Harry Potter und das Sonnenamulett

 

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Kapitel 10: Enthüllungen




'Noch eine halbe Stunde, bis der Potter-Junge kommt', dachte Violet, nachdem sie die letzte Stunde des Nachmittagsunterrichts beendet hatte. Sie betrat ihr Büro und verschloss die Eingangstür mit einem Schutzzauber. Unter keinen Umständen durfte Violet bei dem, was sie jetzt vorhatte, überrascht werden. Die Lehrerin nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz und griff in eine Tasche ihres weiten schwarzen Umhangs, der sie eine Zigarettenschachtel, die sie vor sich auf die Tischplatte legte entnahm. "Transfigurate", sagte Violet, ihren Zauberstab auf die Zigarettenschachtel richtend. Die Schachtel begann zu vibrieren und verwandelte sich in einen Stapel zusammengehefteter Pergamente. Die Hände der Exaurorin zitterten vor Aufregung als sie den Pergamentstapel aufhob und zu lesen begann.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zu Violets Wohnzimmer und Winky betrat das Büro, ein Tablett, auf dem sich ein Krug mit Kürbissaft und eine Platte mit Salaten und Sandwichs befanden, in der Hand. Violet presste ihre Lippen zusammen und warf der Hauselfe einen Blick zu, der deutlich ihre Verärgerung über diese Unterbrechung zum Ausdruck brachte. Sie hatte jetzt wirklich wichtigeres zu tun, als zu essen und die Zeit war knapp.

"Nimm das wieder mit", flüsterte Violet ungehalten, denn sie wollte unter allen Umständen vermeiden, dass James jetzt auf sie aufmerksam wurde. Winky ließ sich jedoch von der ablehnenden Haltung ihrer Arbeitgeberin nicht beeindrucken und stellte das Tablett energisch auf einen kleinen Beistelltisch. Dann schloss die Hauselfe geräuschlos die Tür, durch die sie gerade hereingekommen war.

"Professor-Madam waren heute Mittag im Ministerium und dann im Klassenzimmer. Da hat Professor-Madam keine Zeit zum Essen gehabt. Heute Morgen hat Professor-Madam bloß ein paar Trauben gegessen. Winky ist eine gute Hauselfe, die auf solche Dinge achtet." Zu Violets Erleichterung hatte Winky trotz ihrer hohen und durchdringenden Piepsstimme leise gesprochen.

"Es ist gut, Winky", antwortete die Lehrerin seufzend, "aber jetzt lass mich allein und sorge dafür, dass ich in der nächsten halben Stunde nicht gestört werde. Was macht James?"
"Der junge Herr schläft. Winky war mit dem kleinen Sir bei Hagrid. Die zwei haben rumgetobt und viel Spaß gehabt und dann war der kleine Herr sehr müde."

Ein Lächeln breitete sich auf Violets Gesicht aus, als sie sich ihren Sohn zusammen mit dem riesigen Hagrid vorstellte. Die Lehrerin nickte der Hauselfe verabschiedend zu und diese verließ geräuschlos den Raum.

Violet trank einen Schluck Kürbissaft, bevor sie sich endlich dem Pergamentstapel vor sich zuwandte. Auf dem ersten Blatt stand mit roter Tinte in großen Lettern:
"ST-15672/80 STRAF- UND PROZESSAKTE SEVERUS SNAPE"
Die nächste Seite enthielt einen Aufgriffsbericht, unterzeichnet von Frederik Sherman, dem damaligen Leiter der Aurorenzentrale. Violet las:

"Am Abend des 30. November 1980 gegen 22.30 Uhr wurden zwei Verdächtige bei dem Versuch, in das Haus der Familie Dorsen, St. Michael Square Nr.7, Gloucester, Gloucestershire, einzudringen, trotz heftiger Gegenwehr von einem Aurorenteam, das durch einen anonymen Hinweis auf die Vorgänge aufmerksam gemacht worden war, überwältigt und festgenommen. Die Personalien der Festgenommenen lauten: Severus Horatius Snape, geboren am 13. November 1959, und Hannibal Caesar Burkes, geboren am 17. März 1961. Die Verdächtigen wurden zwecks anschließender Verhöre zunächst in die Ministeriumskerker verbracht. Bei einer umgehend durchgeführten Leibesvisitation wurden beide Delinquenten eindeutig aufgrund des Dunklen Mals auf ihrem linken Unterarm als Todesser identifiziert. Ein Vernehmungsprotokoll konnte nicht aufgenommen werden, da beide Personen die Aussage verweigerten."

Die nächsten Seiten enthielten Verhörprotokolle, aus denen jedoch nur hervorging, dass Snape weiterhin hartnäckig die Aussage verweigerte. Ferner ergab sich aus einem Protokoll, dass Hannibal Burkes schließlich ein Geständnis abgelegt hatte, in welchem er zugab, zusammen mit Snape im Auftrag des Dunklen Lords gehandelt zu haben. Burkes hatte die Hauptschuld jedoch Snape zugeschoben, indem er selbst behauptet hatte, unter dem Imperius-Fluch gestanden zu haben und daher für sein Verhalten nicht voll verantwortlich gewesen zu sein.

Wie Violet dem folgenden Protokoll entnahm, hatte Snape auch weiterhin beharrlich die Aussage verweigert, nachdem er mit Burkes' Geständnis konfrontiert worden war. Als die Ex-Aurorin das nächste Blatt las, stockte ihr für einen Moment der Atem und eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Es handelte sich um eine Anweisung, aus der sich ergab, dass der Delinquent wegen seiner anhaltenden Verstocktheit den Verhörmethoden Typ C zu unterziehen sei. Die Anweisung war unterzeichnet vom Leiter der Abteilung für magische Strafverfolgung und gegengezeichnet vom Zaubereiminister persönlich. Violet hatte zu lange als Aurorin gearbeitet, um nicht zu wissen, was das bedeutete. Diese Verhörmethoden waren um nichts besser, als die, die die dunkle Seite bei ihren Gefangenen anwandte. Violet war einmal bei einem Verhör Typ C dabei gewesen. Der Verdächtige war wahnsinnig geworden. Violet hatte nie erfahren, was aus ihm geworden war. Dieses Erlebnis hatte sie dazu bewogen, sich auf eine freie Stelle in der Mysteriumsabteilung zu bewerben, die sie aufgrund ihrer hervorragenden Zeugnisse und Beurteilungen auch bekommen hatte. Zu Beginn ihrer Ausbildung war Violet der Überzeugung gewesen, dass es nichts geben konnte, was so grausam gewesen wäre, dass es Voldemort und seine Gefolgsleute nicht verdient hätten, doch an dem Tag, an dem sie Zeugin dieses unmenschlichen Verhörs gewesen war, war ihre Überzeugung zum ersten Mal ins Wanken gekommen. Violet blätterte weiter und fand bestätigt, was sie ohnehin schon wusste: über die Typ-C-verhöre wurden keine Protokolle angefertigt.

