hier nicht ins Schwitzen, nur weil Sie mir ein paar unglaubwürdige Geschichten auftischen, vor denen ich Angst haben soll." Und ich wusste, dass ich ein wenig frech und widersprüchlich agiert und gar etwas gelogen hatte, denn Angst steckte sehr wohl in meinen Knochen.
Jetzt hatte ich ihn bestimmt beleidigt. Seine Gesichtszüge verrieten jedoch keine Wut. Er wollte wohl gerade zu einer genervten Antwort ausholen, doch da geschah es:
Plötzlich hörten wir erstmals ein Geräusch von außen: ein knarrendes Geräusch, das sich langsam auf uns zu bewegte...



Kapitel 2

Kapitel 4


 

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