Sein und Schein

 

Zurück

 

Zurück zur
Startseite


 

Kapitel 10: Der Sturm

 



Teil 1

Seit Tagen begab sich Bill Weasley regelmäßig in jeder freien Minute in das gut abgesicherte Zimmer im 5. Stock, in das Dumbledore das Bild von Lockhart hatte bringen lassen. Und seit Tagen versuchte der älteste der Weasley-Brüder herauszubekommen, auf welche Art dieses verdammte Bild verflucht wurde.
Die Abbildung von Gilderoy Lockhart in dem Gemälde war in dieser Hinsicht kein Gewinn. Entweder war Lockhart gerade nicht da oder hatte geschlafen oder war anderweitig beschäftig gewesen. In dieser Hinsicht hatte Professor Snape recht. Dieser Kerl war absolut keine Hilfe und ging Bill mit seinem Geplapper einfach nur auf die Nerven. Heute war es besonders schlimm gewesen und Bill hatte ihn wütend angeschnauzt, sich seine Beine gefälligst in anderen Gemälden der Schule zu vertreten. Lockharts Abbild war daraufhin beleidigt abgezogen.

Nachdenklich spielte Bill mit seinem Ohrring. In Ägypten hatte er schon von Berufswegen mit Flüchen zu tun, aber das hier war irgendwie anders. Die Ägypter verwendeten zwar starke Zauber, aber nur selten Schwarze Magie.
Langsam zog Bill Weasley seinen Zauberstab und belegte sich selbst mit einem Schutzzauber, der verhindern sollte, dass er sich aus irgendeinem Grund dematerialisierte. Danach trat er näher an das Gemälde heran und betrachtete die Leinwand genauer. Er legte wieder den Zauberstab quer zum Bild und strich dicht darüber hinweg. Der Teil, über den er kam, vergrößerte sich für einen Moment auf mehr als das vierfache und zeigte Details, die sonst verborgen geblieben wären. Alles schien ganz normal zu sein, bis er den Rand des Schlosses streifte.
"Interessant!" murmelte Bill und beugte sich näher über die vergrößerte Stelle. "Das also ist der Fluch." Ganz deutlich zeichneten sich über dem Schloss kleine Schriftzeichen ab, Symbole und fremd anmutende Zeichen. Sie waren so winzig und raffiniert gearbeitet, dass sie bei normaler Betrachtung die Illusion erzeugten, man sähe nur die Strukturen von Mauerwerk und Dachziegeln. Das ganze gemalte Schloss war ein einziger Bannspruch, aus den verschiedensten Flüchen zusammengesetzt. Diese zu entziffern würde ewig dauern. Wahrscheinlich sogar Jahre, die er natürlich nicht hatte. Und Snape schon gar nicht.
Für einen Moment richtete sich der junge Mann auf und begann erneut an seinem Ohrring zu zupfen. Seine Mutter hasste das Schmuckstück und diskutierte immer wieder mit ihm darüber, aber Bill nahm das mit inzwischen stoischer Ruhe hin. Beim ewigen zweiten Streitpunkt ging es um die Länge seiner Haare. Aber die gefielen ihm so wie sie waren und damit hatte es sich. Ende der Diskussion - zumindest in seinen Augen.
Erneut streifte Bill mit dem Zauberstab über das Schloss. Diesmal vergrößerte der Stab den Ausschnitt um das zehnfache. Er näherte sich damit den Fenstern der Großen Halle und glaubte, dort eine Bewegung ausgemacht zu haben. In seiner Tätigkeit als Fluchbrecher war er an Überraschungen gewöhnt, diese hier war ihm mehr als willkommen. In der Großen Halle des Bildes entdeckte er durch die Fenster eine Gruppe Menschen, die ihm zuwinkte. Er konnte sie nicht genau erkennen, aber die Person mit den roten Haaren war mit Sicherheit ein Weasley.
"Bei Merlin, es scheint ihnen gut zu gehen!" rief er erleichtert aus und winkte zurück.

"Professor? Professor!" Bill war so erfreut über seine Entdeckung, dass er sämtliche Anstandsregeln beiseite schob und wie ein Wirbelwind durch die Flure fegte, die Treppen hinunter, immer zwei-drei Stufen auf einmal nehmend, bis er in den Kerkern angekommen war. Dort riss er die Tür zum Klassenzimmer auf und ignorierte die darin sitzenden erstaunt dreinblickenden Schüler. "Professor, ich habe es rausbekommen. Ich brauche jetzt Ihre Hilfe."
Bevor Severus Snape seinen wütenden Kommentar abgeben konnte, hatte ihn Bill Weasley bereits am Arm gepackt und zum Vorbereitungsraum gezerrt.
Eigentlich war er außer Atem, aber das war egal. Immer zwischen zwei hektischen Atemzügen versuchte er dem Zaubertrankmeister zu erklären, was er von ihm wollte. Snape stand mit zornigem Gesicht und verschränkten Armen vor dem derzeitigen Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste. "Ich verstehe kein Wort!" zischte er schließlich, wich aber etwas zurück, als Bill erneut versuchte die Situation zu klären und hektisch mit seinem Zauberstab herumfuchtelte.
Endlich hatte Snape genug davon. Er riss dem jungen Mann den Zauberstab aus der Hand und knallte ihn laut hörbar auf den Tisch. "Wenn Sie wieder in zusammenhängenden Sätzen sprechen können, Mister Weasley", er betonte Bills Familienname mit einer gewissen Abwertung, "dann sagen Sie mir Bescheid. Besser noch, Sie warten, bis ich meinen Unterricht beendet habe. Die 7. bereitet sich auf ihre UTZ in Zaubertränke vor und ich schätze es nicht, wenn man mich während einer Unterrichtsstunde stört."
"Aber ich brauche Ihre Hilfe, Professor!"
"Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich helfe, wenn ich kann, aber erst nach dieser Schulstunde." Snape war schon fast draußen.
"Ist ja schon gut, sparen Sie sich den Punktabzug für Gryffindor. Haben Sie Elfenstaub und Mondperlen vorrätig?"
"Was wollen Sie damit?" Der Zaubertrankmeister trat wieder in den Vorbereitungsraum zurück. "Wofür soll das sein?"
Jetzt lächelte Bill charmant. An Snapes Tonfall konnte er erkennen, dass der Zaubertranklehrer neugierig geworden war. "Nach Ihrem Unterricht, Professor", grinste er.
Snape stutzte einen Moment und knurrte schließlich: "Übertreiben Sie es nicht, Weasley! - Wegen der Mondperlen müssen Sie sich an Professor Sprout wenden, wenn sie frisch sein sollen." Mit wehender Robe verließ er den Vorbereitungsraum. Hinter der laut ins Schloss knallenden Tür konnte Bill den Professor die Schülern anschnauzen hören. Schon hagelte es Punktabzüge.