Als nächstes folgte der Einweisungsbeschluß für Askaban, datiert vom 12. Januar 1981. Aus dem Schriftstück ergab sich weiter, dass Snape im Hochsicherheitstrakt unterzubringen sei, um dort seinen Prozess abzuwarten.

Dann folgte die Bürgschaftsurkunde von Albus Dumbledore, in welcher dieser erklärte, dass er die volle Verantwortung für den Beschuldigten Severus Horatius Snape übernehme und für seine Unschuld mit seinem eigenen Namen einstehe. Snape habe schon seit geraumer Zeit die Seiten gewechselt und sei für ihn, Dumbledore, als Spion unter erheblicher Gefahr für sein eigenes Leben tätig gewesen.

Aus dem nachfolgenden Prozessprotokoll entnahm Violet, dass Snape noch immer die Aussage verweigerte. Er gab nur das zu, was ohnehin außer Frage stand, nämlich, dass er ein Todesser gewesen war.

"Warum haben sie ihm eigentlich kein Verita-Serum gegeben?", wunderte sich Violet, bis ihr einfiel, dass das Serum erst vor etwa zehn Jahren erfunden worden war. Die Lehrerin warf einen gehetzten Blick auf ihre Kaminuhr und stellte fest, dass sie nur noch fünf Minuten hatte. Hastig blätterte sie die nächste Seite um und las:

"Der Zaubergamot hat nach eingehender Beratung den folgenden Beschluss gefasst: Severus Horatius Snape, geboren am 13. November 1959, wird aufgrund der Bürgschaft des Professor Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore aus Mangel an Beweisen unter den nachfolgend aufgeführten Auflagen und Bedingungen auf Bewährung aus Askaban entlassen. Professor Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore, im Folgenden genannt der Bürge, übernimmt die volle Verantwortung für das Verhalten des Severus Horatius Snape, im Folgenden genannt der Delinquent. Der Bürge hat - nach Rücksprache mit dem Ministerium - das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den Delinquenten. Wenn der Delinquent den Aufenthaltsort, den der Bürge für ihn bestimmt hat, verlässt, ist er verpflichtet, eine schriftliche Erlaubnis des Bürgen mit sich zu führen, andernfalls ist er im Fall eines Aufgriffs durch vom Ministerium hierzu autorisierte Organe sofort in Gewahrsam zu nehmen. Der Delinquent hat allwöchentlich eine Unterschrift in der Abteilung für magische Strafverfolgung zu leisten. Vom Ministerium autorisierte Personen haben jederzeit das Recht, unangemeldete Kontrollbesuche bei dem Delinquenten durchzuführen. Nach Ablauf eines Jahres behält sich dieses Gremium vor, erneut über die genannten Auflagen zu beraten und diese, gegebenenfalls zu lockern oder zu verschärfen."

Violet blätterte hastig weiter. Der Rest der Akte schien, wie sie bei flüchtigem Hinsehen feststellte, aus dem Nachweis der einzelnen Unterschriften zu bestehen, die Snape daraufhin wöchentlich zu leisten hatte beziehungsweise aus Berichten über entsprechende Kontrollbesuche. Als letztes folgte noch ein Beschluss des Zaubergamots, in welchem die Auflagen gelockert wurden. Violet nahm sich vor, später noch einmal in Ruhe weiterzulesen, doch das Wesentliche hatte sie erfahren. Warum hatte der Kerl nicht zugegeben, dass er für Dumbledore und das Ministerium spionierte, wenn dies der Fall gewesen war? Und wenn er auf der dunklen Seite stand, wie hatte er es nur geschafft, dass sie ihn bei den Verhören nicht gebrochen hatten? Violet würde später darüber nachdenken. Und wenn sie mit der Akte nicht weiter kam, dann blieb ihr noch "Plan B". Sie zuckte zusammen, als ihr dieser Gedanke kam. Nein, damit wollte sie sich jetzt noch nicht beschäftigen.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Sicherlich kam der Potter-Junge zum Unterricht. Schnell verwandelte Violet die Akte wieder in die Zigarettenschachtel und legte sie in eine Schreibtischschublade, dann öffnete sie ihre Bürotür.

***



Harry verließ das Büro des Schulleiters, mit dem er über den Übungskurs für die Verteidigung gegen die dunklen Künste gesprochen hatte. Harry war glücklich darüber, dass er diese Tätigkeit, die ihm im letzten Schuljahr soviel Freude gemacht hatte, nun ganz offiziell fortsetzen durfte. Sie waren schließlich übereingekommen, dass Harry die Treffen in zwei- bis dreiwöchigen Abständen durchführen würde, je nachdem, wie es zeitlich für ihn machbar war. Harry hatte zwar zunächst voller Begeisterung vorgeschlagen, einen regelmäßigen Termin pro Woche festzulegen, doch hatte ihn Dumbledore darauf hingewiesen, dass Harry darauf achten musste, dass er sich nicht zu viele Verpflichtungen auflud und damit Gefahr lief, sich zu verzetteln. Bei realistischer Einschätzung seiner Situation musste Harry zugeben, dass der Schulleiter Recht hatte. Harry war für den Aufbau einer neuen Quidditch-Mannschaft verantwortlich, der Einzelunterricht bei Professor Fenwick und die daraus resultierenden Übungen würden Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem wollte Harry Auror werden, was bedeutete, dass er vor allem in Verwandlung und Zaubertränke eine Menge Extraarbeit leisten musste, um den Anforderungen gerecht zu werden. Harry würde in der nächsten Woche einen entsprechenden Aushang an den Schwarzen Brettern der vier Häuser machen, in welchem er alle interessierten Schüler ab der vierten Klasse für einen noch festzulegenden Abend zu einem ersten Treffen einladen würde.

Nun machte sich Harry auf den Weg zu seiner ersten Unterrichtsstunde bei Professor Fenwick. Harry sah dieser Stunde mit gemischten Gefühlen entgegen. Er stellte sich innerlich schon darauf ein, dass es wohl nicht viel angenehmer, als bei Snape sein würde. Ron hatte nicht ganz Unrecht, wenn er meinte, dass diese Fenwick etwas von einem weiblichen Snape an sich hatte. Dabei konnten sich die beiden Lehrer nicht leiden, wie Harry schon mehrfach beobachtet hatte. Er war ziemlich sicher, dass Professor Fenwick ihm während der Zaubertrankstunde nur deshalb Punkte gegeben hatte, weil sie Snape ärgern wollte. Es wäre sicherlich amüsant, einen Streit der beiden Lehrer mitzuerleben. Harry stellte mit einem Blick auf seine Armbanduhr fest, dass es genau fünf Uhr war, als er an die Tür von Professor Fenwicks Büro klopfte. 'Na bestens', dachte er erleichtert, 'da kann sie wenigstens nicht gleich wegen einer Verspätung mit mir rummeckern.' Harry hörte ein klicken, bevor sich die Tür geräuschlos öffnete. die Neugierde des Jungen war sofort geweckt. Was hatte die Lehrerin denn so geheimes in ihrem Büro gemacht, dass sie die Tür abgeschlossen hatte?

Nachdem Harry eingetreten war, blickte er sich erst einmal in dem Büro um. Es war jedes Jahr von neuem interessant, festzustellen, wie sich die Einrichtung des Raumes durch den Umstand, dass ihn jedes Mal ein neuer Lehrer bewohnte, veränderte. Die jetzige Inhaberin des Büros schien eine Vorliebe für altmodische Möbel, exotische Bilder, Pflanzen und andere Gegenstände, deren Bedeutung Harry nicht kannte, und vor allem für Bücher zu haben. Es schien Harry, als wäre beinahe kein Platz mehr an den Wänden vor lauter Regalen, Bildern, exotischer Pflanzen und Masken, die dort standen und hingen. In der Ecke stand eine kleine Vitrine, die anscheinend Zaubertrankzutaten enthielt. Der Schreibtisch, der Sekretär sowie die anderen Möbel waren altmodisch, wirkten aber irgendwie gemütlich.

"Guten Tag, Potter", sagte Professor Fenwick in ihrem üblichen geschäftsmäßigen Ton, "gut, dass Sie pünktlich sind, bitte nehmen Sie Platz, damit wir beginnen können." Sie deutete auf einen Holzstuhl mit Armlehnen, der vor dem Schreibtisch stand, sie selbst saß auf der anderen Seite des Schreibtisches. "Alastor Moody hat mir mitgeteilt, dass Sie mittlerweile gute Fortschritte in der Kunst, Ihren Geist zu verschließen, gemacht haben", fuhr die Lehrerin fort, "haben Sie sich auch schon mit der Steigerung des Legilimens-Zaubers beschäftigt?"

"Ich glaube nicht", erwiderte Harry unsicher, "was bewirkt denn diese gesteigerte Form?"

"Bei der einfachen Form des Zaubers dringt man in die unangenehmen Erinnerungen seines Gegenübers ein. Bei der gesteigerten Form ist es möglich, dass man Einblicke in das tiefste Unbewusste erhält, einschließlich der geheimsten Wünsche, Träume, Gefühle, einfach alles, was Sie sich vorstellen können."
Harry fand die Vorstellung, dass ausgerechnet Professor Fenwick diese Einblicke bei ihm haben sollte, mehr als beunruhigend.

"Ich weiß, dass das nicht gerade eine angenehme Vorstellung ist", sagte die Lehrerin als hätte sie Harrys Gedanken erraten, "aber Voldemort beherrscht diesen Zauber natürlich und Sie müssen in der Lage sein, sich auch dagegen zu verteidigen. Aber damit werden wir uns ein anderes Mal beschäftigen. Sehen wir einmal, wie Sie mit der einfachen Form des Zaubers zurecht kommen." Blitzschnell erhob sich Professor Fenwick und richtete ihren Zauberstab auf Harry. Dieser sprang entsetzt auf, hatte jedoch nicht einmal mehr Zeit, seinen Zauberstab zu zücken, als die Lehrerin auch schon "Legilimens!" rief. Harry war dermaßen überrumpelt, dass er keinerlei Abwehrmaßnahmen ergriff.

Das Büro verschwamm vor seinen Augen und er sah die Erinnerungen an den Abend im Juni, als er zusammen mit seinen Freunden im Ministerium gewesen war, um, wie er damals geglaubt hatte, Sirius zu retten, die in grellen Bildern an ihm vorbeizogen. Der Raum mit den Prophezeiungen, die Todesser, Ron, der mit einem Gehirn kämpfte, und schließlich der Raum, der aussah, wie ein Amphitheater mit dem Podium und dem zerschlissenen Vorhang. Sirius, der auf dem Podium mit Bellatrix Lestrange kämpfte und dann... "Nein", schrie Harry. Er wollte es nicht zulassen, dass dieses niederträchtige, unfaire Weib ihn zwang, Sirius' Tod noch einmal zu erleben! Harry konzentrierte all seine Kraft darauf, dass es aufhörte. Und er hatte Erfolg. Das Büro nahm wieder klare Konturen an. Zu seiner Befriedigung stellte Harry fest, dass er immer noch auf den Füssen stand. Er zitterte jedoch am ganzen Körper.

"Ihre Verteidigung ohne Zauberstab war ganz passabel", sagte Professor Fenwick, ihr Gesicht verriet keinerlei Gefühlsregung, "aber Sie hätten sich nicht von mir dermaßen überrumpeln lassen dürfen."

Das war zuviel für Harry. Er spürte, wie in heißen Wellen die Wut und Empörung in ihm aufwallte. "Das ist unfair!", schrie er die Lehrerin an. "Sie haben mich angegriffen, ohne mir überhaupt die kleinste Chance einer Verteidigung zu geben. Sie sind ja noch schlimmer, als Professor Snape!"

"Mr. Potter", erwiderte Professor Fenwick gleichmütig, "ich habe keinerlei Interesse daran, Sie unfair zu behandeln, aber glauben Sie etwa, dass Voldemort und seine Gefolgsleute fair kämpfen, wenn Sie Ihnen gegenüberstehen? Sie haben doch selbst schon Ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht. Ich will lediglich, dass Sie eine bessere Chance haben, als sie zum Beispiel Ihre Mutter hatte!"

Die Erwähnung seiner Mutter brachte das Fass zum Überlaufen. Wie konnte dieses arrogante Weib es wagen, Harry gegenüber von seiner Mutter zu sprechen?! Harry hatte nur noch den Wunsch, diese überhebliche, ausdruckslose Maske vom Gesicht der Lehrerin zu wischen, ihr zu zeigen, dass sie kein Recht hatte, so mit ihm umzugehen! Ohne über die Konsequenzen, die sein Tun nach sich ziehen könnte, nachzudenken, hob Harry seinen Zauberstab und richtete ihn auf die Lehrerin.
"Legilimens", schrie er und konzentrierte all seine Gedanken darauf, in den Geist seiner Widersacherin einzudringen.