***



Im Labor braute Professor Snape das von Bill Weasley geforderte Elixier. Die Flüssigkeit wirkte zäh und rötlich. Bill wagte einen Blick in den Kessel und runzelte die Stirn. "Professor, ich will mich ja nicht in ihre Arbeit einmischen ..."
"Dann lassen Sie es auch gefälligst", brummte Snape.
"... aber der Trank muß durchsichtig sein - glasklar wie Wasser."
"Das weiß ich, Mister Weasley."
"Aber das da ist eine trübe rötliche Brühe" ließ sich Bill nicht beirren.
Diesmal sah Snape von seinem Kessel auf und bedachte ihn mit einem Mischen-Sie-sich-nicht-ein-Gesichtsausdruck.
"Ich meine, vielleicht sollten Sie..."
"Mister Weasley", knurrte der Meister der Zaubertränke, "wollen Sie meinen Job übernehmen? Dann hätten Sie mich nicht erst fragen brauchen."
Bill hob beschwichtigend die Hände. "Schon gut, Professor, schon gut. Ich setze mich hier auf den Hocker und werde nicht mehr stören."
"Besten Dank für diese Rücksichtnahme."
Für eine ganze Weile sah Bill zu wie Snape weitere Zutaten vorbereitete, die silbrig schimmernden Mondperlen mit einem Mörser zerkleinerte und das Pulver mit einer Feinwaage genau abmaß.
Dabei ließ er den Kessel nicht aus den Augen, rührte ab und an den Trank um und schien Weasley ganz vergessen zu haben. Irgendwann löschte er das Feuer unter dem Kessel. Für Bill war es das Signal, sofort zum Tisch zu eilen. Er schaute hoffnungsvoll in den Kessel. "Das ist ja immer noch rot!" protestierte er.
Snape grinste siegessicher. "Was haben Sie an Rot auszusetzen. Ist doch eine Gryffindor-Farbe, oder?
"Im Grunde nichts, außer das ich für meinen Zweck keine rote Flüssigkeit brauche."
"Na gut", meinte Snape leichthin, "dann mache ich die Flüssigkeit klar." Er griff nach dem Schälchen mit den zerstoßenen Mondperlen und begann das helle Pulver langsam in den Kessel zu rühren.
Bill verdrehte verärgert die Augen. Snape schien sich hervorragend auf seine Kosten zu amüsieren. Und er Idiot fiel auch noch auf seine Späße herein. Hatte er wirklich geglaubt, Snape wusste nicht, was er tat? Wieder schaute er in den Kessel, doch nach der letzten Zutat blieb die Flüssigkeit rot. Trotz besserer Einsicht konnte sich Bill den Hinweis nicht verkneifen.
"Es ist immer noch rot!"
Aber Snape schien nicht mehr an Späßen interessiert zu sein.
"Natürlich!" zischte er. "Muss der Trank auch. Erst wenn er abkühlt, werden Sie die Veränderung sehen. Halten Sie mich nicht für einen Stümper, Weasley!"
"Können wir das nicht mit einem Kühlzauber machen?"
"Nein, das muß auf natürlichem Wege geschehen. Sehen Sie, die Verwandlung des Tranks beginnt bereits."
Und wirklich, wie der Professor vorhergesagt hatte, begann die rote Farbe zu verblassen und der gesamte Gebräu wurde zunehmend flüssiger.

Die beiden Männer standen vor dem Porträt von Lockhart.
"Und wie geht es jetzt weiter, Weasley?" fragte Snape. Er hatte sich die Details des Schlosses mit einem Vergrößerungszauber angeschaut und nun auch die zahllosen Flüche entdeckt.
"Wir bestreichen das Gemälde mit der Flüssigkeit, die Sie mir gebraut haben. Das fixiert das Bild. Keine Bewegungen mehr, kein Gequatsche von diesem Lockhart und auch keine Gefahr, einen verborgenen Fluch auszulösen, der uns womöglich in das Bild ziehen kann."
"Und dann?"
Bill seufzte. Er hatte die Arme verschränkt und betrachtete das Gemälde. Mit den Fingern spielte er an seinem Ohrring. "Und dann beginne ich, einen Fluch nach dem anderen zu neutralisieren. Ich habe herausgefunden, dass die Fenster die Schwachpunkte sind. Hier setze ich an. Wenn es uns gelingt, nur eines der großen Fenster freizubekommen, dann müsste der Zauber sich von selbst umkehren."
Der Professor stand hinter ihm an die Wand gelehnt. Graues Tageslicht schien durch das Fenster des kleinen Raumes, der ansonsten in Halbschatten getaucht war. "Was glauben Sie, wie lange das dauern wird?" wollte er von dem ältesten der Weasley-Brüder wissen.
"Schwer zu sagen. Vielleicht eine Woche?" Bill sah über die Schulter hinweg zu Snape. Dessen Gesicht blieb ausdruckslos. "Ich weiß es einfach nicht, Professor, aber ich arbeite so schnell ich kann. Schwarze Magie lässt sich nicht einschätzen. Es kann nur einen Tag oder auch noch einen Monat dauern."
So lange, überlegte Snape enttäuscht. Er sah zum Fenster hinaus. Etwas schien sich in seinem Magen zu verkrampfen. Voldemort wird ihn mit Sicherheit früher zu sich beordern und das Bild verlangen. Er konnte doch unmöglich die Kinder darin lassen. Lockhart ja, das wäre kein Verlust für die Zaubererwelt, aber die Kinder?
"Mir läuft die Zeit davon!"
"Ich weiß."
Sein Blick wanderte zurück zu Bill und dem Gemälde. Wie auch immer, er musste sich auf die kommenden Ereignisse vorbereiten. Doch wie nur? Hagrid konnte erst Ende der Woche die Lieferung in der Nokturngasse abholen. Dann blieben ihm nur noch zehn Tage bis Neumond. Es war fraglich, ob er bis dahin den neuen Heiltrank fertigbekommen konnte.
Doch so, wie die Dinge lagen, würde er ihn wohl nicht mehr nötig haben.
Snape löste sich von der Wand. "Ich überlasse Sie jetzt Ihrer Arbeit. Wenn Sie noch was brauchen sollten, Weasley, lassen Sie es mich wissen."