Wieder verschwamm das Büro vor Harrys Augen und mit Genugtuung registrierte er, dass es nun Professor Fenwicks Erinnerungen waren, die in grellen Bildern an ihm vorbeizogen:

Der Hogwartsexpress stand abfahrbereit auf Gleis neundreiviertel. Überall auf dem Bahnsteig standen Gruppen von Schülern, die sich lärmend begrüßten beziehungsweise mit ihren Verwandten letzte Abschiedsworte wechselten. Zu Harrys Verblüffung konnte er nicht nur Bilder sehen, sondern auch hören, was gesprochen wurde.

Ein kleines, zerbrechlich wirkendes Mädchen mit zwei dunkelbraunen Zöpfen, das irgendwie einen verängstigten Eindruck machte, stand neben einem schmächtig wirkenden jungen Mann mit schulterlangen, dunkelbraunen Locken und einem goldenen Ring im rechten Nasenflügel. Er trug ausgefranste Jeans und ein T-Shirt, auf dem ein Motorrad aufgedruckt war. Der junge Mann lächelte freundlich und legte dem Mädchen beruhigend einen Arm um die Schultern.

"Na dann viel Glück, Kleines. Du musst jetzt einsteigen, sonst fährt der Zug noch ohne dich ab."

"Nenn mich nicht immer Kleines, Benjy", protestierte das Mädchen mit dem Versuch eines Lächelns, das ihr jedoch nicht recht gelingen wollte, "sonst sag ich Onkel zu dir." Der junge Mann schüttelte sich angewidert. "Tu das bloß nicht, dann komm ich mir immer vor, wie ein alter Knacker. Und jetzt rein mit dir, Mädel! Schick mir so bald wie möglich eine Eule, ja? Ich bin schon ganz neugierig, in welches Haus du kommst."

"Bitte komm doch mit, Benjy." Sie hielt sich krampfhaft an ihm fest. "Ich hab Angst allein, ohne dich, ohne Mum und Dad. Und wenn ich nun nach Slytherin komme, dem Haus, wo die ganzen dunklen Magier herkommen?"

"Du schaffst das schon. Du wirst sehen, bald fühlst du dich sehr wohl in Hogwarts und hast eine Menge Freunde. Außerdem glaub ich nicht, dass du nach Slytherin kommst. Wahrscheinlich kommst du nach Hufflepuff, wie ich. Und jetzt halt die Ohren steif und rein in den Zug mit dir!"

Die Szene löste sich auf und Harry sah, wie das kleine Mädchen den Sprechenden Hut aufsetzte. Der Schlitz öffnete sich sofort und, ohne lange zu überlegen, verkündete der Sprechende Hut: "Slytherin!" Das Gesicht des Mädchens erstarrte vor Entsetzen. Sie erhob sich zitternd. Als die Erstklässlerin am Slytherintisch entlang ging, auf der Suche nach einem freien Platz, flüsterte ihr ein großer, grobschlächtiger Junge mit einem Pickelgesicht zu: "Ich hab gehört, du bist in einem Muggelstall groß geworden. Verschwinde, du stinkst zehn Meter gegen den Wind nach Muggelmist! So was, wie du ist eine Beleidigung für unser Haus!" Das Mädchen errötete und schlug beschämt die Augen nieder, als sie schnell weiterging.

Als nächstes sah Harry, wie das Mädchen mit den dunkelbraunen Zöpfen über die Schlossgründe von Hogwarts rannte, offenbar verfolgt von mehreren schattenhaften Gestalten. Es musste Herbst sein, denn dichter Nebel waberte um die Rennenden und es nieselte leicht.

"Spring in den See und wasch dir den Gestank ab, Muggelschlampe", schrie einer der Verfolger, die Anderen brachen in johlendes Gelächter aus. Die Verfolger kamen dem Mädchen immer näher. Plötzlich blieb die Erstklässlerin unvermittelt stehen, denn sie hatte erkannt, dass sich vor ihr das Ufer des Sees befand. Verzweifelt schlug das Mädchen einen Haken nach rechts, doch es war zu spät. Einer ihrer Peiniger hatte sie an einem Zopf gepackt und hielt sie fest.

"Du kannst dir's aussuchen, Muggelschlampe, ob du freiwillig springst, oder ob wir dich reinschmeißen müssen", feixte er, "kommt, helft mir mal!" Zwei weitere Jungen waren herangekommen und hielten das Mädchen an Armen und Beinen fest. Sie sah ihre Peiniger aus grau-grünen, vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen flehend an: "Bitte nicht", flüsterte sie kaum hörbar, "ich habe euch doch nichts getan und außerdem kann ich nicht schwimmen!" Die drei Jungen lachten und hoben die nun vollkommen erstarrte Erstklässlerin hoch, sich immer weiter in Richtung des Sees bewegend.

"Lasst sie sofort los, ihr Mistkerle", war nun eine neue, sich vor Empörung überschlagende Stimme zu hören. Eine weitere Gestalt in wehendem Umhang rannte auf die kleine Gruppe zu. "Wie abscheulich von euch, euch an einer wehrlosen Erstklässlerin zu vergreifen. Ich werde mit eurem Hauslehrer sprechen. Und der wird sich hoffentlich eine saftige Strafe für euch Abschaum einfallen lassen."
Harry stockte der Atem. war das Mädchen, dass so beherzt der Erstklässlerin zu Hilfe gekommen war, wirklich seine Mutter?

"Stopp", hörte Harry auf einmal Professor Fenwicks Stimme wie aus weiter Ferne, "das ist genug!" Die Szenerie am See löste sich auf und die Einrichtung des Büros war wieder klar zu erkennen. Harry fühlte sich auf einmal sehr unbehaglich. Als die Bilder in rasender Geschwindigkeit an ihm vorbeigezogen waren, hatte er keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Doch nun war ihm klar, dass er dies alles nicht hätte sehen sollen. Warum nur hatte Professor Fenwick die Flut der Bilder und Worte nicht längst gestoppt? Wahrscheinlich würde Harry das nie erfahren, denn sicherlich würde er gleich etwas Ähnliches erleben, wie damals, als er in das Denkarium, in welchem sich Snapes Erinnerungen befanden, eingetaucht war. Vermutlich würde ihn Professor Fenwick gleich aus ihrem Büro werfen und ihm sagen, dass er nie mehr wiederkommen dürfe. Ein Blick auf die Lehrerin ließ Harry zu der Überzeugung gelangen, dass sie sehr wütend war, doch dann erkannte er, dass sich diese Wut nicht gegen Harry, sondern gegen sie selbst zu richten schien.

"Setzen wir uns einen Augenblick", sagte Professor Fenwick mit rauer, leicht zittriger Stimme. "Ich glaube, es wäre gut, wenn wir ein bisschen reden." Nachdem sie Platz genommen hatten, fuhr die Lehrerin fort: "Das war wirklich eine hervorragende Leistung, Mr. Potter. Ihre Magie ist offenbar außergewöhnlich stark, wenn Sie wütend sind. Sie haben etwas geschafft, was üblicherweise nur sehr selten gelingt, zumindest bei Anwendung der einfachen Form des Legilimens-Zaubers: Zu den Bildern haben Sie auch die Worte und Geräusche der Erinnerungen lebendig werden lassen."

Auf Harrys Gesicht spiegelte sich seine Verwirrung wieder. Das letzte, was er erwartet hatte, war ein Lob der Lehrerin. Gleichzeitig überkam den Jungen ein unangenehmes Schamgefühl. "Es tut mir leid, Professor", sagte er leise, "ich hätte das nicht sehen sollen."

"Es braucht Ihnen nicht Leid zu tun, Potter. Ich hätte Sie nicht so tief in meine Erinnerungen eindringen lassen dürfen, ich habe mich von Ihnen überrumpeln lassen."

"Warum haben Sie die Bilder nicht viel früher unterbrochen?"

"Es sind in Wahrheit nur ein paar Sekunden vergangen, während wir die Empfindung hatten, es seien Minuten gewesen. Es ist hier ähnlich, wie bei einem Traum, bei dem man das Gefühl hat, es seien Stunden vergangen und wenn man erwacht, sieht man auf die Uhr und stellt fest, dass es nur Minuten waren. Die hohe Kunst der Legilimentik besteht darin, in kürzester Zeit die Erinnerungen seines Gegenübers durchzusehen, ohne dass der andere etwas davon bemerkt. Doch das ist schwärzeste Magie und es gibt keinerlei Rechtfertigung dafür, diese Art von Magie jemals anzuwenden."

"Darf ich Sie etwas fragen?" Die Lehrerin nickte. "War das meine Mutter, die - ähm Ihnen damals geholfen hat?"

"Ja, Harry", antwortete Professor Fenwick leise und ein strahlendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Ein Lächeln, wie es Harry bisher nur einmal bei ihr gesehen hatte, nämlich an dem Tag, als sie ihrem Sohn beim Spielen mit dem Plüschelefanten zugesehen hatte.

"Deine Mutter war ein wunderbarer Mensch", fuhr die Lehrerin fort. Harry registrierte, dass sie ohne jegliche Förmlichkeit sprach, "sie hat jedem geholfen, der in Schwierigkeiten war, egal, ob sie sich dabei selbst in Gefahr brachte. Ungerechtigkeiten ertrug Lily nicht und sie kämpfte mit allen Mitteln dagegen. Seit jenem Novembernachmittag in meinem ersten Schuljahr war sie meine Heldin. Ich habe viel von ihr gelernt. Warte einen Augenblick, Harry. Ich möchte dir etwas zeigen."

Die Lehrerin erhob sich und verschwand durch eine Tür, die, wie Harry vermutete, in ihr Wohnzimmer führte. Kurz darauf kam sie zurück und stellte ein eingerahmtes Bild vor den Jungen auf den Schreibtisch. Als Harry hinsah, bildete sich ein Kloß in seinem Magen, der sich unaufhaltsam einen Weg hinauf in seinen Hals suchte. Es war ein Muggelfoto seiner Mutter. Sie trug eine grüne, mit rotgoldenen Stickereien verzierte Festtagsrobe, die wunderbar mit ihrem roten Haar und ihren grünen Augen harmonierte. Auf ihrer Brust prangte das Vertrauensschülerabzeichen mit dem Gryffindor-Löwen. Das Bild steckte in einem breiten Rahmen, dessen Rand offenbar mit bunten Blumen bemalt worden war.

"Das war am Ende ihres fünften Schuljahres", erklärte Professor Fenwick. "Der Schulleiter hat damals bestimmt, dass es einen Abschlussball gab. Wir brauchten etwas Aufheiterung in jenen dunklen Zeiten. Mein Pflegevater hatte mir in den Weihnachtsferien eine Muggelkamera geschenkt und ich habe deine Mutter gebeten, dieses Foto machen zu dürfen. Seither hat es mich überallhin begleitet. Ich hatte damals eine wahre Fotografierwut und deine Mutter war natürlich eins meiner beliebtesten Zielobjekte, bis es ihr auf die Nerven ging und sie von mir verlangt hat, dass ich damit aufhöre."

Bei der Vorstellung, dass Professor Fenwick als Erstklässlerin eine Gemeinsamkeit mit Colin Creevey gehabt hatte, musste Harry unwillkürlich lächeln. Ermutigt durch die entspannte Atmosphäre wagte er noch eine Frage: "Professor Fenwick, ähm, wie kamen Sie denn nach Slytherin?" Professor Fenwick sah Harry mit einem Blick an, der deutlich zum Ausdruck brachte, dass sie diese Frage nicht für besonders intelligent hielt. Harry fügte hastig hinzu: "Ich meine, ich hab bis jetzt noch nie gehört, dass jemand mit Muggeleltern nach Slytherin gekommen ist."

"Meine Eltern waren beide reinblütig, meine Pflegeeltern waren Muggel", antwortete die Lehrerin knapp.

"Wer war denn der junge Mann, der Sie zum Zug gebracht hat?", fragte Harry weiter.

"Das war mein Onkel Benjy, der jüngere Bruder meines Vaters. Er war immer wie ein großer Bruder für mich. Wie habe ich mir gewünscht, ins gleiche Haus zu kommen, in dem auch er war, doch..." Die Lehrerin unterbrach sich abrupt und presste die Lippen zusammen, so, als hätte sie bereits zu viel gesagt. Harry fühlte, dass er auf weitere Fragen keine Antworten mehr bekommen würde. Es war, als hätte Professor Fenwick einen Schalter umgelegt. Das Lächeln war verschwunden und sie wirkte wieder so streng und unnahbar, wie zuvor.

"Wir haben nur noch eine knappe Viertelstunde Zeit, Mr. Potter", sagte die Lehrerin in ihrem gewohnt geschäftsmäßigen Ton. "Lassen Sie uns noch ein wenig üben." In der verbleibenden Zeit gelang es Harry mehrfach, Professor Fenwicks Versuche, in seinen Geist einzudringen, abzublocken. Als der Junge das Büro nach der Stunde verließ, war er um einiges reicher, über das er nachdenken musste.