***



In dem gemütlichen Haus des Wildhüters stand Hagrid über eine hölzerne Kiste gebeugt. Mit einem Teepott in der Hand, schaute der Halbriese ganz verzückt hinein. Er war schon seit Stunden von seinem Ausflug nach London zurück und konnte sich noch immer nicht von dem Anblick lösen.
Sie war wunderschön und fast ausgewachsen, ein wirklich süßes Ding.
Ihre orangen Schuppen mit den schwarzen Streifen leuchteten in dem dämmrigen Schatten der Kiste.
Seufzend setzte Hagrid seinen Teepott ab und starrte verträumt auf die dreiköpfige Schlange.
Vielleicht durfte er sie behalten, denn immerhin war er schließlich Lehrer für Pflege magischer Geschöpfe. Vorsichtig strich er über die gerippte Haut der Schlange, die sich träge eingerollt hatte. Nur ab und zu blinzelte ihr rechter Kopf ihn an und zischelte leise, während die anderen beiden von dem Fremden keine Notiz nahmen. "Ich sollte dich Aurora nennen, wie die Morgenröte", gluckste Hagrid.
"Auf gar keinen Fall!"
Augenblicklich zuckte der Halbriese zurück und riss die Hand aus der Kiste. Während er noch zu seinem Besucher herumwirbelte, knallte er den Deckel des Verschlages mit der anderen Hand zu.
Aus der Kiste erklang ein gereiztes Zischen aus gleich drei Schlangenköpfen.
Professor Snape war, wie üblich, lautlos herangekommen und stand nun neben dem Wildhüter. Wie er das gemacht hatte blieb Hagrid ein Rätsel, denn normalerweise knarrte die schwere Eingangstür bei jeder Bewegung.
"Professor!" Vergeblich versuchte Hagrid die Fassung zu wahren. "Ich, ähm, habe Sie gar nicht kommen hören."
"War nicht zu übersehen."
Der Zaubertrankmeister schob den hiesigen Hausherren beiseite. "Haben Sie nicht mehr alle Kessel im Regal? Ich habe doch gesagt, Sie sollen die Kiste nicht öffnen. Das ist zu gefährlich."
"Ja, aber Aurora braucht doch etwas Luft."
"Das", betonte Snape nachdrücklich, "ist eine Runespoor und sie ist ein sehr wertvolles, aber auch sehr launisches Ding. Der rechte Kopf ist mit Giftzähnen ausgestattet. Hatten Sie vor, sich umzubringen, weil Sie ohne Drachenhauthandschuhe die Schlange tätscheln mussten? Oder wollten Sie damit warten, bis ich dabei sein konnte?"
"Ach Professor, seien Sie das nicht so streng", druckste Hagrid herum. "Schauen Sie nur, wie friedvoll sie ist. Und so schön!" Damit hob er erneut den Deckel der Kiste hoch und zum ersten Mal konnte sich auch Severus Snape an dem Anblick der Schlange erfreuen.
"Bei Merlin, sie ist wirklich sehr schön. Wie lang ist sie? Zwei Meter?"
"Fast zweieinhalb!"
"Und während des Transports gab es keine Zwischenfälle?"
"Keine! Nachdem ich ihr einige Tropfen Ihres Trankes gegeben habe, hat sie sich zusammengerollt und friedlich geschlafen."
Obwohl Snape dem Wildhüter gerade erst noch einen Vortrag über die Gefährlichkeit der Runespoor gehalten hatte, konnte er nicht widerstehen, nun selbst in die Kiste zu greifen, um die Schlange zu berühren. Ihre Schuppen fühlten sich weich und seidig an. Der Körper war warm vom Hitzezauber der die Transportkiste umgab und strahlte diese Wärme angenehm ab. Für einen Moment huschte ein Lächeln über das sonst so strenge Gesicht der Zaubertrankmeisters.
"Das Beruhigungsmittel scheint nachzulassen", bemerkte er und zog sicherheitshalber die Hand wieder heraus. Die Schlange entringelte sich geschmeidig und hob nacheinander ihre Köpfe.
"Professor?"
"Hm?" murmelte Snape gedankenverloren.
"Darf ich sie behalten?"
"Was behalten?"
"Na die kleine Aurora hier!"
Endlich konnte sich der Zaubertrankmeister von dem Geschöpf losreißen. "Nein, natürlich nicht. Das Halten einer Runespoor unterliegt strengster Auflagen und ist nur entsprechend ausgebildeten Zauberern gestattet."
"Ich weiß, Klassifizierung 4 des Zaubereiministeriums. Aber sie ist doch ganz harmlos", versuchte es Hagrid noch einmal.
"Sie kommt, wie besprochen, ins magische Labor im Kerker."
"Das ist nicht gut, Professor. Dort hat sie keine Sonne und hört nur das Wasser von den Wänden tropfen. Sie wird ganz einsam sein und zu kalt ist es für Aurora auch. Ich habe mich da belesen", trumpfte der Halbriese auf. "Die Runespoor kommt ursprünglich aus einem afrikanischen Land und jeder weiß, wie heiß es dort ist. Die feucht-kalten Kerkerräume werden sie krank machen."
Sich zur Ruhe mahnend holte Snape tief Luft. Es hatte keinen Zweck, Hagrid anzubrüllen oder zu drohen, wenn dieser sein vermeintliches Spielzeug wieder herausrücken musste.
"Hagrid, Sie kennen das magische Labor genauso gut wie ich. Dort hat es die Schlange warm und trocken und Licht gibt es in ihrem Terrarium auch. Außerdem ist sie dort sicherer aufgehoben als in dieser Hütte."
Seine Stimme wurde zunehmend lauter.
"Aber sie ist dort ganz allein" maulte der Wildhüter.
"Dann gehen Sie sie meinetwegen besuchen, aber hier bleibt die Schlange nicht und Schluss!"
Er bekam eine undeutlich geknurrte Antwort zu hören. Das war doch lächerlich, dass er sich mit einem Halbriesen um eine Schlange streiten musste.
"Heute Abend, wenn die Schüler beim Essen sind, bringen Sie die Kiste zu mir ins Labor. - Wo sind die dazugehörigen Papiere?"
Der Professor nahm den versiegelten Umschlag entgegen und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. "Und keinen Namen für die Schlange."
Etwas verstimmt strich sich der Wildhüter seinen Bart. "Ja, Professor!"
"Und noch was." Snape hatte die Tür schon fast hinter sich geschlossen, als er sie noch einmal öffnete. "Das wir eine Runespoor in der Schule haben geht niemanden etwas an, nur den Schuldirektor, Sie und mich. Haben wir uns verstanden?"
"Ja, Professor, natürlich."
"Das gilt besonders auch für ihre Gryffindor-Freunde."
"Ja, Professor!"
Als Snape endlich durch den hohen Schnee zurück ins Schloss stapfte, war er sich bewusst, dass sein sogenannter Kollege wohl gerade dabei war, wenigstens eine der Anweisungen zu ignorieren.
In der geräumigen Waldhütte klappte Hagrid derweil den Deckel der Kiste wieder auf und schaute mit strahlendem Gesicht hinein. "Hallo Aurora, da bin ich wieder!"