***



Severus Snape schloss die Tür des Büros der Lehrerin für die Verteidigung gegen die dunklen Künste hinter sich und schritt durch die Gänge des Schlosses in Richtung der Kerker. Sie hatten gerade eines ihrer Treffen, in denen sie sich mit den Sicherungssystemen von Hogwarts beschäftigt hatten, beendet. Entgegen Severus' ursprünglichen Befürchtungen kamen sie gut voran. Der Zaubertränke-Meister musste sich widerwillig eingestehen, dass sowohl der Werwolf als auch die alte Krähe gute Arbeit leisteten. Doch um nichts in der Welt hätte er dies, vor allem der alten Krähe gegenüber, zugegeben. Diese Frau brachte ihn jedes Mal schon allein durch ihre Anwesenheit in Rage. Als sie mit ihrer Arbeit fertig gewesen waren, war die Hauselfe Winky zusammen mit Fenwicks Sohn aufgetaucht und die alte Krähe hatte den Vorschlag gemacht, gemeinsam noch einen Spaziergang zu machen. Sie hatte dabei jedoch demonstrativ nur den Werwolf angesehen. Das war typisch. Sie nutzte jede Gelegenheit, um Severus ihre Abneigung zu zeigen. Nicht, dass er Wert darauf gelegt hätte, sie zu begleiten, welch alberne Vorstellung!

Es war Samstagnachmittag. Das Schloss war beinahe menschenleer, denn die meisten Schüler und Lehrer verbrachten den freien Nachmittag draußen, um das herrliche Wetter zu genießen. Nachdem Severus sein Büro betreten hatte, stellte er mit einem Blick auf die Uhr fest, dass er noch eineinhalb Stunden Zeit hatte, bis er sich auf den Weg machen musste. Bei dem Gedanken an den heutigen Abend erschauerte er und eine Gänsehaut bildete sich auf seinem Körper. Nun war es also wieder so weit, er würde einen Menschen töten müssen! Wie er diesen Teil seiner Spionagetätigkeit verabscheute und hasste! Gestern Abend hatte der Dunkle Lord Severus zu sich gerufen.

"Ich habe einen besonderen Auftrag für dich", hatte Voldemort mit seiner hohen kalten Stimme gesagt, "du wirst die Ehre haben, einen gemeinen Verräter unserer edlen Sache hinzurichten. Es ist uns gelungen, Dennis Fortescue aufzuspüren. Ich habe ihn beobachten lassen. Jeden Samstagabend macht er einen Spaziergang in einem abgelegenen Waldstück. Der Idiot glaubt wirklich, ich hätte ihn vergessen. Du wirst dich mit der Örtlichkeit, die ich dir noch nennen werde, vertraut machen und dann erledigst du ihn. Der Verräter ist es nicht wert, vor mich gebracht zu werden! Nimm Stubby und Nelson mit. Wenn ihr eure Arbeit erledigt habt, beschwört ihr das Dunkle Mal herauf. Jeder soll erfahren, was Lord Voldemort mit Verrätern macht."

Fortescue hatte in den Reihen der Todesser eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Doch nach Voldemorts Fall hatte er, wie das viele getan hatten, behauptet, nur unter dem Imperius-Fluch gehandelt zu haben. Fortescue war Journalist und er hatte sich in den folgenden Jahren mit glühenden Artikeln gegen die Reinblüterphilosophie hervorgetan. Nach Voldemorts Rückkehr hatte sich Fortescue aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, war aber nicht wieder zu den Todessern zurückgekehrt. Severus war klar, dass er keine andere Wahl haben würde, als den Auftrag auszuführen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, dass seine Deckung aufflog. Er musste davon ausgehen, dass er der einzige war, der von dem Auftrag wusste. Das einzige, was Severus für Fortescue tun konnte war, dass es schnell ging.

Wieder, wie so oft, kamen dem Spion Zweifel darüber, ob der Preis, den er dafür bezahlte, Informationen über Voldemorts Pläne zu sammeln, nicht zu hoch war. Und wieder, wie so oft, stellte er fest, dass er keine andere Wahl hatte. Ja, er musste sogar töten, aber überwog nicht die Zahl der unschuldigen Leben, die Severus mit seiner Arbeit retten konnte? Tief in seinem Innern wünschte sich Severus nichts sehnlicher, als dies alles hinter sich lassen zu können, fort zu gehen, irgendwo ein neues Leben anzufangen. Aber er war sicher, dass ihn die Dämonen der Vergangenheit nicht in Frieden lassen würden. Außerdem hatte er eine Schuld zu begleichen: eine Schuld gegenüber Albus Dumbledore, dem einzigen Menschen, der ihm rückhaltlos vertraute, eine Schuld all denen gegenüber, für deren Qualen er verantwortlich war. Das war der einzige Sinn, den Severus noch in seinem Leben sah, das einzige, woran er sich festklammerte, wenn die dunklen Strudel in seinem Innern ihn zu verschlingen drohten.

Der Zaubertränke-Meister verdrängte diese düsteren Gedanken in den Hintergrund seines Bewusstseins. Er musste sich ablenken, Kräfte sammeln, wenn er den Anforderungen heute Abend gewachsen sein wollte. Sein Blick fiel auf eine Zeitschrift in grünem Einband, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Bevor Severus zu dem Treffen in Fenwicks Büro gegangen war, hatte eine große Schleiereule die neueste Ausgabe des Alchemistischen Journals gebracht. Interessiert nahm der Lehrer die Zeitschrift und überflog das Inhaltsverzeichnis. Seine Aufmerksamkeit wurde auf einen Artikel gelenkt, in welchem ausführlich die Eigenschaften und Wirkungsweise der Rinde zweier seltener westafrikanischer Mangrovenarten in Zusammenhang mit der Herstellung von Schlaf- und Beruhigungstränken erörtert wurde. Severus hatte speziell über diese exotischen Arten noch nicht viele Informationen sammeln können. Er war fasziniert über die Liebe zum Detail und die Begeisterung, mit der der Artikel geschrieben war. Der Zaubertränke-Professor machte sich einige Anmerkungen an den Rand des Pergaments. Aus dem Text ergaben sich einige interessante Fragen und er beschloss bei Gelegenheit, mit dem Autor deswegen in brieflichen Kontakt zu treten. Besonders beeindruckt war Severus vom letzten Abschnitt des Artikels, in welchem der Autor auf Möglichkeiten und Risiken bei der Anwendung des Dormis-Zaubers, eines Zaubers, mit dem man einen tiefen Schlaf auslösen konnte, in Verbindung mit der Einnahme eines Schlaftrankes, in welchem die zuvor vorgestellte Mangrovenrinde verwendet wurde, einging.