***



An diesem Nachmittag hatte Severus Snape keinen Unterricht und auch keinen seiner Schüler zu einer Strafarbeit bestellt. Es war Zeit - höchste Zeit - sich mit der Schlange zu beschäftigen, die Hagrid noch immer hartnäckig Aurora nannte und täglich besuchen kam.
Einmal erwischte Snape ihn dabei, wie er das Tier aus ihrem Terrarium genommen und liebevoll auf seinen Schoß gesetzt hatte. Der Zaubertrankmeister glaubte, jeden Moment einen Schlaganfall zu bekommen. Heute allerdings brauchte er dessen Hilfe.
In seinem Büro wartete der Wildhüter von Hogwarts und zankte sich mit dem Raben herum. Ka musste jedoch den Disput verloren haben, denn er saß nun mit dem Rücken zu Hagrid und schaute anklagend über die Schulter zu Severus hinüber, als er endlich kam. Der jedoch hob nur gleichgültig die Augenbrauen und winkte dem Halbriesen, ihm zum Labor zu folgen. Der Rabe breitete seine Schwingen aus und wollte mit.
"Du bleibst schön hier, Ka!" fauchte Snape und hob warnend den Zeigefinger. "Oder willst du wirklich auf der Speisekarte der Schlange landen?"
Ka wetzte wütend seinen Schnabel über der Sitzstange und klappte beleidigt die Flügel wieder ein. "Will auch Spaß!" krächzte er.
"Du kriegst bald genug Spaß!" brummte Snape. Mit dem Zauberstab löste er den Tarnzauber von der kleinen Tür neben einem Regal. Sie führte zu einer Wendeltreppe, die viel zu eng für Hagrid war. Während Snape nach einer magischen Laterne griff und die Stufen hinunterstieg, folgte Hagrid nur langsam. Immer wieder schleiften seine Arme, wenn er nicht aufpasste, an den Wänden entlang oder er stieß sich fluchend den Kopf an der Decke. "Professor, können wir beim nächsten Mal - autsch! - nicht den üblichen Weg nehmen?" fragte er. Er rieb sich die getroffene Stelle und behielt sicherheitshalber eine Hand auf dem Kopf, um weitere härtere Zusammenstöße zu vermeiden
"Warum sollte ich durch den halben Kerker laufen, wenn dieser Weg der kürzere ist?" kam eine genervte Stimme von weiter unten. "Nun kommen Sie schon!"
Im Labor herrschte eine angenehme Temperatur. Die Luft war trocken und im Terrarium saß die Runesspoor. Sie schaute träge und satt zu den beiden Gestalten, die näher kamen. Im hellen Licht ihres Terrariums blinzelte der dritte Kopf mit den Augen.
"Hagrid, wenn ich den Schließzauber aufhebe, lasse ich die Schlange erstarren. Sie nehmen den dritten Kopf und halten ihn fest. Ich werde ihr das Gift abnehmen."
"Sie tun ihr aber nicht weh!"
"Hagrid!"
"Schon gut, schon gut. Ich halte Auroras Köpfchen schon fest. Was wollen Sie mit dem Gift? Brauen Sie wieder Zaubertränke?"
Snape deutete dem Wildhüter an, seine Handschuhe aus Drachenhaut überzustreifen. Er selber zog den Zauberstab. "Was soll die Frage? Ich bin Zaubertrankbrauer, wozu sollte ich sonst das Gift benötigen?" Es war zum Verzweifeln mit diesem Riesen. Vielleicht hätte er sich allein um Aurora kümmern sollen? Für einen Moment stutzte Snape. Verdammt, jetzt hatte er diese Schlange wirklich beim Namen genannt. So weit war es mit ihm schon gekommen!
Grimmig knurrte Snape seine Anweisungen, während Hagrid weiterhin unbekümmert mit der erstarrten Aurora plauderte.
Am Ende sammelte Snape noch die vergrabenen Eier der Schlange ein. Danach ließ Hagrid das große schwere Tier wieder in ihr Terrarium gleiten. Der Zaubertrankmeister hob den Lähmzauber auf. Sofort zischelte Aurora gleich mit drei Zungen. Merklich genervt kroch sie in eine Ecke. Ihre sechs Augen taxierten die beiden Männer böse.
"Ich würde gerne wissen, was sie jetzt sagt", bemerkte Hagrid. Er zog die Handschuhe aus und tippte vergnügt gegen das Glas. "Harry könnte es uns verraten. Er spricht Parsel", plauderte der Halbriese weiter.
"Unterstehen Sie sich auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, Potter in mein Labor zu schleppen." Snape stand hinter dem Wildhüter. Seine Augen blitzten gefährlich. "Es reicht, wenn Sie hier rumtrampeln."
Hagrid senkte den Kopf und nuschelte irgendetwas in den Bart. Endlich hob er den Blick und sah direkt in Snapes dunkle Augen. Sofort fühlte er sich schuldig. "Schon gut Professor, ich habe den Kindern nichts verraten."
"Gehen wir!" Snape nahm den Becher mit dem gewonnenen Gift und die Schale mit den Runespooreiern. Er wollte noch heute mit dem neuen Zaubertrank beginnen. Es würde eine Weile dauern, bis die Zutaten darin soweit ausbalanciert und das Gift darin so neutralisiert war, dass es trotzdem seine Wirkung beibehielt.
Während Hagrid den bequemeren Weg durch die Kerker nahm, stieg Snape die Stufen zu seinem Büro hinauf. In Gedanken ging er noch einmal die Zutaten für den Heiltrank durch. Wenn Apollonius Recht behielt, wäre das eine völlig neue Medizin, die er gegen die Auswirkungen von verbotenen Flüchen nutzen konnte. Vor allem gegen die Nachwirkungen des Cruciatus-Fluches. So ein Heiltrank würde ihm wahrscheinlich das Leben retten. Der Zaubertrankmeister grinste verstohlen. Dieses Treffen auf der Wartburg war doch nicht ganz umsonst gewesen.