Als er zu Ende gelesen hatte, las Severus die Unterschrift des Artikels und er traute seinen Augen nicht. "Professor Violet Fenwick, Hogwarts." Der Artikel musste schon vor einigen Wochen geschrieben worden sein, denn das alchemistische Journal erschien einmal im Monat und Redaktionsschluss war immer drei Wochen vor dem nächsten Erscheinungsdatum. Der Herausgeber der Zeitschrift hatte jedoch einen Zauber eingebaut, der bewirkte, dass immer die aktuelle Anschrift des jeweiligen Autors angegeben wurde. Severus ergriff wütend die Zeitschrift und warf sie quer durchs Zimmer. Hatte man vor der alten Krähe denn nirgends Ruhe? Ausgerechnet diese Frau, die er zutiefst verabscheute und der er misstraute, schien seine Liebe zur Zaubertrankherstellung zu teilen. Irgendwie empfand er dies als grenzüberschreitend, als eindringen in seine Intimsphäre!

Ein Blick auf die Uhr zeigte Severus, dass er sich auf den Weg machen musste. Der Lehrer sicherte sein Büro mit den üblichen Schutzzaubern und verließ das Schloss. Dann lief er bis zu der Schutzlinie von Hogwarts und disapparierte. Auf einer kleinen Lichtung ganz in der Nähe des Waldstückes, in welchem Severus sein Opfer treffen sollte, materialisierte er sich wieder. Dann zog er seinen Zauberstab und beschwor aus dem Nichts seine Todesser-Verkleidung herauf. Zwei weitere Plopp-Geräusche ertönten und neben dem Zaubertränkemeister materialisierten sich zwei Gestalten: Remigius Stubby und Erik Nelson. Beide hatten erst im Sommer die Schule verlassen und etwa vor einem Monat das Dunkle Mal erhalten. Stubby war klein und drahtig, sein hellblondes Haar stand in einer Igelfrisur von seinem Kopf ab und er hatte stechende, blaue Augen. Nelson war fast so groß, wie Severus. Er trug sein rotes Haar in einem Bürstenschnitt und seine blassen Augen, die leicht hervorquollen, vermittelten den Eindruck, als wenn er oft etwas geistesabwesend wäre.

Severus war nicht erfreut darüber, dass Voldemort ihm diese beiden Neulinge zugeteilt hatte. Er hatte es gewagt, seine Bedenken dem Dunklen Lord gegenüber zu äußern, was ihm fast den Cruciatus eingebracht hätte. Voldemort hatte seinen Zauberstab schon erhoben, sich es aber aus irgendwelchen Gründen dann doch anders überlegt. Er hatte erklärt, dass es notwendig sei, dass die Neuen Erfahrungen sammelten und dies eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu sei. Weiter hatte der Dunkle Lord erklärt, dass die Beiden ab sofort unter Severus' direktem Befehl stünden und dass er, Voldemort, hoffe, dass der Zaubertränkemeister sich dieser zusätzlichen Ehre würdig erweise.

Als die beiden Neulinge ihre Todesser-Verkleidung angelegt hatten, erklärte Severus ihnen ihren heutigen Auftrag.

"Werde ich auch die Gelegenheit bekommen, jemanden zu foltern", fragte Stubby eifrig, "ich will doch jede Möglichkeit nutzen, um mich der Ehre, die der Dunkle Lord mir damit erwiesen hat, dass er mich in seine Reihen aufgenommen hat, würdig zu erweisen."

Severus zog verächtlich eine Augenbraue hoch. War dieser Kerl so naiv, oder war er einfach bloß dämlich?
"Das kannst du am besten tun, indem du damit aufhörst, solchen Blödsinn zu quatschen", sagte er mit kalter Stimme, "tu gefälligst das, was ich dir sage, mehr ist von dir nicht verlangt. Und wenn du mir gerade zugehört hättest, wüsstest du, dass es heute einzig und allein darum geht, diesen Verräter zu töten." Severus starrte Stubby mit seinen schwarzen Augen durchdringend an und Stubby senkte schließlich den Blick.

Die Drei machten sich auf den Weg zu dem angegebenen Waldstück und suchten Deckung hinter zwei dicht beieinanderstehenden Buchen. Nach etwa einer viertel Stunde sahen sie, wie ein engumschlungenes Paar den Waldweg entlang spazierte. "Das ist er", flüsterte Severus, "bleibt in Deckung." Severus überlegte blitzschnell, was jetzt zu tun war. Voldemort hatte nur von Fortescue gesprochen, davon, dass er von einer Frau begleitet werden würde, war nicht die Rede gewesen. Severus beschloss, die Frau mit einem Gedächtniszauber zu belegen, nachdem er den Verräter getötet hatte. Er löste sich aus dem Schatten der Bäume und trat auf die beiden Spaziergänger zu. Die Frau schrie entsetzt auf, als sie den Todesser erblickte, Fortescue erstarrte vor Schreck.

"Du wusstest, worauf du dich eingelassen hast, als du nicht zu uns zurückgekehrt bist, Fortescue", sagte Severus mit kalter, ausdrucksloser Stimme. Er richtete seinen Zauberstab auf den zitternden Mann.

"Bitte, tun Sie uns nichts", flehte die Frau, "wir wollen doch nächste Woche heiraten." Ihr Blick irrte gehetzt umher.

"Der Dunkle Lord hat kein Verständnis für Verräter", sagte Severus düster.
"Bitte, lass Sie gehen", sagte Fortescue nun mit bebender Stimme, "sie hat mit der Sache nichts zu tun!"

Dann geschah auf einmal alles gleichzeitig: mit dem Mut der Verzweiflung zog Fortescue seinen Zauberstab und richtete ihn auf Severus.

"Avada Kedavra", schrie Severus in diesem Augenblick. Ein grüner Strahl schoss aus seinem Zauberstab und traf Fortescue mitten in die Brust. Sofort brach er zusammen. Die Frau begann zu schreien.

"Avada Kedavra!" Die Schreie der Frau verstummten abrupt. Stubby war hinter den Bäumen hervorgesprungen und hatte den Todesfluch ausgesprochen. Er blickte sich triumphierend um. Severus wandte sich dem Jungen zu, die schwarzen Augen zu schmalen Schlitzen verengt. "Du hättest verdient, dass ich dich für diesen Ungehorsam töte", sagte er gefährlich leise.

"Ich dachte, ich müsste Ihnen zu Hilfe kommen, Sir", verteidigte sich Stubby.

"Crucio", zischte Severus, seinen Zauberstab auf den Jungen richtend. Dieser brach sofort zusammen und wand sich schreiend am Boden. Nach einigen Sekunden hob Severus den Fluch wieder auf.
"Das wird dich lehren, deinen Übereifer im Zaum zu halten. Meine Anweisung war eindeutig und es gab keinen Grund, ihr zuwider zu handeln. Nelson!" Der Angesprochene trat zu den beiden anderen. "Beschwör das Dunkle Mal herauf und dann verschwinden wir."