***



Eine Woche vor Valentinstag, die älteren Schüler waren vor geflüsterten Heimlichkeiten und albernem Gekicher kaum noch zu ertragen, sah Severus Snape sich gezwungen, seine Arbeit an den Prüfungsvorbereitungen abzubrechen. Voldemort befahl ihn zu sich. Der Ruf kam nicht unerwartet, obwohl nicht Neumond war. Die Uhr zeigte bereits nach Mitternacht. Der Zaubertrankmeister stand auf. Ka, der bis jetzt geschlafen hatte, zog blinzelnd den Schnabel unter dem Flügel hervor. Der Rabe streckte sich und spreizte die Federn. Aufmerksam beobachtete der Vogel den Professor. "Schlafen!" gnatterte er.
"Nein, nicht schlafen", gab Severus zurück. "Wir gehen aus."
Er wusste, was der Dunkle Lord von ihm wollte. Und weil er es ihm nicht beschaffen konnte, musste Severus sich auf eine ungemütliche Begegnung gefasst machen. Für einen Moment erinnerte er sich an Trelawney und ihre lächerliche Prophezeiung. Noch vor dem zweiten Vollmond!
"Verdammt! - Tobby!" rief der Zaubertrankmeister nach seinem Hauselfen. Der kleine Wicht erschien fast sofort und sah mit seinen großen Augen erwartungsvoll den Professor an. "Sie haben gerufen? Was kann Tobby für den Professor tun?"
"Du wartest auf meine Rückkehr. Wenn ich bis fünf Uhr nicht wieder zurück bin, gehst du zum Direktor und berichtest, wohin ich gegangen bin." Snape barg den Umhang der Todesser unter seiner Robe und steckte die Maske in die Tasche.
Der kleine Hauselfe erschrak. "Oh nein, Professor, es ist nicht Neumond."
"Diskutier nicht mit mir!" Snape stand bereits an der Tür. Der Rabe hatte sich auf seiner Schulter niedergelassen und bedachte den Hauselfen von oben herab. "Plappermaul!" kommentierte er in wichtigem Tonfall, wobei er sein Gefieder aufplusterte und eine seiner Schwingen entfaltete.
Tobby steckte dem Raben heimlich die Zunge raus.
Snape eilte lautlos über die Flure des Schlosses. Ka saß auf seinem rechten Arm, weil der linke noch immer schmerzte. Kurz bevor sie das Tor erreichten, zupfte der Rabe ihn an den Haaren. "Medizin?" krächzte der Vogel.
"Tja, leider nicht fertig geworden. Es muß ohne gehen, Ka!"
"Schlimm!"
"Ich weiß!"

Es war seit Voldemorts Aufforderung etwa eine halbe Stunde vergangen. Severus apparierte vor einer alten Ruine, die sich offensichtlich auf einer Klippe befand. Er konnte das Meer hören und es roch nach Salz und Tang. Die Gegend war ihm völlig unbekannt. Ka würde ihn hier nicht finden. Er sah sich noch einmal um. Nein, Ka würde vergeblich suchen. Das war nicht gerade vorteilhaft für ihn.
Viel Zeit zum Nachdenken blieb dem Zaubertrankmeister aber nicht, denn aus dem Schatten neben einer alten verfallenen Mauer lösten sich zwei Gestalten. Sie wiesen ihn an, ihnen zu folgen.
Nach und nach stiegen die drei Todesser Stufe um Stufe hinunter bis zu einem Gewölbe, das sich zu einer großen unterirdischen Halle erweiterte. An den Wänden brannten Fackeln und warfen unruhige Schatten in den Raum. Es war kalt und feucht, so kalt, dass Severus bei jedem Ausatmen kleine weiße Wolken ausstieß.
Die beiden Wachen brachten ihn zu einer verschlossenen Tür und blieben davor stehen. Mit einer stummen Kopfbewegung deuteten sie ihm an einzutreten, während sie selber zurückblieben.
Die Szenerie war bedrückend, aber Severus kämpfte die aufkeimende Angst nieder. Langsam bekam er die Kontrolle über seine Hand zurück. Sicher und mit scheinbarer Gelassenheit griff er nach der Klinke und drückte sie herunter.

Der zweite Raum war viel kleiner und auch wesentlich wärmer als die Halle. An einem reich gedeckten Tisch saßen mehrere Männer und Frauen in den Roben der Todesser, ausgewählte Gäste. Sie trugen keine Masken und so konnte Snape ihre Gesichter sehen. Einige von ihnen schienen dem Inneren Kreis anzugehören. Der Zaubertrankmeister streifte sie mit einem kurzen Blick. Er war erstaunt, dass Lucius nicht dabei war, hatte jedoch Gwenda sofort entdeckt. Sie saß am oberen Teil der Tafel, an dessen Spitze wahrscheinlich der Dunkle Lord gesessen haben mochte.
Neben dem Kamin gewahrte Severus die bedrohliche Gestalt seines Herren. Er schloss leise die Tür, trat einige Schritte auf Voldemort zu und beugte vor ihm das Knie.
"Ihr habt mich gerufen, Meister." Ergeben neigte er das Haupt und senkte den Blick. Die dunklen Haare fielen nach vorn, als er den Saum von Voldemorts Mantel in die Hand nahm und mit den Lippen berührte.
Voldemort drehte sich zu seinem Anhänger um und musterte ihn. "Ich sehe es dir nach, wenn du nicht sofort auf meinen Ruf reagierst. Die Umstände sind nicht günstig für dich", sprach er freundlich. "Vom Schloss bis zum Verbotenen Wald braucht es seine Zeit."
Snape verharrte in seiner unterwürfigen Pose und versuchte, seine nichtssagende Maske aufrecht zu erhalten. Die Freundlichkeit, mit der Voldemort ihn geradezu überschüttete, war beunruhigend.
"Ich danke Euch, mein Lord, für diese Gunst."
"Gewiss, das solltest du. Aber ich habe den Eindruck, dass du dieses Privileg ein wenig zu sehr ausnutzt. Du folgst meinen Rufen immer später."
Jetzt trat Voldemort nahe an seinen Gefolgsmann heran und betrachtete den gebeugten Nacken. "Ich meine, wie sieht das aus, wenn ausgerechnet du immer Letzter bist? Meine anderen Getreuen könnten den Eindruck bekommen, dass ich dich irgendwie bevorzuge - und du gehörst nicht einmal meinem Inneren Kreis an. Wie stehe ich da?"
Severus wusste darauf nichts zu sagen und Voldemort erwartete auch keine Antwort.
"Vielleicht", hörte er jetzt die noch immer täuschend freundliche Stimme seines Meisters, "sollte ich dich ein wenig motivieren? Was meinst du? Etwas, was dich veranlasst, der Stimme deines Herren schneller zu folgen?"
Eine krallenartige Hand griff in seine dunklen Haare und zog Severus den Kopf nach hinten. Dicht vor seinem Gesicht gewahrte er die roten Augen Voldemorts, der ihn mit seiner Fratze fast berührte. Die Kreatur hatte sich zu ihm gebeugt und strich mit der Spitze seines Zauberstabes langsam über Severus Hals. Etwas kaltes, festes legte sich darum, erhöhte unmerklich den Druck auf die Luftröhre und erschwerte ihm das Atmen.
Severus versuchte, sich dem hypnotischen Blick der rot glühenden Augen zu entziehen und sich auf das Atmen zu konzentrieren. Beides misslang.
Während seine Lungen sich aufblähten und mit immer stärkerer Kraft versuchten, die nötige Luft einzuatmen, verengte sich der Würgegriff um seinen Hals.
Sein Atem wurde hektischer und flacher. Der Mangel an Luft verursachte allmählich Schwindelgefühle und eine aufkommende Panik, die er nur schwer niederkämpfen konnte. Instinktiv griff der Zaubertrankmeister mit den Händen zum Hals. Vergeblich, sie konnten dort nichts ausrichten.
Die roten Augen rückten immer näher und nahmen bereits sein ganzes Gesichtsfeld ein, reduzierten die Welt um ihn herum allein auf diesen einen Anblick. Es war eine Halluzination, wusste Severus, der Mangel an Sauerstoff ließ alles unwirklich erscheinen. Der Schmerz in seinen Lungen jedoch war mehr als real.
Allmählich trübte sich Severus Blick. Selbst die Augen seines Meisters schienen zu verschwimmen.

Voldemort beobachtete den Todesser vor sich, der wie ein Fisch nach Luft schnappte, sein erstickendes Röcheln, seine fahrigen Bewegungen, dem krampfhaften Auf und Ab seiner Brust. Er ließ die dunklen Haare los und nahm den Fluch zurück. Sofort sank Severus zu Boden. Mit den Händen fing er den Sturz ab. Würgend und hustend rang er nach Atem, während seine Lungen mit stechenden Schmerzen hastig frische Luft ein- und auspumpten. Das Rauschen in den Ohren versickerte allmählich, und Severus begann wieder in geordneten Bahnen zu denken. Er rappelte sich auf, noch immer schwer atmend, und nahm erneut eine Demutshaltung vor seinem Herrn ein. Sein Blick schärfte sich.
"Ich danke Euch, Meister, für diese Lektion." War dieses krächzende Etwas seine Stimme gewesen? Vorsichtig versuchte Severus sich zu räuspern, aber sein Mund blieb trocken und die Kehle gereizt.
Voldemort beachtete die kniende Gestalt nicht weiter. Er stand mit dem Rücken zu Severus und betrachtete das Feuer im Kamin.
"Sei nie wieder mehr der Letzte bei einem Treffen und wage es nicht, meine Geduld noch einmal zu strapazieren."
"Es soll nicht wieder vorkommen, Meister!"
"Gut! - Und nun gib mir das Bild." Der Dunkle Lord drehte sich um. Er hielt dem Zaubertrankmeister die Hand fordernd entgegen.
Eine Pause entstand. Für einen Moment wagte Severus seinen Meister anzuschauen, dann schlug er die Augen nieder. Er hörte, wie es hinter ihm am Tisch unruhig wurde. Die Mitglieder des Inneren Kreises flüsterten einander etwas zu. Stoff raschelte. All das nahm er in den wenigen Atemzügen wahr, in denen er nach einem Ausweg aus seiner Lage suchte.
"Ich habe es nicht, mein Lord", gestand er schließlich.
Jetzt erstarb jegliches Geräusch im Raum. Kein Flüstern, kein Rascheln, selbst das Feuer im Kamin schien nur noch lautlos zu flackern.
Tja, das war's dann wohl, überlegte der Meister der Zaubertränke. Mit geschlossenen Augen versuchte er sich gegen den Fluch zu wappnen, der unausweichlich kommen würde. Bei Merlin, lass es schnell gehen.
Der Schatten des Dunklen Lords fiel auf ihn. "Du hast es nicht? Wo ist das Problem? Beherrschst du nicht einmal einen einfachen Schrumpfzauber?" donnerte Voldemorts Stimme durch den Raum. Snape konnte dessen inquisitorischen Blick auf sich spüren.
"Crucio!"
Der Schmerz bohrte sich durch die Haut. Er fraß sich immer weiter in seinen Leib vor und begann sich darin auszubreiten. Kriechend wie ein mächtiges Tier wälzte er sich von Knochen zu Knochen und drohte, sie im Feuer zu zermalmen. Der Fluch zerrte an den Muskeln, zerriss Nervenbahnen und schwang sich zum Beherrscher seines Körpers auf.
Severus ganzes Denken und Sein war nur auf diese fürchterliche Macht gerichtet, und unter maßlosen Schmerzen unterwarf er sich deren Stärke und Gewalt.
Als der Dunkle Lord den Fluch beendete, fand sich der Zaubertrankmeister im Staub liegend wieder. Sein Körper zitterte und jede Bewegung verursachte neue Pein. Mit verkrampften Fingern versuchte er sich aufzurichten, wenigstens zu knien. Das Luftholen fiel Severus noch immer schwer. Atme, ermahnte er sich, atme! Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich mit dem Handrücken über das feuchte Gesicht. Der Mund fühlte sich trocken an und der Hals kratzte entsetzlich. Die Luft schien noch immer von seinen Schreien erfüllt zu sein.
Endlich kniete Severus wieder. Sofort war Voldemort neben ihm, packte ihn an den Haaren und zerrten seinen Kopf nach hinten. "Sag mir, Giftmischer, warum du meine Befehle missachtest!"
Severus öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Er setzte erneut an, räusperte sich, bevor er heiser die ersten Worte hervorwürgen konnte. "Es liegt mir fern, Euren Befehlen nicht zu gehorchen, mein Lord. Dumbledore hat das Bild in seinem Büro verwahrt. Es gelang ihm, sein Geheimnis zu entdecken."
Ein Hustenanfall unterbrach den Zaubertrankmeister, bevor er fortfahren konnte. In seinem Mund schmeckte er Blut. Voldemorts Griff wurde stärker. Er verknotete seine Klauen in den langen Haaren und zog Snape brutal auf die Füße. "Weiter Giftmischer! Bisher hast du mich noch nicht überzeugt."
Die Beine drohten den Dienst zu versagen, immer wieder brach Severus in die Knie und allein Voldemorts eiserner Griff hielt ihn noch aufrecht.
"Dumbledore lässt niemanden mehr in die Nähe des Bildes. Er hat einen Fluchbrecher kommen lassen, der die gefangenen Personen befreien soll. Einer von den beiden ist immer bei dem Bild." Severus sah seinen Meister nun an. "Ich kann es nicht mehr für Euch stehlen", fügte er voller Demut hinzu.
"Du Versager!" Voldemort schleuderte seinen Giftmischer gegen die Wand.
Etwas in seiner Schulter gab nach, bevor Severus endlich realisierte, was geschah und er den Aufprall abfangen konnte. Er schlug hart am Boden auf. Schon war Voldemort wieder über ihm. "Ich habe dich gewarnt, Snape!" kreischte der Lord außer sich. Seine Hand bewegte sich kurz und ein kleines dunkles Fläschchen tauchte in seinen Klauen auf. "Du verdienst nicht die Bezeichnung Zauberer. Du bist schwach und weich geworden! Ich werde jetzt an dir ein Exempel statuieren, dir zur Strafe und den anderen als Mahnung!"
Snape duckte sich unter der übermächtigen Aura des Lords. Seine Augen klebten förmlich an der Phiole in dessen Hand. Er erkannte sie wieder. Sie enthielt ein starkes Elixier, das die magischen Kräften eines jeden Zauberers zu neutralisieren vermochte. Lange vor Voldemorts Sturz hatte er den Trank gebraut und geglaubt, dass der Dunkle Lord nichts mehr davon besaß.
Ein fataler Irrtum.
Voldemorts Augen begannen unheimlich zu glühen. Er hielt ihm die Flasche vors Gesicht. "Ah, du erkennst es wieder? Trink, Giftmischer! Trink dein eigenes Gebräu!"
Zögernd nahm Snape die Phiole in die Hand. Seine Gedanken überschlugen sich und suchten vergeblich nach einem Ausweg. Resigniert öffnete er den Verschluss. Ein starker würziger Duft stieg ihm in die Nase. Damit zerstob auch seine letzte Hoffnung, der Trank könnte nach alle den Jahren unbrauchbar geworden sein.
Snape gab ein Geräusch von sich, das zunächst nach einem Heiterkeitsausbruch klang, bis es ihm im Halse stecken blieb. Wenn er schon keine Wahl mehr hatte, sagte er sich, dann sollte er wenigstens für einen starken Abgang sorgen.
Langsam hob er seinen Blick und sah Voldemort ruhig in die Augen. Verzweiflung und der letzte Rest seiner Würde gaben ihm die nötige Kraft dazu. Mit einer Geschmeidigkeit, die ihn selbst erstaunte, stand er auf. Severus richtete sich zu seiner vollen Größe auf und warf mit einer knappen Kopfbewegung das Haar zurück. Es war keine Schande, gegenüber einem überlegeneren Gegner zu verlieren. Nach ihm würden Stärkere kommen.
Mit einer angedeuteten Verbeugung grüßte Severus seinen Herren, dann setzte er die Phiole an die Lippen und trank deren Inhalt in einem Zug aus.
Die Wirkung setzte augenblicklich ein. Etwas, was Severus nicht näher zu benennen vermochte, veränderte sich - veränderte ihn. Das Gespür für Magie wurde schwächer und eine Leere breitete sich in und um ihn aus wie ein Vakuum. Je größer es wurde um so stärker wurde seine Verwundbarkeit. So mussten sich wohl Muggel fühlen.
Ein zischelndes Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit auf die drohende Gestalt neben ihm. Voldemort! Dessen Stimme schien nicht mehr bis zu ihm durchzudringen, stellte Snape erstaunt fest. Er starrte seinen Herren an und fragte sich, was der wohl gerade zu ihm sagen mochte. Doch wozu noch einen Gedanken daran verschwenden? Er sah Voldemorts Zauberstab auf sich gerichtet und dann raste der Blitz bereits auf ihn zu.
"Crucio!" hallte Voldemorts kreischende Stimme durch den Raum.