Nachdem Severus am Rande des Verbotenen Waldes appariert war, machte er sich auf den Weg zurück zum Schloss. Als er dort ankam, stieg er die steile Treppe zum Nordturm hinauf. Er konnte es jetzt nicht ertragen, allein in seinen Räumen zu sein. Severus öffnete die Holztür und trat auf die Plattform hinaus. Wie schon so oft verspürte er den fast übermächtigen Drang, auf die Brüstung zu klettern und in die Tiefe zu springen, diesem qualvollen, sinnlosen Leben ein Ende zu setzen. Doch würden die Dämonen dann wirklich schweigen? Hätte er dann den Frieden, nach dem er sich so verzweifelt sehnte?

"Wenn du es nicht tust, wirst du es nie erfahren", zischte eine gehässige kleine Stimme in seinem Kopf, "aber dazu bist du viel zu feige." Aber er wurde doch noch gebraucht, hatte eine Aufgabe, eine Schuld zu begleichen! Aber stimmte das überhaupt, fragte sich Severus voller Zweifel und Selbstverachtung. Redete er sich dies alles nicht einfach nur ein, um sich nicht einzugestehen, dass er zu feige war, um den letzten Schritt in die Freiheit zu tun? Verzweifelt fragte sich Severus, wie es ihm jemals gelingen sollte, diese Schuld zu begleichen, wo er ihr doch ständig neue Schuld hinzufügte. Heute hatte er wieder getötet. Einen Menschen mit eigener Hand und den Tod eines anderen hatte er nicht verhindert. Und er hatte gefoltert. Dieser Stubby hatte es zwar nicht besser verdient, aber Severus verabscheute sich dennoch dafür, dass er zu denselben Mitteln, wie der Dunkle Lord gegriffen hatte.

Severus hörte und sah noch einmal das Flehen und Schreien der Frau und wie die beiden Menschen, getroffen von den grünen Strahlen des Todesfluchs mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zu Boden stürzten.
"Und jetzt Schluss mit dem Selbstmitleid", rief sich Severus zur Ordnung. "Natürlich wirst du nicht springen!" Er hatte nicht all das auf sich genommen, um jetzt aufzugeben. Doch die kleine Stimme, die ihm einflüsterte, dass alles sinnlos war, wollte nicht schweigen.

Mit äußerster Willenskraft riss Severus seinen Blick von dem gähnenden Abgrund unter sich los und richtete ihn hinauf zum hell erleuchteten Sternenhimmel. Zu einem hellstrahlenden Stern fühlte sich der verzweifelte Mann besonders hingezogen. Die Vorstellung, dass ein Teil des Lichts, das dieser Stern ausstrahlte, durch seine Augen in das Dunkel seiner Seele drang, tröstete ihn auf unerklärliche Weise.

***



Violet schritt rastlos in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Nachdem sie James zu Bett gebracht hatte, hatte sie nochmals Snapes Akte studiert, doch Violet war auch jetzt nicht klüger, als vor der Lektüre. Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie einfach abwarten, wie sich die Dinge weiter entwickelten? "Plan B", meldete sich, wie so oft in den letzten Tagen, ein kleiner Teufel in ihr. Nun ja, sie könnte den Trank ja vorsorglich brauen, damit sie ihn zur Hand hätte, wenn er gebraucht wurde. Entsetzt zuckte die Lehrerin zusammen. War sie jetzt völlig übergeschnappt? Sie dachte allen Ernstes darüber nach, ein schwarzmagisches Ritual anzuwenden, dessen Entdeckung sie für eine lange Zeit nach Askaban bringen könnte, um Snape, für dessen Schuld sie keinerlei Beweise hatte, auszuspionieren. Wahrscheinlich hatte Stanley völlig Recht, wenn er ihr immer wieder sagte, dass sie paranoide Tendenzen hatte. Und doch: es konnte nichts schaden, den Trank vorzubereiten. Das hieß ja noch lange nicht, dass sie das Ritual auch praktizieren würde. Am Ende des Ganges, an welchem ihre Privaträume lagen, befand sich ein kleines Zimmer, das anscheinend nicht benutzt wurde. Violet wollte den Schulleiter am Montag fragen, ob sie es als Labor benutzen durfte, um ihre Forschungen fortzusetzen.

Als sie zu diesem Entschluss gelangt war, beschloss die Exaurorin noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie zog eine Strickjacke über und verließ das Schloss. Dann lenkte Violet ihre Schritte hinunter zum See. Auf halbem Weg blickte sie hinauf zum Sternenhimmel und fasste einen anderen Entschluss. Wie herrlich würde es heute Nacht sein, von einem guten Aussichtspunkt die Sterne zu beobachten! Sie wollte auf den Astronomieturm steigen. Doch vielleicht waren schon andere vor ihr auf die gleiche Idee gekommen und Violet hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Auf dem Nordturm war sicherlich niemand.

Violet ging zurück ins Schloss und stieg die Stufen zum Nordturm hinauf. Als sie auf die Plattform hinaustrat, stellte die Lehrerin enttäuscht fest, dass ihr schon jemand zuvor gekommen war. Eine große dunkle Gestalt, die ihr Kommen gar nicht bemerkt zu haben schien, lehnte reglos an der Brüstung. Die Exaurorin wollte sich schon so geräuschlos, wie möglich, wieder zurückziehen, als sich die Gestalt plötzlich umwandte. Violet blickte direkt in die tiefen schwarzen Augen von Severus Snape. Und das, was sie sah, traf Violet wie ein Schock. Sie hatte auf einmal das Gefühl, einen Blick direkt in seine Seele zu werfen. Zur gleichen Zeit fühlte Violet, dass sie kein Recht hatte, dies zu sehen. Auf dem Grund dieser schwarzen Augen glitzerte es vor Millionen ungeweinter Tränen. Diese Augen spiegelten grenzenlose Einsamkeit, abgrundtiefe Verzweiflung und entsetzliches Grauen wieder. Violet verspürte plötzlich den Impuls, zu Severus zu gehen, ihn in die Arme zu nehmen und ihm zu zeigen, dass er nicht allein war, dass sie mit ihm fühlte. Doch sie blieb wie angewurzelt stehen.

"Verschwinden Sie endlich", sagte Severus und blickte Violet hasserfüllt an, "es ist schon schlimm genug, dass ich Ihre Anwesenheit tagsüber ertragen muss!"

"Ich habe das gleiche Recht, hier oben zu sein, wie Sie", erwiderte Violet mit kalter, schnippischer Stimme, bemüht, sich den inneren Aufruhr, in dem sie sich befand, nicht anmerken zu lassen. Doch dann wandte sie sich um und floh, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter.


 Kapitel 9

 Kapitel 11

 

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