Am Tisch beobachteten die anderen Todesser mit Gleichgültigkeit, wie Voldemort es genoss, Fluch über Fluch auf seinen ehemaligen Giftmischer zu hetzen. Jeder von ihnen wusste, dass es sie selbst jederzeit und mit gleicher Härte treffen konnte.
Lady Gwenda betrachtete den sich am Boden krümmenden und schreienden Mann. Dort, wo die Flüche ihn trafen, sickerte Blut durch den Umhang, der sich um seinen Körper gewickelt hatte. Das Gesicht war schmutzig und zerkratzt von den Steinplatten am Boden. Insgesamt ein ziemlich elender Anblick. Indessen probierte der Dunkle Lord immer wieder neue Flüche an dem wehrlosen Opfer aus. Seine Experimentierfreude schien keine Grenzen zu kennen.
Allmählich wandelten sich Severus heisere fast tierische Schreie in leise, röchelnde Laute. Er glitt endlich in eine barmherzige Dunkelheit hinüber.
"Du willst dich davonstehlen?" dröhnte Voldemorts zischende Stimme, als er den erschlaffenden Körper gewahr wurde. "Nicht so schnell!"
Ein Schwall eisigen Wassers traf den Mann am Boden. Der Schock des kühlen Nass klärte seinen von Schmerzen benebelten Geist. Stöhnend und vor Kälte zitternd krümmte sich Snape in der Lache. Für einen kurzen Augenblick kam ihm der Gedanke, bei seinem grausamen Herrn um Gnade zu bitten. Doch warum darum betteln, wenn Voldemort sie ihm nicht gewähren würde? Nein, dieses Mal nicht. Diese Erkenntnis hatte auch seine gute Seite, denn plötzlich fiel die Angst von ihm ab. Es gab nichts mehr, was er noch fürchten musste.
Ein weiterer Fluch traf den Zaubertrankmeister, der ihm den Brustkorb zusammendrückte.

Gwenda stand von der Tafel auf, strich ihr offenes Haar über die Schulter und schritt langsam auf den Dunklen Lord zu. "Meister", ihre Stimme war sanft und hell, das ganze Gegenteil von Voldemorts grässlichem Gemurmel, "Ihr bringt ihn ja noch um", stellte die Frau wie beiläufig fest. Sie betrachtete die Gestalt, die sich auf dem Boden wälzte, ausdruckslos. Gwenda legte ihre weiße schlanke Hand beschwichtigend auf die Klaue mit dem Zauberstab. In ihrem Gesicht spiegelte sich gleichgültige Gelassenheit. Die roten funkelnden Augen ihres Herren richteten sich nun auf die stolze Erscheinung mit den silberblonden Haaren.
"Du wagst es!" schrie Voldemort und stieß die Frau von sich. Der Zauberstab richtete sich jetzt gegen sie. Doch Gwenda schien unbeeindruckt davon zu sein. "Mein Lord, der Giftmischer kann Euch lebend mit Sicherheit mehr nutzen als tot."
"Misch dich nicht ein Hexe!" donnerte Voldemort. "Treib es nicht zu weit."
Ein Lächeln erhellte die Züge der Frau, ein Lächeln, das ihre eisgrauen Augen jedoch nicht erreichte. Für einen Augenblick senkte sie den Blick und ihre langen Wimpern ließen ihr Antlitz zerbrechlich und zart erscheinen. "Mein Lord. Ich möchte Euch doch nur davor bewahren, sich später über etwas zu ärgern, was nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Bedenkt doch; umbringen könnt Ihr ihn später immer noch."
Die knochigen Finger der klauenartigen Hände legten sich unter das Kinn der Frau. Voldemort zwang Gwenda, ihn anzuschauen. Berechnend hob die blasse Gestalt nur langsam den Blick. "Habe ich Euch jemals schlecht beraten?" fragte sie mit einem kühlen Unterton.
Der Dunkle Lord beugte sich langsam zu der Frau hinab. Sie konnte dicht an ihrem Ohr seinen Atem spüren, als er leise raunte: "Und dass du eine Schwäche für den Giftmischer hast, hat gar nichts damit zu tun?"
"Ich bekomme am Ende immer, was ich haben will", flüsterte Gwenda zurück. "Warum also sollte ich nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden? Das hat doch früher auch gut geklappt. Überlasst ihn mir, mein Lord. Schenkt ihn mir", gurrte sie.
"Du kleine verdammte Hexe. Du bringst mich um mein Vergnügen!" Voldemorts Raserei ebbte ab.
"Wenn Ihr Euer Vergnügen haben wollt, mein Lord, da am Tisch sitzen genügend Feiglinge."
Gwenda wies mit verächtlichem Lächeln zur Tafel, wo die anderen Todesser starr vor Schrecken zu ihrem Meister und der blassen Schönheit herüber sahen.
"Nun ja, Snape hat versagt, sicher", fuhr sie mit dem sirenenhaften Klang ihrer Stimme fort, "dennoch: Ihr müsst zugeben, dass unser Giftmischer genug Achtung vor seinem Meister hat, um Euch nichts vorzulügen. Das ist mehr wert als jede falsche fadenscheinige Ausrede, die man Euch sonst für gewöhnlich anbietet."
Voldemort spielte mit dem langen Haar der Frau. "Du willst, dass ich den Giftmischer laufen lasse und dafür meine anderen Anhänger dezimiere?"
"Doch nur die Schwachen, Meister!" Sie war sich vollkommen bewusst, die sechs Todesser am Tisch damit zu einem schrecklichen Tode verurteilt zu haben. Ihre Augen glänzten vom Rausch dieses Machtgefühls.
"Du bist gefährlich. Eines Tages werde ich mich wohl deiner entledigen müssen."
"Eines Tages." Gwenda griff nach der Klaue und zog sie von sich weg. "Doch im Moment, mein Lord, solltet Ihr vielleicht an Euer Vergnügen denken." Sie wies zu den versammelten Todessern. "Ich wette, keiner von denen hält so lange durch wie Euer eigensinniger, aber doch getreuer Tränkemeister."
Die Blicke von Voldemort wanderten abschätzend zwischen Snapes kläglichen Resten und den anderen Männern und Frauen am Tisch hin und her. Seine Gäste hockten starr am Tisch und beobachteten mit unruhigen Blicken Gwenda und ihren Meister.
"Jaaa!" zischte Voldemort zufrieden. Die Nacht schien doch noch interessant zu werden. "Nimm deinen Giftmischer mit, meine eiskalte Schöne, und sollte er überleben und seine Fähigkeiten zurückkehren, dann darf er mir weiter dienen."
Lady Gwenda verbeugte sich elegant vor ihrem Herrn und schenkte den anderen Todessern am Tisch ein herablassendes Grinsen. Zu Schade, dass Lucius heute nicht mit geladen war.

Severus lag am Boden. Sein Körper fühlte sich an wie Watte. Taubheit und Schmerz fochten in ihm einen ungleichen Kampf aus. Darüber lag die eisige Kälte seiner durchnässten und verschmutzten Kleidung. Die Welt um ihn herum war ein Zerrbild voller bizarrer Gegenstände. Nebel tanzte vor seinen Augen. In seinem Mund schmeckte er Blut auf der geschwollenen Zunge. Wie aus weiter Ferne hörte er durch das Rauschen seiner Ohren ein kaltes hämisches Lachen, gefolgt von Schreien. Für einen wirren Moment glaubte er sich in seine feuchtkalte Zelle nach Askaban zurückversetzt.
Nein, nicht Askaban. Diese Erkenntnis hatte etwas tröstendes. Seine Gedanken klärten sich einen Augenblick wie Dunst, der kurz aufriss und sich dann wieder senkte. Nicht Askaban.

Nur unbewusst registrierte er, dass Voldemort im Moment wenig Interesse an ihm zeigte. Der innere Wunsch, sich klein und unauffällig zu verhalten, um nicht wieder ein Angriffsziel zu bieten, ließ Snape langsam in die nahe Ecke kriechen. Mit den letzten mobilisierten Kraftreserven zog er sich vorwärts und brachte alle Willenskraft auf, die Schmerzen in seinem Körper zu ignorieren. Nur keinen Laut! Nur nicht auffallen! Diese Gedanken drehten sich unablässig in seinem gemarterten Hirn herum. Wegkriechen und sich verstecken wie ein verwundetes Tier.
Wie ein sterbendes Tier.
Mehrfach fiel der Zaubertrankmeister vornüber, weil die Arme nachgaben oder die Hände auf dem feuchten Steinboden ausrutschten. Er war wie besessen von der fixen Idee, diese verdammte Ecke zu erreichen und sich darin zu verstecken - irgendwie.
Bevor Severus sich seinem Ziel nähern konnte, versagte sein Körper den Dienst. Der Schleier vor seinen Augen verdichtete sich und riss nur noch sporadisch auf. Unfähig, sich noch weiter zu bewegen, blieb er einfach liegen.
Als Severus, nicht mehr ganz bei klarem Bewusstsein, in sich hineinhorchte, spürte er nur noch Leere. Seine Angst, die ihm sagte, dass er noch lebte, war schon lange fort. Leise kicherte er vor sich hin. Ein unwirkliches irres Kichern. Schon glaubte sich der Zaubertankmeister jenseits von Schmerz und Pein.
Jemand trat an ihn heran. Es dauerte einen Moment bis er den Schatten bemerkte. Mühsam versuchte Snape den Kopf zu heben. Er blinzelte in grelles Licht. Dieser Jemand beugte sich zu ihm herunter und berührte ihn. Sofort war der Schmerz wieder da, sprang Severus an, wo er glaubte schon nichts mehr empfinden zu können. Die Realität zerbrach endgültig für ihn.

 Kapitel 9

 Kapitel 11

 

Zurück